Wenige Tage bevor ihm ein Messer in den Bauch gerammt wird, steht der Präsidentschaftskandidat plötzlich vor Carolina Andrade. Sie ist auf dem Weg zur Arbeit in Rio de Janeiros Stadtteil Botafogo, als er aus einem Auto steigt, um Passanten zu begrüßen.
Sofort bildet sich ein Menschenauflauf, alle wollen ein Selfie mit ihm machen. Andrade sieht, wie er seine Hände zu Pistolen formt, die auf ein imaginäres Ziel feuern. Es ist sein Markenzeichen in diesem Wahlkampf. Die Menge skandiert seinen Spitznamen: „Mito, mito!“ Es heißt Mythos.
„Ein Mythos ist er nicht“, sagt Carolina Andrade, die sich während des Tumults am Rande hält. „Aber er ist die vielleicht die letzte Hoffnung, die Brasilien hat.“
Der Mann, um den es geht, heißt Jair Messias Bolsonaro. Er ist 63 Jahre alt, hochaufgeschossen und schlank, hat stechende blaugraue Augen und ein Lachen, das oft unkontrolliert hervorzubrechen scheint. Seit 27 Jahren sitzt Bolsonaro als Parlamentsabgeordneter in Brasília. Dort hat er vor allem mit rechten Provokationen für Aufmerksamkeit gesorgt. Bolsonaro beschimpft regelmäßig Schwarze, Indios, Frauen und Flüchtlinge. Er hält Hitler für einen „großen Strategen“. Einmal sagte er, dass es ihm lieber wäre, einer seiner vier Söhne seit tot, als dass er schwul sei. Politische Gegner möchte er liebsten an die Wand stellen und die Gewerkschaften verbieten. Der brasilianische Philosoph Vladimir Safatle bezeichnet Bolsonaro deswegen als „klassischen Faschisten“.
Dieser Jair Bolsonaro könnte der nächste Präsident Brasiliens werden. Auch dank Carolina Andrades Stimme. Er führt in allen Umfragen zum ersten Wahlgang am 7. Oktober und wird es mit Sicherheit in die Stichwahl schaffen. Sollte er dort die Nase vorne behalten, wäre das nicht nur eine Zäsur für Brasilien, sondern nach der Wahl Donald Trumps ein weiterer geopolitischer Schock.
Das größte, bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Land Lateinamerikas würde von einem rechtsextremen Abenteurer ohne Regierungserfahrung geführt. Bolsonaro hat bereits angekündigt, die „kommunistische“ UN zu verlassen und den riesigen Amazonaswald, die sogenannte „grüne Lunge des Welt“, zur wirtschaftlichen Ausbeutung freizugeben. Über die Demokratie sagt Bolsonaro: „Schweinerei!“ Das Militär soll eine Schlüsselrolle in seiner Regierung übernehmen. Die „New York Times“ titelte: „Brasilien flirtet mit der Rückkehr in dunkle Zeiten.“ Und der britische „Economist“ warnt: „Lateinamerikas neueste Bedrohung“.
Wie aber ist es ausgerechnet diesem Mann gelungen, Carolina Andrade und Millionen anderer Brasilianer zu begeistern? Brasilien galt bislang als tolerante Nation. Als den „herzlichen Menschen“ beschrieb der Historiker Sérgio Buarque 1936 den Archetyp des Brasilianers in seinem Schlüsseltext „Die Wurzeln Brasiliens“. Nun ist aus dem herzlichen der hässliche Brasilianer geworden. Und man muss sich schon fragen, wie es so weit kommen konnte.
Die einfache Antwort lautet: Jair Bolsonaro bündelt die Wut, die Angst und Unzufriedenheit vieler Menschen. Sie sind wütend auf die korrupte politische Klasse. Sie haben Angst vor der ausufernden Kriminalität. Und sie leiden unter der miserablen wirtschaftlichen Lage mit 13 Millionen Arbeitslosen und einer Joblosenquote von 12 Prozent. Viele Brasilianer haben schlichtweg die Nase voll.
Carolina Andrade gehört zu ihnen. Dabei ist die 39-Jährige eine ganz ungewöhnliche Wählerin des Rechtsaußen. Die beiden trennen Welten: Andrade ist schwarz, alleinerziehende Mutter und Geringverdienerin. Aber sie hat ein Motiv, das stärker ist als alle Zweifel: „Bolsonaro wird kurzen Prozess mit den Kriminellen und den Korrupten machen“, sagt sie.
