Als die beiden Straßenmusiker in die Metro einsteigen, schnippt Maria Rita Kehl mit den Fingern.
Per Tamburin und Melodica spielen die zwei einen Forró, ein melodischer Tanz aus dem Nordosten Brasiliens. Kehl wippt im Rhythmus, lacht und legt einen Schein ins kreisende Tamburin. „Ich liebe das“, sagt die 63-Jährige, während die Umstehenden klatschen.
Maria Kehl ist ein herausragendes Mitglied der Nationalen Wahrheitskommission, welche die die Verbrechen der brasilianischen Militärdiktatur aufklären soll. Ihre Spontaneität und Fröhlichkeit hat sich die zierliche Frau von der Arbeit nicht verderben lassen. Und vielleicht ist es für sie als Psychoanalytikerin auch so, dass nun ein ganzes Land mit seiner verstrickten Geschichte auf ihrer Couch liegt. Brasilien, diese große, widersprüchliche Nation.
Gerade ist Kehl auf dem Weg zu einem Treffen mit den anderen sechs Mitgliedern der Wahrheitskommission im Nationalarchiv von Rio de Janeiro. Seit November 2011 arbeiten sie an einem Bericht über die Jahre, als General Humberto Castelo Branco mithilfe der CIA putschte, linke Parteien verbot und Musiker wie Gilberto Gil oder Gaetano Veloso ins Exil gingen. Über 100.000 Personen saßen als politische Gefangene in Haft, 50.000 wurden gefoltert. Knapp 200 kamen nie zu ihren Familien zurück und gelten als vermisst.
Maria Rita Kehl will heute über ihre Recherchen im Bundesstaat Mato Grosso do Sul berichten. Sie hat dort Indio-Stämme zu den Ereignissen während der Diktatur befragt. Auch Kehls Arbeit ist es zu verdanken, dass die offizielle Zahl der Todesopfer, die jahrelang mit nur 357 angegeben wurde, nach oben korrigiert werden muss. „Sie geht in die Tausende“, sagt Kehl. „Die Indios wurden beseitigt, um Straßen, Staudämmen und Minen Platz zu machen. Diese Mentalität existiert bis heute.“
Kehl erzählt von ihrer letzten Reise. Wie sie in dem Hotel, in dem sie übernachtete, zunächst freundlich behandelt wurde. Bis sie mit Bemalungen aus dem Indio-Reservat zurückgekehrt sei und die Stimmung kippte. „Weil man in dem Ort vom Soja-Anbau lebt“, erklärt Kehl. Sie zitiert Politiker, welche die Indios als „Nichtsnutze“ bezeichnen, die man aus ihren Reservaten vertreiben müsse, um den Wald zu roden und Felder anzulegen. Ein Abgeordneter hat sogar vorgeschlagen, eine Geburtenkontrolle für Indios einzuführen. Eigentlich sollte man meinen, dass solches Gedankengut im Jahr 2014 verschwunden wäre. „Absolut nicht“, sagt Kehl. „Wir Brasilianer fliehen vor unserer Vergangenheit. Deswegen sind wir dazu verdammt, sie zu wiederholen. Ein Land, das so mit seinen ältesten Bewohnern umgeht, hat ein Problem.“
Es ist der große Widerspruch Brasiliens: Das Land ist berühmt für seine Leichtigkeit, seine warmherzigen und musikalischen Menschen. Und es ist berüchtigt für seine epidemische Gewalt, unfassbare Armut und die koloniale Arroganz der Mächtigen. Für Kehl sind das zwei Seiten derselben Medaille. Der Brasilianer sei ein Mensch, der froh nach vorne schaue, ohne zu merken, wie sehr er in den Fallstricken seiner Geschichte feststecke. Deswegen stolpere er immer wieder, sagt Kehl.
Was aber nicht heiße, dass die Brasilianer Menschen ohne Gedächtnis seien: „Wir erinnern uns an die Sklaverei und an die Militärdiktatur. Nur machen wir nichts daraus. Wir schämen uns und ziehen keine Konsequenzen.“ Weder seien die Sklaven nach 1888 entschädigt worden, noch wurden Offiziere und Generäle nach 1985 zur Rechenschaft gezogen, weil es politisch nicht opportun war. Beide Systeme verbreiten bis heute ihr Gift, sagt Kehl.
