„Das war ja keine Niederlage, das war ein historischer Moment“, sagen Jorge und Flavio, zwei Studenten, Anfang zwanzig.
Erschienen im großartigen Fußballmagazin “Mehr als ein Spiel” in der Reihe “54, 74, 90, 14”, hrsgg. von Oliver Wurm)
Als alles vorbei ist, stehen die beiden vor der Vereinshalle von Rio de Janeiros traditionsreicher Samba-Schule Vila Isabel. Dort wurde auf großer Leinwand das Halbfinale gegen Deutschland gezeigt. Wie die meisten hier tragen die beiden die gelben Trikots der Seleção. Ein halbes Jahrhundert diente das Hemd mit den grünen Nähten den Brasilianern als Kompass. Sie erkannten sich in ihrem Team wieder. Identifizierten sich mit ihm. Genossen, zelebrierten seine scheinbar so schwerelosen Erfolgen, waren stolz auf die Tänzer am Ball. Was bleibt davon, nach dieser Entzauberung – hat das Wort jemals besser gepasst? Nachdem die Deutschen (ausgerechnet die!) die Brasilianer ausgetanzt haben?
Und noch eine – eine dringendere Frage macht die Runde: Wird es Randale geben, vielleicht schon heute Nacht? Jetzt, da Brasilien aus einer WM hinauskatapultiert worden sind, mit deren exorbitanten Kosten die Mehrheit der Brasilianer nie einverstanden war. Eine WM, gegen die Millionen auf die Straße gegangen sind. Und die, so die vielfach geteilte Prognose, nur friedlich bleiben würde, solange das brasilianische Team die Hoffnung auf den sechsten Titel am Leben erhält, den Hexa. Alles andere hätte den Aufwand nicht gelohnt. Für wen, für was haben wir diese WM auf uns genommen?
Ich hatte mir vorgenommen, jedes Spiel der Brasilianer an einem anderen Ort in Rio de Janeiro zu schauen. Als die WM angepfiffen wurde, lebte ich seit anderthalb Jahren hier, schlug mich als freier Korrespondent und Reporter durch. Und ich wusste mittlerweile, dass Brasilianer beim Fußball keinen Spaß verstehen. „Futebol é coisa séria”, sagen sie – Fußball ist eine ernste Angelegenheit.
Was unter anderem dazu führt, dass den Leuten ziemlich schnell die Sicherungen durchbrennen. Mit Niederlagen, zumal der Nationalmannschaft, weiß man hier nur schlecht umzugehen. Der Zorn kann sich dann schnell gegen die Gegner richten. Das mussten schon kolumbianische wie chilenische Fans erfahren, deren Teams die Seleção zwar nicht besiegt, aber doch verdammt nah an den Rand einer Niederlage gebracht hatten. Dafür gab es im besten Fall höhnische Gesänge, im schlimmsten Tritte und Keile. Die Nerven der Brasilianer lagen vor dem Spiel gegen Deutschland also blank (was sich irgendwie im hysterisch-überdrehten Gehabe der Spieler vor dem Anpfiff widerspiegelte). Mein Spielort sollte folglich gut gewählt sein: sicher aber nicht langweilig, volksnah aber ohne Prolls.
Das Eröffnungsspiel hatte ich am Strand der Copacabana gesehen, war dann in die brodelnde Rocinha gegangen, Rios größte Favela; später, als Kontrastprogramm, in eine unterkühlte Sports-Bar. Die Zitterspiele gegen Chile und Kolumbien hatte ich auf Straßenfesten mit rauchenden Grills, Dosenbier und ohrenbetäubender Tröten erlebt.
Nun, gegen Deutschland, entschied ich mich für das Vereinsheim einer Samba-Schule: Vila Isabel im Mittelklasseviertel Tijuca, einer legendären Institution. Im Vorjahr hatte Vila Isabel den Karnevalsumzug mit einer rauschenden Präsentation gewonnen. Nun fand ich mich in der fensterlosen Betonhalle der Schule wieder, in der sonst ausgelassen getanzt wird. Plastiktische und Stühle standen kreuz und quer vor der Bühne, das Publikum: rund 1500 Menschen, gesellschaftlicher Querschnitt, schwarz, weiß, Favela-Bewohner, untere Mittelklasse. Arbeiter, Beamte, Angestellte. Ein normales Brasilien, fernab des nervösen Fifa-Fanfests an der Copacabana mit den Touristenmassen, den Mädchen auf Gringo-Suche, den mit Dosenbier beladenen jungen Männern, den Taschendieben, den Zehntausenden feierwütigen Argentiniern.
