Das Leben Berliner Models

Das Leben Berliner Models

Freitagmorgen, in einer alten Fabrik in Kreuzberg, zweiter Hinterhof, Aufgang 3a, erster Stock. Hinter einer Metalltür, eine weißgetünchte Werkhalle. Aluminiumkisten stehen herum, an einem Tisch mit Kaffee sitzt ein hochaufgeschossenes Mädchen in grauem Fummel und guckt in die Luft.

Hinter ihr sortiert eine Frau Hosen und Hemden auf dem kalten Boden. Daneben lümmelt ein Junge in einem Drehstuhl. Eine knallblonde Frau lackiert ihm die Fingernägel schwarz, er verzieht das Gesicht. Eine Fotostrecke für das Modemagazin „Style“ wird vorbereitet. Sechs Models sind eingeladen, drei Männer, drei Frauen. „Wir wollen neue Faces zeigen“, sagt Antje Drinkuth, die Modechefin der Zeitschrift. „Was ganz Frisches.“

Die Tür scheppert. Ein schlanker junger Mann tritt ein: Kapuzenpulli, Palästinenser-Tuch, große Kopfhörer. Die langen blonden Haare hat er durch den Riemen seiner Baseballkappe gesteckt. Auf den ersten Blick wirkt Max Vogel nicht so, als ob er den Traum verkörpert, den angeblich immer mehr Teenager träumen: Model werden, reich und gefragt sein, rund um den Globus posieren. 18.200 Mädchen haben sich dieses Jahr bei der dritten Staffel der Casting-Show „Germany’s Next Topmodel“ beworben, 7.000 mehr als noch zur ersten Staffel. Wegen des Erfolgs will der Privatsender Pro7 nun auch ein männliches Topmodel küren. Doch die von Heidi Klum geleitete Posierparade ist höchst umstritten. Die Mädchen würden physisch und seelisch zugerichtet, sagen Kritiker, sei ein Erziehungslager, in dem junge Frauen auf optimale Selbstvermarktung getrimmt werden. Besteht das Model-Leben aber wirklich nur aus Unterwerfung und dem Vortragen von Plattitüden?

Bis auf die Unterhose zieht sich Max Vogel aus und wird von der „Style“-Redakteurin in eine schwarze Hose mit übertrieben weitem Schritt gesteckt wird. Er schlüpft in ein enges T-Shirt und spitze Stiefel, und man ahnt nun, warum der 19-Jährige von Designern aus Paris angefragt wird. Lässig fällt er gegen die Wand und steckt sich eine Zigarette an. Melancholische blaugraue Augen und geschwungene leicht trotzige Lippen verleihen seinem kantig-männlichen Gesicht etwas Sanftes.

Mit 14 Jahren wurde Vogel „entdeckt“. Bilder seiner Jugendweihe machten im Kreis der Mütter die Runde. Sie gelangten in die Hände der Chefin von Izaio Models, eine der großen Berliner Model-Vermittlungen. Die Agentur fragte Max, ob er nicht modeln wolle. „Klar“, sagte er, „leicht verdientes Geld“. Doch zunächst wurde er nur für Fotostrecken in Modemagazinen abgelichtet, für die es keinen Cent gab. Sie sollten Max ins Gespräch bringen und variierende Motive für seine Setcard liefern. Diese DIN-A5-große Pappkarte ist der Ausweis jedes Models: Körpergröße, Konfektion, Oberweite, Taille, Hüfte, Schuhgröße, Haar- und Augenfarbe. Die Kosten für die Setcard übernahm Izaio – wie jede seriöse Agentur. Sie investierte in Max und verrechnete die Ausgaben als die ersten Aufträge kamen.

„Ein Jahr dauerte das“, sagt Max. Dann: Werbung für H&M, Lee, Gucci, Modenschauen. Max hat Jacken für 3.500 Euro präsentiert – „die sahen total scheiße aus“ – und an seinen Haaren haben sich Dutzende Stylisten ausgetobt. Einmal verpassten sie ihm während eines Foto-Shootings eine 60 Zentimeter lange Irokesenfrisur, die so schwer war, dass er seinen Kopf immer wieder anlehnen musste.

Max setzt sich an den kleinen Esstisch in der Hallenmitte. Das Mädchen im grauen Kleid liest ein Buch über Glenn Gould, der Junge mit den schwarzen Fingernägeln blättert in der „Süddeutschen Zeitung“. „Letztendlich sind wir Kleiderpuppen“, sagt Max. „Diese Hose hier, die geht gar nicht.“

Seit drei Jahren ist er Azubi bei einem Spandauer Gartenlandschaftsbauer. Diesen Sommer sind Prüfungen, deswegen ließ er kürzlich eine Modenschau in New York sausen. Mit seiner Freundin wohnt Max in Französisch Buchholz, „die Ruhe, das Grüne, das mag ich“. Er könnte auch sofort nach Paris oder London gehen, meint man bei seiner Agentur. Doch Max will lieber Botanik studieren. Und nebenbei modeln, 1.500 Euro Tagesgage seien drin.