Man trifft Andrade an einem Septemberdienstag in einem der vielen Shoppingcenter in Rios wohlhabender Südzone. Sie spricht mit sanfter Stimme, die nicht recht passen will, zum Zorn in ihren Sätze. Sie trägt Schuhe mit Absätzen, dezentes Makeup und Lippenstift, ihre Haare hat sie geglättet, wie viele schwarze Frauen es tun. Es ist ihre Arbeitsoutfit. Andrade ist Maklerin in einer Immobilienfirma. Aber sie arbeitet auf eigene Rechnung, was bedeute, dass sie nur bei einem Vertragsabschluss Geld bekommt. „Es ist wegen der Wirtschaftskrise immer weniger geworden“, sagt sie. „Ich komme kaum noch über die Runden.“
Dabei hatte sie kurz Hoffnung, dass es besser werden könnte, als Brasiliens aktueller Präsident, der konservative Michel Temer im Jahr 2016 die demokratisch gewählte Präsidentin Dilma Rousseff von der linken Arbeiterpartei (PT) stürzte. Brasilien befand sich damals inmitten einer tiefen Rezession und Temer versprach, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. „Er hat den Mund zu voll genommen“, sagt Andrade. Die Zustimmungsrate des Präsidenten lag zuletzt unter fünf Prozent, er ist praktisch abgetaucht.
Stattdessen ist nun die Arbeiterpartei wieder erstarkt. Ihr Kandidat Fernando Haddad hat die besten Chancen gegen Bolsonaro in die Stichwahl zu kommen. Er war Bürgermeister von Südamerikas größter Stadt, São Paulo, aber er hat das Manko, auch in seiner eigenen Partei nur die zweite Wahl zu sein. Denn ursprünglich wollte die PT Ex-Präsident Lula da Silva ins Rennen schicken, der Brasilien in den wirtschaftlichen Boomjahren zwischen 2003 und 2011 führte. Nur sitzt Lula sitzt seit April eine Gefängnisstrafe wegen Vorteilnahme ab, und ein Wahlgericht hat seine Kandidatur verboten. Für die Linke ist Lula deswegen ein „politischer Häftling“, dessen erneute Präsidentschaft verhindert werden soll.
Haddad präsentiert sich nun als der Statthalter Lulas. Er trägt stets ein rotes T-Shirt mit Lulas Konterfei und sagt kaum einen Satz, in dem er ihn nicht erwähnt. Das wirkt zuweilen lächerlich, weil man glauben sollte, dass der 55-Jährige auf eigenen Beinen steht. Aber die Strategie ist klar: Die einfachen und ungebildeten Menschen im armen Nordosten sollen Haddad mit Lula identifizieren. Dort liegt die Wählerbasis der PT, weil viele Menschen von Lulas Sozialprogrammen profitierten. „Mich überzeugt das nicht“, sagt Carolina Andrade. Für sie ist Lula ein “Verbrecher”.
Für das Gespräch hat sie zwei Stunden Zeit, dann muss sie in einen Pendlerbus besteigen. Erst vor wenigen Wochen ist sie zu ihrer Mutter an die Peripherie Rios gezogen, weil sie die Miete für ihr Zimmer in Copacabana nicht mehr bezahlen kann. Wenn sie Glück hat, ist sie in anderthalb Stunden dort. Wenn sie Pech hat, werden drei daraus. „Es ist eine sehr unsichere Gegend“, sagt Andrade. Ihre Tochter im Teenageralter lässt sie nicht mehr alleine zum Bäcker gehen.
Während sich ihre Lage also verschlechtert hat, hat Andrade in den vergangenen Jahren fassungslos erlebt, wie fast wöchentlich Politiker in riesige Korruptionsskandale verwickelt wurden. Sie drehten sich meist um den Erdölgiganten Petrobras und den Baukonzern Odebrecht. In Brasília steht nun mehr als die Hälfte der insgesamt 594 Kongressmitglieder im Verdacht, korrupt zu sein. Die Mehrzahl der 25 Parteien im Kongress ist betroffen, von links bis rechts. Es geht um Milliarden von Dollars, das ganze Ausmaß ist noch nicht beziffert.
