Rund 25 Minuten spricht die junge Frau, aber der zweite Teil ihrer Erzählung geht in Schluchzen unter. Sie, eine Kolumbianerin ohne Namen, berichtet, wie sie, verlassen von ihrem Mann, auf einer Hazienda Arbeit findet.
Wie die Farc-Guerilla in die Region einrückt und einer der Kämpfer, Bruder des Kommandanten, sie dreimal vergewaltigt. Ihr einmal eine gebrauchte Binde in den Mund stopft. Und wie sie dann, als der Guerillero sich an ihrer Zwölfjährigen Tochter vergeht, einen Stock nimmt und ihn tot schlägt. Sie vergräbt seinen Leichnam – nicht aber ohne ihm vorher Erde in den Mund zu stopfen – und flüchtet.
Mucksmäuschenstill hören mehrere Dutzend lateinamerikanische Künstler und Intellektuelle das Zeugnis, das auf Tonband aufgezeichnet wurde. Sie haben sich im Patio des Mapa Teatro versammelt, einem für seine Umtriebigkeit bekannten Off-Theater im Zentrum Bogotás. Das Mapa, wie es hier kurz genannt wird, ist dieser Tage das Epizentrum eines außerordentlichen Experiments: Die Goethe-Institute in sieben Städten Südamerikas laden dieses Jahr zur Auseinandersetzung über die „Zukunft der Erinnerung“ ein: El Futuro de la Memoria.
„Das Erinnerungsprojekt ist für das Goethe-Institut von großer Wichtigkeit“, sagt Katja Kessing, Leiterin des Instituts in Bogotá. Dabei ist es sicherlich kein Zufall, dass die Idee dazu von einer deutschen Kulturinstitution kommt (Kofinanzierung: Auswärtiges Amt und Siemens-Stiftung), spielen sich in Deutschland doch so viele Diskussionen immer noch vor der Folie der Nazi-Herrschaft ab.
Auch in Südamerika geht es in erster Linie um die Gewaltregimes, die im 20. Jahrhundert in allen Ländern des Subkontinents herrschten und ihre Schatten bis in die Gegenwart werfen. Dass den Auftakt der Reihe also das Goethe-Institut Bogotá macht, besitzt eine gewisse Logik. Ende letzten Jahres haben Kolumbiens Regierung und die Farc-Guerilla ihren 55 Jahre währenden Krieg offiziell beendet. Doch der Frage, wie man sich an einen Konflikt von solcher Länge, Brutalität und Komplexität erinnert, stellt sich das Land gerade erst.
Dass es Erinnerungen gebe, die in Konflikt miteinander stünden – beispielsweise Opfer der Guerilla gegen Opfer des Staates, – sagt der kolumbianische Menschenrechtsanwalt Iván Orozco. Und dass es Menschen gebe, die sowohl Opfer als auch Täter seien, die „Menschen der Grauzone“. Orozco hat dem Zeugnis der Frau mit geschlossenen Augen gelauscht, sich ab und an Notizen gemacht. Nun findet er nach einer langen bedrückenden Stille als erster die Sprache wieder.
Neben ihm am Tisch sitzen ein Schriftsteller und eine Richterin aus Kolumbien, eine argentinische Anthropologin und eine brasilianische Psychoanalytikerin. Niemand von ihnen kannte die Aussage der Frau, nun sollen sie spontan reagieren. Es entspinnt sich eine Diskussion um die Frage, wie man sich dem Gehörten nähern kann. Soll man es überhaupt? Wie mit dem Leid dieser Frau umgehen, fragt Orozco, der man das Menschsein abgesprochen habe? Seine Antwort: rationalisieren, einordnen, benennen. Deswegen gibt die Gruppe der Frau einen Namen: Maria. Orozco sagt auch: „Ich hatte Angst vor diesem Experiment.“
Die Richterin Gloria Guzmán versucht sich dem Fall mit den Mitteln des Strafrechts zu nähern. Sie gibt zu, dass es dazu tendiere, simple Wahrheiten zu kreieren: hier das Opfer, dort der Täter. Doch wie sei das in diesem Fall, in dem die Vergewaltigte zur Täterin wird, als sie ihren Peiniger umbringt? Die ganze komplexe Realität Kolumbiens finde sich in der Geschichte wieder. „Als Richterin habe ich das Gefühl, dass mir die richtigen Werkzeuge fehlen“, sagt Guzmán.