Sie versucht die Erkenntnisse, die sie als Psychoanalytikerin gewinnt, für das Land fruchtbar zu machen. Vor einigen Jahren hat sie ein preisgekröntes Buch verfasst, „Die Zeit und der Hund“. Darin beschreibt sie den Zusammenhang zwischen Depressionen und der Beschleunigung der Zeit, die viele Menschen empfänden. Die Zeit sei autoritär geworden und bleibe doch einsam und leer, sagt Kehl.Den seltsamen Buchtitel erklärt sie anhand einer Anekdote. Einmal fuhr sie auf einer Schnellstraße in São Paulo, da lief ein Hund auf die Fahrbahn. Sie konnte nicht mehr bremsen, weil hinter ihr Dutzende Autos angerast kamen. Nach dem Zusammenstoß sah sie den verletzten Hund im Rückspiegel, aber sie hörte ihn nicht mehr. So beschleunigt und distanziert nähmen viele Menschen ihr Leben wahr. Als Brasiliens Präsidentin Rousseff die Psychoanalytikerin 2012 persönlich in die Wahrheitskommission berief, sagte sie: Mir gefällt dein Buch.
Was ist das größte Missverständnis beim Blick auf Brasilien? Dass die WM-Besucher all das finden würden, wonach sie suchten, so Kehl – Partys, kreisende Hintern, Caipirinha, Samba, Ausgelassenheit. All das sind wir, sagt Kehl. „Unsere Fröhlichkeit ist nichts Gestelltes, sondern unser täglicher Karneval.“ Sie zitiert den Historiker Sérgio Buarque de Holanda. Er bezeichnete den Brasilianer als Homem Cordial, den herzlichen Menschen. Die soziale Ordnung werde von Affekten durchwirkt. Freundschaft und Freundlichkeit zählen mehr als Gesetze. Schon die ersten Sambas handelten schließlich von Herumtreibern, Bohemiens, leichten Mädchen und flexiblen Polizisten.
Und trotzdem sei Brasilien, dieses mental unüberschaubare Territorium, auch ein Land tiefer Traurigkeit, sagt Kehl. Das würde man erst mit der Zeit begreifen, wenn man etwas tiefer eintauche. Kehl findet einen Begriff, der nur im Portugiesischen existiert und über dem schon Legionen von Übersetzern graue Haare bekommen haben: saudade.
Sie beschreibt dieses brasilianischste aller Gefühle als fröhliche Trauer. Oder traurige Fröhlichkeit. Klingt widersprüchlich. Ist es auch. Beschrieb saudade ursprünglich das Heimweh der portugiesischen Seefahrer, so kann man sie heute für jemanden empfinden, der abwesend ist; für eine vergangene Zeit; einen Ort; ein verlorenes Gefühl. Es ist eine Mischung aus Liebe, Sehnen, Verlust, räumlicher Distanz und gefühlter Nähe. Es gibt keinen schöneren Satz, es kommt einer Liebeserklärung gleich, wenn jemand sagt: „Sinto saudade de você.“ Ich empfinde saudade für dich.
„Ich empfinde saudade für einen Bauernhof“, sagt Kehl. „Er gehörte meiner Familie, aber ich bin nie dort gewesen.“ Kehls Vorfahren wanderten Mitte des 19. Jahrhunderts aus Kehl am Rhein nach Südbrasilien aus, daher der Name. Einer ihrer Großväter kehrte einige Male nach Deutschland zurück. Er war Arzt, aber er mochte keine Kranken. Als er in den 1930er Jahren für den Bayer-Konzern nach Deutschland reiste, wurde er überzeugter Eugeniker. Später schenkte er Maria Kehl Hitlers „Mein Kampf“.
Maria Kehl ging einen anderen Weg, studierte Psychologie und gab noch während der Militärdiktatur eine linke Zeitschrift heraus. Ihre Doktorarbeit hatte den Titel: „Die Rolle des Globo-Medienkonzerns und seiner Telenovelas bei der Domestizierung Brasiliens unter der Militärdiktatur.“ Sie arbeitete als Psychoanalytikerin, Journalistin und Dichterin. Auf ihrer Homepage finden sich Essays zu den unterschiedlichsten Themen, von Kunst über Märchen und Marxismus bis zu Humor.
Vor wenigen Jahren stand sie im Mittelpunkt einer polemischen Auseinandersetzung, weil die renommierte Zeitung „Estado de São Paulo“ sie als Kolumnistin entließ. Kehl hatte entgegen der Wahlempfehlung des Blattes die Sozialprogramme der linken Regierung von Dilma Rousseff verteidigt. Heute zuckt Maria Kehl nur ihre Schultern, wenn sie auf den Rausschmiss angesprochen wird. „Man muss Frieden mit seiner Vergangenheit machen“, sagt sie, „dann kann man leichter nach vorne schauen.“ Das steht Brasilien noch bevor. Philipp Lichterbeck