Dafür aber in Laufweite des Maracana-Stadions, dem Ort des Finales. Das brasilianische Team hat bei dieser WM noch kein einziges Mal in der Arena, mehr Mythos als Stadion, gespielt. Es war der Traum eines Landes. Es sollte in nur 29 Minuten zerschmettert werden.
Noch kurz vor dem Anpfiff war aus den Lautsprechern nervtötende Musik gedröhnt. Sie wurde auch für die deutsche Nationalhymne nicht abgeschaltet, sondern erst als der zackige brasilianische Marsch erklang, wie alle Hymnen Lateinamerikas im 19. Jahrhundert entstanden, als man die Unabhängigkeit erkämpfte. Aufgestanden, Hand aufs Herz, mitgesungen, patriotische Selbstvergewisserung.
Auch ich stehe, aus Respekt und um nicht aufzufallen. Kaum habe ich mich gesetzt, fällt das erste Tor, Müller. Ich freue mich, innerlich. Verkneife mir Jubelgesten. Der guten Stimmung im Saal tut das Tor keinen Abbruch. Der Brasilianer ist ja Optimist. Es wäre nicht das erste mal, dass die Seleçao ein 0-1 bei dieser WM noch drehen würde. Kurz darauf Klose, sieht ganz einfach aus, fast schon brasilianisch. Ich muss grinsen, blicke zu Boden. Mir ist klar: Das war’s, das holen die nicht mehr auf. Derselbe Gedanke scheint sich bei den Brasilianern einzunisten. Seufzer und spitze Schreie sind zu hören. Ich drehe mich vorsichtig um, mustere die Gesichter, da sitzt eine übergewichtige Familie. Sie verziehen die Münder, pressen die Lippen aufeinander, starren auf die Leinwand, schütteln die Köpfe. Dann geht alles ganz schnell. 0-3, 0-4, 0-5.
Fassungslosigkeit, verzerrte Mienen, Schockstarre, wo sonst karnevaleske Ausgelassenheit herrscht. Der verzweifelte, verängstigte Oscar am Anstoßpunkt. Sein Gesicht spiegelt sich hier hundertfach. Ich beginne, mich ein wenig zu fürchten. Ich bin als Ausländer zu identifizieren, vielleicht sieht man mir sogar den Deutschen an. Muss diese Demütigung sein? Das erzeugt doch Aggressionen. Die wollen doch jetzt um sich schlagen, vor Enttäuschung und Wut. Doch es passiert: Nichts. Die Halle ist wie gelähmt, niemand spricht, keiner schimpft, weder auf die eigene Mannschaft noch auf die Deutschen.
Erst der Halbzeitpfiff sorgt wieder für Leben. Ein Moderator springt auf die Bühne, verkündet: Leute, die Dose Bier kostet ab jetzt nur noch einen Real, rund 35 Cent. Manche lachen, strömen zum Ausschank. Ich stelle mich dazu. Lerne in der Schlange zwei Studenten kennen, Jorge und Flavio, angehende Ingenieure. Sie sagen, dass sie sich von ihrer Mannschaft irgendwie betrogen fühlten. „Aber wir wussten auch“, sagt Jorge, „dass das Team in einem schlechteren Zustand ist, als der Trainer und die Medien behaupteten. Es wurde uns viel vorgemacht.“ Sie sind gar nicht sauer auf die Deutschen, sie hadern mit ihrem Team. Und sehen dann gleich die größeren Zusammenhänge.
„Wir, das Volk, haben diese Copa mit Milliarden bezahlt“, bricht es aus Flavio heraus, „aber in den Stadien sitzen nur die Reichen. Und jetzt verweigert man uns das einzige, was außer Schulden geblieben wäre: den Titel.“
Die zweite Halbzeit verfolgen Flavio und Jorge dann nur noch am Rande. Sie twittern. Im Netz macht bereits ein Witz die Runde: „Nicht mal Volkswagen macht fünf Gols in 45 Minuten.“ Gol, das portugiesische Wort für Tor, ist ein beliebtes und in Brasilien produziertes Modell des deutschen Autoherstellers.
Die Studenten hören von einem Gerücht: An der Copacabana soll es einen bewaffneten Überfall auf einen Kiosk gegeben haben soll. Schüsse, Panik, Flucht, mitten auf dem Fanfest. Zu Tausenden ziehen die Besucher bereits vom Strand ab. „Brasilien wird explodieren. So wie letztes Jahr“, meint Flavio. Er trägt ein T-Shirt, auf dem steht: „Ich will die WM, Gesundheit und Bildung.“
Fahrt an die Copacabana, dem Epizentrum dieser WM. In der Metrostation kommen einem Fans entgegen. Sie singen: „Hey Fifa, nimm’s in den Arsch.“ Es sind Favelabewohner, die vom Fanfest zurückkehren in ihre Viertel im armen und hässlichen Norden Rios. Wird es nun wieder Verschwörungstheorien geben? Dass diese WM gekauft war, so wie angeblich 1998, als Frankreich Weltmeister wurde? Das behaupten selbst gebildete Brasilianer bis heute, wollen nicht wahrhaben, dass Frankreich damals einfach besser war.
