Um 16 Uhr macht sich Magda Aguiar auf, um zu wählen. Die Nachmittagshitze hat schon etwas nachgelassen, als sie in Flipflops durch den tiefen Sand zum einzigen Wahllokal von Atins stapft, einem Fischerdorf im armen brasilianischen Bundesstaat Maranhão.
Der Tourismus wächst hier seit einigen Jahren, und die 26-Jährige arbeitet an der Rezeption eines Hotels. Für die Wahl hat sie eine halbe Stunde frei bekommen.
Insgesamt sieben verschiedene Nummernkombinationen gibt sie in die elektronische Wahlmaschine ein, für verschiedene Abgeordnete, Senatoren, einen Gouverneur und zuletzt für den brasilianischen Präsidenten. Ihre Wahl fällt auf Fernando Haddad von der linken Arbeiterpartei (PT). Aguiars Begründung: „Er gehört zu Lulas Partei. Und Lula hat viel für uns getan. Der andere macht mir Angst. Er sagt eine Menge gewalttätige Dinge.“
Der andere, das ist der Gewinner der ersten Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen vom Sonntag: Jair Bolsonaro, ein rechtsextremer Politiker, Schwulenfeind und Verteidiger der Militärdiktatur.
Er holte 46 Prozent der Stimmen und verpasste damit die absolute Mehrheit nur knapp. Nun tritt er in der Stichwahl gegen Fernando Haddad an, den Kandidaten von Magda Aguiar. Haddad, einst Bildungsminister und Bürgermeister von São Paulo, holte 29 Prozent. Auf den dritten Platz kam der linksliberale Ciro Gomes mit 12 Prozent. Andere Kandidaten lagen abgeschlagen, etwa der Anfangs hoch gehandelte Geraldo Alckmin (5 Prozent) von der liberal-konservativen PSDB oder die evangelikale Umweltschützerin Marina Silva (1 Prozent).
In den letzten Umfragen zur Stichwahl am 28. Oktober liegt Bolsonaro nun vor Haddad. Obwohl Haddad noch in der Wahlnacht an die Vernunft und die Einheit der Demokraten appellierte, ist das Momentum auf Seiten Bolsonaros. Die Chancen sind hoch, dass er das nächste Staatsoberhaupt der größten und wichtigsten Nation Lateinamerikas mit 210 Millionen Einwohnern wird.
Magda Aguiar in Atins fürchtet sich davor. Sie hat besonders Angst vor Bolsonaros Ankündigung, jedem Brasilianer das Recht zu geben, eine Waffe zu tragen und sich gegen Kriminelle zu verteidigen. „Es herrscht doch schon so viel Gewalt in Brasilien, und es laufen so viele Dummköpfe ohne Bildung herum“, sagt sie. Tatsächlich gibt es in keinem Land der Welt mehr Morde als in Brasilien. 2017 waren es sage und schreibe fast 64.000.
Magda Aguiar weiß aus eigener Anschauung, dass das Bildungssystem in Brasilien eine Katastrophe ist. Vor ihrem jetzigen Job war sie Lehrerin in einer Provinzstadt. Aber als in dem Ort der Bürgermeister wechselte, besetzte er alle öffentlichen Posten mit seinen Anhängern, sogar in der Schule. Aguiar gehörte nicht zu ihnen. „So ist das hier“, sagt sie.
Magda Aguiar findet es auch falsch, dass Bolsonaro meint, dass Frauen weniger verdienen sollten als Männer, weil sie – laut seiner Begründung – doch schwanger werden könnten. Auch andere Aussagen über Frauen passen ihr nicht. Bolsonaro hat vier Söhne und eine Tochter. Über letztere witzelte er einmal: „Da habe ich geschwächelt.“
Deswegen gab Aguiar die Zahlenkombination für Fernando Haddad in die Wahlmaschine ein, die 13. Haddads Arbeiterpartei hat unter der Präsidentschaft von Lula da Silva (2003–2011) mit Sozialprogrammen und Infrastrukturprojekten viel für den Bundesstaat Maranhão getan, ihre Heimat. Aguiars Mutter erhielt damals eine staatliche Unterstützung, die sogenannte Bolsa Familia (Familienstipendium). Es waren umgerechnet rund 20 Euro im Monat für jedes Kind, das in der Schule erschien und geimpft wurde. Bolsonaro hat bereits angekündigt, Bolsa Familia einer „Revision“ zu unterziehen.
Viele Familien in Maranhão profitieren bis heute von diesen Zahlungen. Es ist einer der Gründe, warum Fernando Haddad hier oben fast 50 Prozent der Stimmen holte. Der ärmere brasilianische Nordosten, zu dem Maranhão zählt, verhinderte so den Wahlsieg Bolsonaros schon im ersten Wahlgang. In den sozialen Netzwerken beschimpften Bolsonaro-Fans aus dem Süden die Nordostler deswegen als „Dummköpfe“, „Zurückgebliebene“ oder „Amöben“.