Wie sein Verhältnis zu den weiblichen Models sei, ob da geflirtet werde? „Kinder!“, antwortet Max, „alles Kinder“. Tatsächlich findet man in der High-Fashion heute kaum noch weibliche Rundungen, weil die Körper von 15-Jährigen zum Maß der Designer geworden sind. Da hat Vogel schon komische Erfahrungen gemacht. Bei einem Shooting war ein Model so mager, dass er sich nicht traute, ihr die Hand zu schütteln. Männer haben da andere Probleme: Ein Kollege brüllte mal einen Taxifahrer an, er solle Gas geben, er sei schließlich Armani-Model. „Der Idiot war ein einziges Mal für die gelaufen.“

Die Visagistin ruft Max zu sich. Mit einem Pinselchen deckt sie die rötlichen Stellen rund um die Nasenflügel ab. Dann wird geknipst. Vogel stützt sich mit den Händen auf ein Heizungsrohr, kreuzt die Beine und blickt offensiv in die Großformatkamera. Er wirkt jetzt androgyn, cool. Ein Dutzend Mal zucken die Blitzlichter. Der Fotograf ruft: „Du siehst aus wie Axl Rose.“ Dann: „Danke!“ Ein Honorar gibt es nicht, nur ein Belegexemplar. Plötzlich kommt ein Büronachbar hereingestürmt. Wie lange das mit dem Geblitze noch dauere? Es gebe Grenzwerte für Lichtemissionen. Als er geht, lacht sich die Crew schlapp.

Zwei Hälse in einem Restaurant recken sich, als Laura B. über die Kreuzung Torstraße Ecke Chausseestraße schwebt. Ein Pärchen schaut der 18-Jährigen nach. Vielleicht wegen ihrer braunen Haare, die bis zum Po reichen. Oder wegen ihres federnden Gangs, der Laura in die Höhe zu heben scheint. Vielleicht aber auch, weil sie sie wiedererkannt haben. Laura B., deren Agentin nicht möchte, dass ihr Nachname genannt wird, schmückte bereits das Cover des italienischen Elle-Magazins. Ein bisschen wie Liv Tyler wirkte sie darauf: mit grüner Bluse und wasserblauen Augen, blass, verträumt, ätherisch. Seitdem kann sich die 18-Jährige vor Anfragen aus aller Welt kaum retten.

Laura trägt schwarze Hosen und einen schwarzen Pulli mit spitzer Kapuze. Auf ihrer Tasche prangen Sticker verschiedener Dark-Rockbands. Zum Gespräch in einem Castingbüro hat sie ihre Agentin Melanie Constein von der Agentur Viva mitgebracht. Sie kümmert sich um Aufträge für die Viva-Mädchen, berät und beschützt die minderjährigen Models. Sie ist auf Lauras Wunsch mitgekommen und wohl auch, um einige Dinge gerade zu rücken. Denn die Branche stehe ja schon lange unter Verdacht: Drogen, Demütigung, Magersucht. Anfang Juli handelte das Ministerium darum eine Selbstverpflichtung mit der Branche aus: Künftig soll es auf deutschen Laufstegen keine Models mehr geben, die nicht wenigstens einen Body-Mass-Index von 18,5 haben, also „Normalgewicht“. Dass es dahin noch ein weiter Weg ist, zeigte die Berliner „Fashion Week“ nur eine Woche später. Die Models waren dürr wie immer, von der Selbstverpflichtung wusste kaum einer der Designer. Eine gute Agentur kümmere sich nicht nur um das körperliche Wohlbefinden ihrer Models, sondern auch um ihr seelisches Gleichgewicht, sagt Melanie Constein. „Glückliche Mädchen sind schöner.“ Weil es ständig um Bestätigung gehe, gebe es zwar Models, deren Seelen Schäden erlitten. Aber das sei eher ein Problem in New York, Paris, London, Mailand.

Laura war 14, als ihr eine Frau auf der Schönhauser Allee hinterher rief: „Stehen bleiben!“ Es war Dagmar Puls, ein ehemaliges DDR-Model, die eine kleine Agentur in Pankow betreibt. Nach langer Beratung mit ihrer Mutter – „es gibt so viele unseriöse Agenturen“ – entschied sich Laura, anzurufen. Sie bekam Lauftraining und kleinere Aufträge, wurde selbstsicherer und wechselte zu Viva Models, einer Agentur mit rund 200 Mädchen und 100 Jungs im Portfolio. 40 Bewerbungen erhält Viva täglich. Doch ihre Models entdeckt Constein immer wieder auf der Straße. Oft sind diejenigen, die nie modeln wollten, die besten Models. Aufrecht mit übereinander geschlagenen Beinen sitzt Laura auf der Couch. Sie wägt jedes Wort, und es geht eine gewisse Kühle von ihr aus, die exakt der Wirkung zeitgenössischer Modefotografie entspricht. „Die Models sind Projektionsflächen“, sagt ihre Agentin. „Sie müssen stolz und selbstsicher rüberkommen.“