Besonders interessant wird es, als die Psychoanalytikerin Suely Rolnik aus São Paulo das Wort ergreift, eine ausgesprochen lebhafte Frau. Sie hat fast nichts von der Aufnahme in Spanisch verstanden, aber die Emotionen hat sie mitbekommen. Szenen der Gewalt, die Lateinamerika seit 500 Jahren heimsuchten, habe sie gesehen. Sie spricht die drei großen Traumata der Region an: Klasse, Rasse, Geschlecht. Und schimpft ein wenig, dass solche Diskurse wie am Tisch immer nur die Angelegenheit weißer Akademiker seien, die versuchten, stabile Narrative zu schaffen, um ihre eigene Verunsicherung zu verbergen. „Die Kunst“, sagt Rolnik, „ist die einzige Möglichkeit, die Wahrheit der Gefühle auszudrücken“.
Das freut die eingeladenen Künstler in den ersten Reihen. 22 von ihnen aus zehn Ländern Lateinamerikas hat das Goethe-Institut mit Stipendien bedacht, mehr als 500 hatten sich beworben. Sie sind von Performance über Dramaturgie, Tanz und Gesang in allen möglichen Disziplinen zuhause und werden nun in Gruppen beauftragt, binnen 24 Stunden ein Kunstwerk zu schaffen, das sich mit dem Zeugnis der Frau auseinandersetzt. Um den Arbeiten einen Rahmen zu geben, bekommen sie Holzkonstruktionen, die an kleine Häuser erinnern und die mit Drehmechanismen ausgestattet sind.
Die Maschinen wurden erdacht von den Kuratoren des Projekts, Heidi und Rolf Abderhalden. Das Geschwisterpaar gründete vor mehr als 30 Jahren das Mapa-Teatro und führte es zu internationaler Bedeutung (dieses Wochenende präsentiert das Mapa Kollektiv in der Berliner Schaubühne das Stück „Los Incontados“ im Rahmen des FIND-Festivals).
Die Abderhaldens, deren Vorfahren aus der Schweiz stammen, zeichnen auch verantwortlich für die Kuration des bislang größten Projekts des Goethe-Instituts in Südamerika: das Kunstfestival Experimenta/Sur, das zum sechsten Mal in Bogotá stattfindet und Ableger in Buenos Aires und Santiago de Chile hat. Es steht unter dem Motto „Mnemofilia & Lotofagia – Erinnerungskonsum und der Impuls zu Vergessen“. Klar also, dass sich anbot, „Die Zukunft der Erinnerung“ thematisch darin einzubetten.
Deutschsprachige Künstler sind bei der Experimenta/Sur dieses Jahr keine dabei, die Theaterleute Milo Rau und Hannah Hurtzig mussten absagen. Dafür dominieren die Franzosen. Am beeindruckendsten sicherlich: Der Marseiller Künstler Olivier Grossetête, der rund um die Welt Gebäude mit Pappkartons und Klebeband von Freiwilligen nachbauen und wieder abreißen lässt. In Bogotá schafft er einen zwanzig Meter hohen Turm am Platz der Nationalen Stimmabgabe. Beim zehnstündigen Aufbau helfen neben den Goethe-Stipendiaten auch Dutzende Soldaten einer nahen Kaserne. Und vielleicht könnte es kein besseres Bild für die Hoffnung auf Frieden in Kolumbien geben: Die Armee, die im Bürgerkrieg schwere Verbrechen beging, macht Aktionskunst.