„Dieses Geld fehlt an allen Ecken und Enden“, glaubt Andrade. Etwa in der Schule ihrer Tochter, in der Papier fehlt. Im überfüllten Bus ohne Klimaanlage. Im scheppernden Vorortzug, der alle zehn Minuten stehen bleibt. Wenn sie nachhause kommt, sieht Andrade im Fernsehen Berichte über Schwangere, die im Krankenhausflur gebären, weil es zu wenig Betten gibt. Und dann erlebt sie, wie das älteste Museum des Landes einfach niederbrennt, weil die Hydranten in der Umgebung kein Wasser führten.
Nicht zuletzt fehlt das Geld auch für öffentliche Sicherheit. Und das spüren viele Brasilianer hautnah. Zu Carolina Andrade kam das Verbrechen vor 17 Jahren, als ihr Vater ermordet wurde. Ein Nachbar, mit dem er sich in einer Kneipe gestritten hatte, lockte ihn in seine Wohnung und tötete ihn. Obwohl kein Zweifel an der Täterschaft bestand, wurde der Nachbar wegen schlampiger Ermittlungen nie verurteilt. Bis heute ist er frei.
Das Erlebnis prägte Andrade tief, auch weil sie und ihre Mutter nie eine Entschädigung erhalten haben. „Es gibt keine Gerechtigkeit in Brasilien“, sagt sie. Die Verbrecher könnten machen, was sie wollen. Und wenn einer in den Knast wandere, beklagten die Menschenrechtsgruppen, wie schlecht es ihm dort ginge. „Ach, der Arme!“, stößt Andrade hervor. Sie wiederholt einen gängigen Spruch Bolsonaros: „Menschenrechte nur für rechtschaffene Menschen!“
Man hört das oft dieser Tage in Brasilien. Das Land verzeichnete vergangenes Jahr fast 64.000 Morde. Es ist die höchste Mordzahl der Welt. Einer der Gründe ist die Straflosigkeit: 95 Prozent der Fälle landen nie vor einem Richter. Bei den Opfern handelt es sich meist um schwarze und arme Menschen, deren Leben – man muss das so brutal sagen – in Brasilien kaum etwas zählen. Bei anderen Verbrechen ist die Aufklärungsrate noch geringer. Beispiel Rio de Janeiro: Hier hat das Militär im Februar die Kontrolle über den ineffizienten Sicherheitsapparat übernommen. Die Bilder von Soldaten an der Copacabana gingen um die Welt. Nur genutzt hat es nichts.
Man merkt das besonders bei den geringen Vergehen, deren Opfer hier jeder irgendwann wird. Laut Statistik werden in Rio durchschnittlich zwei Handys pro Stunde gewaltsam geraubt. Aber die Dunkelziffer wird auf ein Vielfaches geschätzt, weil kaum jemand so eine Bagatelle noch anzeigt. Die Polizei unternimmt ohnehin nichts. Auch Carolina Andrade wurde schon mehrfach überfallen und bestohlen. „Das ist normal“, sagt sie.
Jair Bolsonaro hat versprochen, aufzuräumen. Eins seiner Wahlkampfversprechen lautet: Jeder Brasilianer darf eine Waffe tragen, um sich zu verteidigen. Er befürwortet die Folter und will der Polizei eine Lizenz für außergerichtliche Exekutionen erteilen. In einem Interview mit Brasiliens größtem TV Sender, Globo, sagte er: „Wenn ein Polizist 20 Kriminelle tötet, gehört er ausgezeichnet.“
Diese Kampfansage an das Verbrechen überzeugt Andrade.
Aber sie hat auch Kritik an ihrem Kandidaten. Ihr behagen seine Nähe zum Militär und seine verbalen Aggressionen gegen Andersdenkende nicht. Etwa, als er vor wenigen Wochen von einer Bühne brüllte: „Wir werden die Petralhada füsilieren!“ Petralhada ist ein Schimpfwort für Anhänger der Arbeiterpartei. Bolsonaro schnappte sich ein Kamerastativ und ahmte damit ein Sturmgewehr nach, das er abfeuerte. Die Menge jubelte, Bolsonaro lachte.
Kurz darauf kam die Gewalt zurück. Ein geistig verwirrter Mann stach Bolsonaro bei einem Wahlkampfauftritt ein Küchenmesser in den Bauch. Bolsonaro saß gerade auf den Schultern eines Anhängers und genoss das Bad in der Menge. Eine Notoperation rettete dem 63-Jährigen das Leben. Sogleich wurde die Nachricht gestreut, der Täter sei Mitglied der Arbeiterpartei – aber es war nur eine von tausenden Falschmeldungen, mit denen in diesem Wahlkampf Aggressionen geschürt werden.