Das heißt nicht, dass Bolsonaro nicht auch hier, in Maranhão, viele Wähler hat. Einer davon ist Anderson Moreira. Er ist ein Nachbar von Magda Aguiar, wohnt nur ein paar Häuschen den Sandweg hinunter. Der 37-Jährige ist Fischer und besitzt einen kleinen Lebensmittelladen. Dort wird kein Alkohol verkauft, weil Moreira evangelikaler Christ ist. Seine Kirche hält Alkohol ebenso wie Abtreibung und Kommunismus für satanisch. Am Abend des Wahlsonntags sitzt Moreira mit nacktem Oberkörper auf der Couch vor dem Fernseher, die Wohnungstür steht offen, damit eine frische Brise für Abkühlung in dieser heißen Gegend sorgt.
Während über den Bildschirm die ersten Wahlergebnisse flimmern, sagt Moreira, dass seine Stimme für Bolsonaro Protest war. Es gebe leider sonst niemanden mehr, den man wählen könne. Lulas Arbeiterpartei sei heute korrupt. Tatsächlich war die Arbeiterpartei tief in die massiven Korruptionsskandale der letzten Jahre verwickelt. Es hat unter vielen einstigen Wähler zu großer Enttäuschung geführt. Auch Anderson Moreira wählte Lula als dessen Arbeiterpartei vor 15 Jahren die Macht in Brasilien übernahm. Das Versprechen war: Wir machen eine andere, eine saubere Politik. Dann kamen die Skandale, und heute sitzt Lula im Gefängnis.
Bolsonaro ist es gelungen, die Enttäuschung vieler einfacher Menschen wie Anderson Moreira aufzufangen. Gleichzeitig profitiert er vom regelrechten Hass der weißen Oberschicht auf die Arbeiterpartei. Bolsonaro ist zum obersten Vertreter des sogenannten Anti-PTismus geworden. Moderate Konservative spielten keine Rolle mehr.
Dieser Rechtsruck lässt sich auch in der Sprache wiederfinden. Bolsonaro ruft etwa seinen Anhängern zu: „Wir werden die PT-Leute an die Wand stellen.“ Woanders wäre das strafbar, in Brasilien aber hat man sich daran gewöhnt. Mit Bolsonaro hat eine totale Enthemmung der Sprache und der Gewaltfantasien stattgefunden.
Bei vielen Brasilianern herrscht der Wunsch, aufzuräumen. Sie wollen Schluss machen mit einem nicht zu unrecht als korrupt empfunden Politiksystem. Dieses Gefühl bedient Bolsonaro. So werden die Ungeheuerlichkeiten, die er von sich gibt, Nebensächlichkeiten. Anderson Moreira ignoriert etwa, dass Bolsonaro gesagt hat, dass Schwarze nicht einmal zur Reproduktion taugten. Moreira selbst ist dunkelhäutig, hat schwarze und indigene Vorfahren.
Aber die Sehnsucht nach etwas Neuem ist bei ihm stärker als alle Zweifel, auch wenn er auf Nachfrage einräumt, dass Bolsonaro schon „ein bisschen verrückt“ sei.
Magda Aguir hält „verrückt“ für einen Euphemismus.
Anderson Moreira in Atins stört das als freiberuflichen Fischer weniger, aber seine Nachbarin Magda Aguiar findet es „zum Kotzen“. Sie arbeitet derzeit sieben Tage in der Woche an der Rezeption eines Hotels, täglich neun Stunden für monatlich umgerechnet 350 Euro. „Das ist doch unfair“, sagt sie. „Soll es noch schlimmer werden?“
Es sind Fragen, die sich viele Brasilianer bei dieser Wahl nicht gestellt haben. Sie möchten, dass sich die Dinge in Brasilien radikal ändern. Wie, das ist ihnen fast egal.
Neben der allgemeinen Wut auf die etablierte Politik, waren die sozialen Netzwerke entscheidend für Bolsonaros ersten Platz. Er und drei seiner Söhne, die ebenfalls rechte Politiker sind, bedienen gemeinsam mit Unterstützern insgesamt 1500 Whatsapp-Gruppen. Diese sind ein ständiger Quell von Lügen und Diffamierungen. Es ist bei der Flut an Nachrichten unmöglich, sie alle zu entlarven. Dahinter steckt eine bekannte Strategie. Einer von Bolsonaros Söhnen traf sich vor der Wahl mit Steve Bannon, dem ehemaligen Berater Donald Trumps.
Die Geschichte Brasiliens handelt von einem Land das noch vor zehn Jahren als Aufsteigernation des 21. Jahrhunderts gefeiert wurde, weil es sein riesiges Potential endlich angezapft zu haben schien. Dann glitt es ab 2012 in eine Wirtschaftskrise mit 13 Millionen Arbeitslosen ab, die sich gepaart mit Korruptionsskandalen zu einer Krise der Politik, des Staats und seiner Institutionen sowie zu einer Krise der gesellschaftlichen Moral auswuchs.
Der Absturz hat bei vielen Brasilianern den Wunsch nach Wandel ausgelöst. Der Profiteur heißt Jair Bolsonaro, ein inkompetenter und hasserfüllter Narziss. Mit seiner Wahl zum Präsidenten stünde Brasilien vor einer radikalen Zäsur. Der Fischer Anderson Moreira würde das begrüßen. Seine Nachbarin Magda Aguiar sagt: „Ich würde dann gerne auswandern. Wenn ich es könnte.“