Als ich aus der Metrostation komme, gießt es in Strömen, ein Tropengewitter rauscht herab. Kitschig könnte man nun sagen, dass der Himmel mit den Brasilianern weine. Aber weinen tut niemand. Dafür war die Niederlage einfach zu deutlich. Unter der Markise einer Bar drängeln sich die Leute in den gelben Trikots, suchen Schutz, trinken Bier und diskutieren über die Bedeutung des Abends, über den Fußball hinaus. Ein ganzes Land wollte an die einigende Wirkung des Fußballs glauben und vier Wochen lang feiern. Am Ende sollte die Krönung zum sechsfachen Weltmeister stehen, zum Hexa. Eine Frau an einem Stehtisch sagt: „Und jetzt haben wir sieben Dinger reingekriegt. Wir sind Sétimo.“ Sieben.
Es ist der typische Sarkasmus der Brasilianer beim Blick auf sich selbst. Während der letzten vier Wochen war er überlagert vom Fußball. Jetzt ist er wieder da. Und noch etwas anderes kommt wieder hervor. Die sozialen Spannungen. Durch die Pfützen auf den Straßen waten knöcheltief dunkelhäutige Jugendliche, die T-Shirts halbstark um den Hals gehängt. Herausfordernde Blicke zu den grau uniformierten Militärpolizisten, die argwöhnisch an den Straßenecken wachen.
Ich laufe in Richtung Strand, da sehe ich, wie vor dem Copacabana-Palace sechs Gestalten ein Transparent entrollen: „Fifa – Go Home!“ Viele Funktionäre des Weltfußballverbands sind in dem Luxushotel abgestiegen. Rund um das Gebäude flackern die Lichter der gepanzerten Autos von Rios gefürchteter Schocktruppe. Aber sie greift nicht ein, die Demonstranten halten Regen und Windböen ohnehin nicht lange stand.
Ich fahre zurück in Richtung Zentrum, will weiter Eindrücke sammeln. Im Bohemeviertel Santa Teresa stehen sie in den Bars beieinander. Der Schock der Niederlage hat ein Bedürfnis ausgelöst: Redebedarf. In Santa Teresa fallen die Diskussionen immer etwas intellektueller, liberaler, linker aus. Eine Frau, Lehrerin, sagt in der holzvertäfelten Bar do Gomes: „Wir müssen euch Deutschen dankbar sein. Die Niederlage ist eine Chance zur Bestandsaufnahme. Etwas Grundlegendes läuft doch falsch hier.“
Sie meint das nicht in sportlicher Hinsicht. „Es war ein Sieg von Bescheidenheit und Arbeit über Hochmut und Korruption.“ Anstatt Zorn hat diese Niederlage Bewunderung für die Deutschen ausgelöst. Kann die Niederlage im Fußball eine kathartische Wirkung entfalten? „Brasilien ist nicht mehr das Land des Fußballs“, ruft einer. Er scheint fast froh darüber zu sein. Ist jetzt der Blick frei auf die Substanz, die eine Gesellschaft ausmacht?
In Santa Teresa interpretiert man die Niederlage politisch. Schließt vom Zustand der Seleçao auf denjenigen des Landes, seiner Hospitäler und Schulen. Die Mannschaft, ihr Trainer: Aufschneider, Blender, die der Bevölkerung etwas vorgemacht haben. Genauso wie es die politische Klasse tut. Im Fernsehsender des mächtigen Globo-Konzerns verweigert man am Abend diesen Analyseschritt, bleibt in der hermetischen Welt des Fußballs verhaftet, spricht von „der größten Schande der Geschichte“, analysiert Abspielfehler. Kaum eine WM war vor dem Start so politisch aufgeladen wie diese. Mit dem Anpfiff wollte man das alles vergessen, feiern, gute Laune haben. Nun haben 29 Minuten als Erinnerung gereicht.
Spät in der Nacht klart es über Rio de Janeiro wieder auf. Der Christus kommt schemenhaft durch die vorüberziehenden Wolkenfetzen hervor. Er ist immer noch grün und gelb. Die Copa ist noch nicht vorbei. Aber für Brasilien mag eine neue Zeitrechnung begonnen haben. Im Fußball. Aber nicht nur dort.