Nun führt Bolsonaro Wahlkampf vom Krankenbett aus. Per soziale Netzwerke. Das erinnert stark an Donald Trump. Wie dieser verachtet Bolsonaro die traditionellen Medien und nutzt Facebook (sechs Millionen Abonnenten), Instagram (2,4 Mio.) und Twitter (1,4 Mio), um seine „Wahrheiten“ zu verbreiten. Wie Trump verachtet auch Bolsonaro Journalisten. „Ihr werdet so viel auf mich einprügeln, dass ich gar keine Kampagne mehr brauche“, sagte er. Das Attentat hat ihm genutzt, so sagen Analysten, weil er sich nun zugleich als Angegriffener und Angreifer präsentierten kann. In einem der ersten Fotos zeigte Bolsonaro seine Lieblingsgeste: die beiden Pistolen.
Diese Begeisterung für Waffen ist kein Zufall. Bolsonaro ist Oberst der Reserve und verteidigt die Militärdiktatur (1964 -1985) als „glorreiche Epoche“. Die Diktatur habe lediglich einen Fehler begangen: „Sie folterte und tötete nicht.“ Das Statement ist so schlimm wie falsch, denn die Diktatur folterte und tötete. Laut brasilianischer Wahrheitskommission brachte sie 434 politische Gegner, 1200 Kleinbauern und 8350 Indios um. Es stört Bolsonaro nicht. In seinem Abgeordnetenbüro in Brasília hat er die Portraits der Präsidenten der Diktatur aufgehängt. Er nennt sie „meine Gurus“.
Carolina Andrade findet das falsch. „Ich will keine Diktatur“, sagt sie. „Ich bin für die Demokratie.“ Warum sie dennoch für Bolsonaro stimmt? „Weil es keine Alternativen gibt.“ Tatsächlich scheint da niemand zu sein, der einen Kompass hat. Einer, der eine positive Vision von Zukunft formuliert und Mut macht. Es sind für gewöhnlich diese Momente, in denen die Stunde der Zerstörungswütigen schlägt.
Und so kann Bolsonaro ungestraft sagen, dass man Homosexuelle „schlagen“ müsse. Dass Schwarze „nicht mal zur Reproduktion“ taugten. Dass die Ureinwohner Brasiliens „keinen Zentimeter mehr für Reservate“ bekämen. Dass Bolivianer „Abschaum“ seien. Eine linke Abgeordnete bedrohte Bolsonaro sogar vor laufender Kamera: „Du verdienst es nicht, von mir vergewaltigt zu werden.“
Diese Ungeheuerlichkeiten haben auch den Effekt, dass 42 Prozent der Wähler nie für Bolsonaro votieren würden. Es ist der höchste Grad an Ablehnung aller 13 Präsidentschaftskandidaten. Während Bolsonaro die meiste Zustimmung von gut ausgebildeten und wohlhabenden Männern bekommt, fühlt sich die Hälfte der weiblichen Wähler von ihm abgestoßen. Bolsonaro ist in dritter Ehe verheiratet, er hat vier Söhne, von denen drei ebenfalls in der Politik sind. Über seine einzige Tochter sagt er: „Da habe ich mal geschwächelt.“
Auch Carolina Andrade glaubt, dass Bolsonaro oft verbal über die Stränge schlage. Aber seine Zitate würden auch von den Medien aus dem Kontext gerissen, verteidigt sie ihn. Vieles sei „Fake News“.
Andrades wichtigster Beweggrund, für Bolsonaro zu stimmen, ist ein Gefühl, das Millionen Brasilianer teilen. Es ist diffus aber überwältigend. Und es sagt: Es kann so mit Brasilien nicht weitergehen. Ihnen präsentiert sich Bolsonaro als der Mann mit dem Kärcher. „Ich werde ausmisten“, verspricht er. Carolina Andrade will es ihm glauben.
Es bewahrheitet sich, was der Philosoph Vladimir Safatle gesagt hat: „Brasilien ist politisch leer.“ Das Vakuum füllen nun ein rechter Extremist. Die drei Begriffe, die Carolina Andrade spontan zu Brasilien einfallen sind: Korruption, Scham und Enttäuschung.