Mit dem Auto Richtung Südosten. Kilometer fressen. Vorbei an Prag, Bratislava, Budapest und durch die trostlose Puszta. Bei Oradea über die rumänische Grenze. Bis zum Kloster Tanacu sind es noch 600 Kilometer, einmal quer durch Rumänien.
Tanacu liegt weltabgelegen in den östlichen Ausläufern der Karpaten, fast in Moldawien. Die Fahrt von Berlin dauert zwei Tage und ein halbes Jahrhundert. Autobahnen werden zu Landstraßen. Landstraßen zu löchrigen Pisten. Rechts und links schrumpfen ausgedehnte Weizenfelder zu tennisplatzgroßen Bohnenäckern. Krumme Bauern schwingen langstielige Hacken gegen das Unkraut. Die Häuser werden schmutziger, die Pferde dürrer und die Autos immer älter. Bis am Ende nur noch der kastenförmige Rumänien-Trabi Daçia hinter den Pferdefuhrwerken herschleicht.
Das letzte Wegstück zum Kloster besteht aus einem Feldweg, der sich durch Wiesen und Maisfelder schlängelt. Schon von fern leuchtet das Blechdach der Holzkirche, auf dem sich die Julisonne spiegelt. Vor der Klosteranlage sitzen drei Bauern mit Gummistiefeln und eine schlanke Frau mit Feldstecher. Sie sagen: „Haut wieder ab!“ Sie schwenken ihre Stöcke, als sie die Kamera sehen. Am Zaun hängt ein Schild: „Hier sprechen wir nur mit Gott.“
Im orthodoxen Kloster „Zur Heiligen Dreifaltigkeit“ hat ein Mord stattgefunden. