Als Barack Obama kubanischen Boden betritt, verteilen sie bei den Castros Kochtöpfe auf dem Boden. Es ist wie verhext. Ausgerechnet in diesem historischen Moment! Der erste US-Präsident seit fast 90 Jahren besucht die Insel. Und in Havanna beginnt es zu schütten. Es tropft durch die Decke in das bescheidene Heim von José Castro, der zufällig den gleichen Nachnamen wie die Brüder Fidel und Raúl trägt. Letztere beherrschen Kuba seit mehr als einem halben Jahrhundert. Ihr Namensvetter hat nicht einmal seine Einzimmerwohnung unter Kontrolle.
Man könnte sagen, dass in die große Weltgeschichte die kleine Wirklichkeit Kubas einbricht. Und wichtiger ist hier und jetzt nicht der US-Präsident, sondern das Wasser an der Decke. Es ist wie so oft auf der Insel: die Rhetorik voller Pathos, die Realität eher traurig und grau.
José Castro ist ein schwarzer schlanker Mann von 57 Jahren, ist damit drei Jahre älter als Obama. „Wir teilen die Hautfarbe“, sagt er über den US-Präsidenten. „Aber sonst nichts!“
Zwei Nachbarn von Castro sind zum Fernsehen herübergekommen. Auch sein Sohn Isaac ist da. Sie teilen ein 20 Quadratmeter großes Zimmer in einem der maroden Altbauten im historischen Zentrum Havannas.
Als die Töpfe unter den Lecks platziert sind, setzen sich die Männer wieder vor den alten Fernseher. Es läuft nicht das kubanische Staatsfernsehen, sondern der Sender Telemundo aus Florida. Eigentlich ist es ja verboten, ausländische Sender zu schauen, und wenn man José Castro auf die Schliche käme, könnte es ihm eine Geldstrafe einbringen. Aber das ist das auch nur eins der vielen „Eigentlichs“, die heute auf Kuba gelten. Man lebt in einer Zwischenzeit, in der viel Altes nicht mehr mehr gilt, aber noch nichts Neues an seine Stelle getreten ist.
Warum eigentlich, fragt Castros Sohn, ist Staatspräsident Raúl nicht am Flughafen, um Obama in Empfang zu nehmen? Will die kubanische Führung den USA signalisieren: So wichtig seid ihr auch nicht. Das Embargo habt ihr euch ausgedacht. Und jetzt wollt ihr mit offenen Armen empfangen werden.
Vielleicht ist die Abwesenheit Castros aber auch ein Zeichen nach Innen: Man misst dem Besuch demonstrativ nicht so viel Bedeutung zu, um die Erwartungen der Kubaner nicht zu hoch zu schrauben? In diesen Tagen, in denen die ganze Welt vom Wandel auf Kuba spricht. Nur auf Kuba nicht, wo viele Menschen aufgehört haben, etwas zu erwarten. Weil es trotz Obama immer noch durch die Decke regnet; weil man jeden Abend für Brot ansteht; weil der Fernseher rauscht; und weil die beiden Nachbarn der Castros sich nicht mal einen rauschenden Fernseher leisten können. „Wir warten lieber ab, was passiert“, sagt Josè Castro.
Er arbeitete einmal in einer Tabakfabrik, jetzt unterhält ihn sein 24-jähriger Sohn Isaac, der als Fahrradtaxifahrer Touristen durch Havanna kutschiert. Darunter sind seit einem Jahr viele US-Amerikaner. Denen war es jahrzehntelang verboten, die Insel zu besuchen. Bis die Regierungen der USA und Kubas Ende 2014 bekanntgaben, dass sie wieder Beziehungen aufnähmen. Nach mehr als einem halben Jahrhundert. Der zweitägige Besuch Obamas ist der vorläufige Höhepunkt dieser frischen Beziehungskiste.
Doch bei den Castros ist man der Meinung, dass sich nicht viel in den Monaten neuen Zeitrechnung verändert habe. Und wie ein Höhepunkt wirkt es bisher auch nicht, was man zu sehen bekommt. Obama winkt kurz den Journalisten zu und steigt in seine Limousine, die ihn durch den strömenden Regen Richtung Innenstadt fährt. Er wird dort die Kathedrale von Havanna besuchen. Touristenprogramm. Er wird dann wenige Kilometer Luftlinie von den Castros entfernt sei, in deren Heim die Blechtöpfe gerade überzulaufen drohen.
Doch sie wollen nicht zur Kathedrale laufen, um ihn zu sehen. Und selbst wenn, es würde es nicht gehen, wie sich zeigt. Mehrere Blocks rund um die Kathedrale haben kubanische Sicherheitskräfte die Gassen abgeriegelt. Obamas Bad in der Menge, es fällt aus. Vater Castro sagt, dass er sich freundlichere Bilder erwartet hätte, als Obama mit Regenschirm.
Man hatte den Altbau im historischen Zentrum Havannas aus Neugier betreten. Es war einst ein prächtiges Hotel, ist heute nur noch eins von Tausenden maroden Häuser Havannas. Und erweist sich als lebensgefährlich. Die Stromkabel, 220 Volt, offen verlegt. Der Stein an der Decke brüchig, die Geländer zittrig.
In allen der einstigen Hotelzimmern leben heute Familien, rund 20 pro Flur. „Komm rein, Gringo“, hatten die Castros gesagt, deren Tür offen stand. „Obama gucken!“
Als der US-Präsident schließlich in sein Hotel fährt, schalten die Castros aus. José berichtet, dass die Bewohner des Hauses aufgefordert worden seien, in ein staatliches Hotel umzuziehen. Ihr Gebäude solle im Rahmen der großen Altstadtsanierung renoviert werden. Danach könnten sie wiederkehren. Aber niemand hier denkt daran, zu gehen. Sie befürchten, dass das Gebäude nur wieder ein schickes Hotel werde – auch um den erwarteten Touristenansturm aus den USA zu befriedigen.
Also bleiben die Castros lieber, wo sie sind. Der Staat wird die Bewohner nicht mit Gewalt aus dem Haus holen, so kalkulieren sie. Es wären Szenen, wie man sie aus kapitalistischen Ländern kennt, wo es kein Recht auf Wohnen gibt, stattdessen aber Obdachlose.
Allerdings hat der kubanische Staat an diesem historischen Tag überhaupt keine Bedenken, rund 55 Menschen, die meisten Frauen, brutal festzunehmen. Wenige Stunden vor der Ankunft des US-Präsidenten hatten sich die Damas de Blanco versammelt – die Damen in Weiß. Sie demonstrierten schweigend, so ist es Tradition. Die Damas de Blanco wurden 2003 von den Angehörigen von 75 Dissidenten gegründet, die zu langen Haftstrafen verurteilt worden waren. Mittlerweile sind die 75 Häftlinge frei. Doch die Damas de Blanco existieren weiter, weil es nach wie vor politische Gefangene auf Kuba gebe, sagen sie.
Nach geraumer Zeit erscheinen Polizistinnen und packen die Frauen sehr rabiat. Sie zerren sie in einen Bus. Unter dem Beifall einiger Hundert bestellter Claqueure des kommunistischen Regimes: „Viva la revolución!“ Eine Salsaband kommt hinzu. Der Zirkus ist perfekt.
Wahrscheinlich wäre die stille Demonstration der Damas de Blanco den internationalen Medien ohne die Reaktion des Regimes keine Zeile Wert gewesen. Aber nun wird darüber berichtet.
„Ich habe gar kein Mitleid“, sagt Maria. „Die Damas de Blanco werden von den USA bezahlt.“ Maria möchte nicht, dass ihr Nachname in einer ausländischen Zeitung auftaucht. Die 67-Jährige lebt im Viertel Vedado mit seinen imposanten Häusern und Alleen. Sie vermietet zwei Zimmer an Touristen und verdient so die wertvolle Ausländerwährung CUC. Sie ist ein Vielfaches des Nationalen Pesos’ Wert. Und hat für enorme gesellschaftliche Verwerfungen gesorgt.
So verdient ein Lehrer im Monat umgerechnet 22 CUC. Aber Maria bleiben von der Vermietung eines Zimmer nach einer Nacht schon 12 CUC. Sie gehört zu den Gewinnerinnen der wirtschaftlichen Liberalisierung unter Raúl Castro. Vielleicht redet sie deshalb schlecht über die Damas de Blanco.
Sie wünscht sich von Obama die Aufhebung des Embargos. Es könne ja nicht sein, dass Mischwasserhähne im Geschäft 70 CUC kosteten.
Auch Maria verfolgt den Besuch Obamas im Fernsehen. Und dann ist er da, der Gänsehautmoment. Obama legt einen Kranz für Kubas Nationaldichter José Marti am Platz der Revolution nieder. Und plötzlich steht er vor den Konterfeis der Revolutionäre Ché Guevara und Camilo Ciefuegos, die riesengroß auf zwei Hauswänden hinter ihm prangen. Es ist das Bild des Besuchs. Und es offenbart die ganze Coolness Obamas. Ein US-Präsident und Ché Guevara auf einem Foto. Obama ist eher amüsiert. Ché – das ist eben auch viel Folklore. Obama weiß das. Er ist ein postideologischer Präsident. Und der Eisbruch mit Kuba – das ist sein großes außenpolitisches Vermächtnis.
Anschließend spricht er lange mit Kubas Staatschef Raúl Castro. Die beiden kennen und mögen sich, fassen sich an den Armen, lachen viel. Der kleine, rundliche Raúl, so sagt man, könne durchaus selbstironisch sein. Anders als sein großer Bruder.
Die Pressekonferenz nach dem Gespräch wird dann eine bemerkenswerte Veranstaltung. Erwartbar fordert Raúl erst die endgültige Aufhebung des Wirtschaftsembargos, das den Kubanern seit Jahrzehnten jegliche Entwicklung verwehre (und dem Regime bis heute für alles eine Entschuldigung liefert). Und er definiert die Menschenrechte im kubanischen Sinne. Sie umfassten das Recht auf kostenlose Gesundheit, Bildung und ein Leben ohne Armut.
Und was tut Obama? Er nimmt die indirekte Kritik an und leugnet nicht, dass es in den USA arme Menschen gebe. Man kann sich vorstellen, wie die Republikaner in den USA vor Wut explodieren. Und weiter: Man trete gerne in einen Dialog über gegenseitige Schwächen. Mit Kuba?! Kann man seinen Ohren noch trauen? Über das Schicksal der Insel sagt Obama. „Das entscheiden ganz alleine die Kubaner!“ Obama erklärt mit dem Satz das Ende von einem Jahrhundert US-Interventionspolitik in Lateinamerika.
Einen weiteren Höhepunkt erreicht die Veranstaltung als Castro von einem amerikanischen Journalisten gefragt wird, warum es politische Gefangene auf Kuba gebe. Castro scheint nicht mit der Übersetzung zurechtzukommen. Er nestelt mit den Kopfhörern, man merkt ihm seine 86 Jahre an. Schließlich sagt er: „Welche politischen Gefangenen? Gib mir eine Liste mit Namen und sie sind bis Sonnenuntergang frei.“ Es dauert nicht lange und Menschenrechtsorganisationen verschicken Namenslisten. Doch natürlich kommt niemand frei.
Etwas unter geht dabei die Liste, die Obama dabei hat. Darauf die Namen von Firmen die ab sofort mit Kuba handeln und auf der Insel investieren dürfen: Mehr als ein Dutzend Fluggesellschaften, Kreuzfahrtunternehmen, Hotelkonzerne, Airbnb. Daneben aber auch Western Union, der Geldtransfer soll erleichtert werden. Cisco will kubanische IT-Ingenieure ausbilden. Und Verizon den Mobilfunkverkehr zwischen beiden Ländern verbessern.
Das gefällt Ivan. Er ist Anfang zwanzig und betreibt mit sechs Freunden eine sogenannte Handy-Klinik. Wie Ivan sind heute eine halbe Millionen Kubaner als Selbstständige registriert, die meisten im Tourismus. Aber es gibt auch schon Tätowierstudios oder kleine Möbelproduzenten – beide, so hört man, mit dem Problem, an Tinte beziehungsweise Farben zu kommen.
Auch Ivan kennt das Beschaffungsproblem. Viele junge Kubaner haben Smartphones. Man sieht sie in Pulks an den öffentlichen Hotspots sitzen, wo sie für etwas weniger als zwei Euro in der Stunde im Internet surfen. Aber Handys fallen herunter, werden nass oder einfach alt. Und weil es in Kuba so gut wie keine neuen Handys zu kaufen gibt, muss Ivan eben improvisieren. Aber selbst das klappt nicht immer. Er runzelt die Stirn, als ihm eine junge Frau ein iPhone reicht. „Bildschirm im Arsch“, sagt er. „Keiner zum Austausch da. Wir können abwarten, ob einer reinkommt und rufen dich an.“ Das Problem sei dass man wegen des Embargos keine Ersatzteile bestellen könne. Man sei angewiesen auf Freunde, die Handys mitbrächten.
Das alte und das neue Kuba kommen in Ivans Handyklinik zusammen: die durch Mangel geborene Improvisationskunst. Der Drang, sich mit dem Rest der Welt zu verständigen. Eine Generation, die pragmatisch Freiräume erkundet. Ivan sagt, dass man sehen werde, was Obamas Besuch Konkretes bringe. Das ist es wieder: Kubaner erwarten nichts. Sie warten ab. Wie hatte es José Castro gesagt. „Hoffen kann sehr viel Kraft kosten.“
Am Dienstag ist Barack Obama nach Buenos Aires weitergeflogen. Zuvor hat er dem Baseballspiel zwischen den Tampa Bay Rays und einer kubanischen Auswahl beigewohnt, manche nennen das schon Baseballdiplomatie. Wichtiger für viele Kubaner wird aber der Freitag. Die Rolling Stones rocken in Havanna, eine halbe Millionen Menschen werden erwartet. Und viele werden mitsingen, wenn die Mick Jagger intoniert: „I can’t get no Satisfaction.“ Der Handybastler Ivan. Die Zimmervermieterin Maria. Und José Castro in seinem Zimmer, in dem mit Obama der Regen kam.