Laura B. läuft heute Modenschauen im Pariser Louvre, in London und Mailand. Was sie dort anfangs erlebte, schockte die Gymnasiastin. Zwar roch es nicht nach dem Erbrochenen bulimischer Mädchen, wie ein gängiges Klischee besagt. Doch sofort nach der Ankunft wurde sie mit dem Maßband ausgemessen. Brüste, Taille, Hüfte, ein lautes „pffffff“ gab der Vermesser von sich. Laura bezeichnet ihre Figur als normal. Aber in Mailand, da sei sie eine der dicksten gewesen. Am Anfang hat sie sich das zu Herzen genommen, mittlerweile ist es ihr egal. Laura ernährt sich gesund und bewegt sich viel. „Wem meine Figur nicht passt, der hat Pech gehabt.“

Es passt zu dieser Bodenständigkeit, dass ihr Vorbild die englische Ethnologin Mary Kingsley ist, die im 19. Jahrhundert Afrika erforschte. Weder vom Exhibitionismus noch von der Hysterie der Klum-Show ist bei Laura etwas zu spüren. „Es ist ein oberflächliches und schnelllebiges Geschäft“, meint sie. „Ich bin eine unter vielen.“ Wie man das eigentlich mache, schön zu sein? – „Wenn man sich wohl fühlt und geliebt wird, dann strahlt man von innen heraus.“

Ein enger Treppenaufgang in der kleinen Almstadtstraße in Mitte, zweiter Stock. Dana Dressel öffnet mit Bandana auf dem Kopf die Tür. Auf ihrem T-Shirt steht „Hug a Tree“. Die fröhliche 30-Jährige ist Bookerin von Izaio-Models. Sie führt in ein helles Büro. An den Wänden hängen Dutzende Setcards. Links junge androgyne Gesichter, rechts klassisch proportionierte Schönheiten, einige ergraute Herren und Damen. Links sei die „Fashion-Division“, erklärt Dressel, rechts die „Commercial-Division“, also für Werbung. „Genica geht für beides, sie ist eine klassische Schönheit.“ Dressel deutet auf eine Couch. Dort sitzt ein langhaariges Mädchen, ein Geschichtsbuch auf den Knien.
Genica Schäfgen ist gerade aus der Schule gekommen, einem Gymnasium in Wilmersdorf. Vor einem halben Jahr hat sie sich bei Izaio während eines öffentlichen Castings vorgestellt. „Ich liebe das Posen“, sagt die 15-Jährige. Sie trägt Jeans und ein Tanktop mit Leopardenfellmuster, hat helles Haar und warme braune Augen, die ihr Gesicht von der Kühle anderer Modelgesichter unterscheiden. Bevor sie bei Izaio anfing, schaute sich Genicas Mutter, eine Heilpraktikerin, in der Agentur um. Dass dort nur Frauen arbeiten, gefiel ihr.

Seitdem wird Schäfgen von Izaio auf Castings geschickt. Euphorisch erzählt sie von ihrem letzten großen Auftrag. Puma suchte acht Models für eine Präsentation in Nürnberg und 100 Bewerber standen vor einem Berliner Hotelzimmer Schlange. Drinnen die Auswahlkommission. Genica hatte sich extra hochhackige Schuhe angezogen, damit sie mit ihren 1,79 Metern noch imposanter wirkte. Aber dann hieß es: „Schuhe aus!“ Genica lief einmal von links nach rechts und wieder zurück. Umdrehen, Polaroid, danke, das Übliche. Sie hatte kein gutes Gefühl. Umso riesiger die Freude über die Zusage. „Es geht bei Castings alles sehr schnell“, meint Genica. „Aber nicht wie auf einer Viehauktion.“ In Nürnberg dann: Hotel, feines Essen und mehrere Hundert Euro Gage, die Genicas Mutter auf ein Extrakonto anlegte. Mutter und Tochter Schäfgen wohnen in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Steglitz. Genicas Zimmer könnte man als postpubertär bezeichnen. Hund, Kater, Schulsachen, Bücher, ein Hochbett. Die Tokio-Hotel-Poster hat sie kürzlich abgehängt.

Im Flur demonstriert Genica mit langen Schritten den Catwalk, schwingt die Hüften und lacht. „Früher mochte ich meine breiten Nasenflügel nicht“, sagt sie. „Heute gehören sie zu mir.“ Sie sei kein Klon geworden, sie sei mehr der Toffifee-Typ, sagt sie und kichert. In New York, Paris oder Mailand würde das wohl niemand von sich behaupten.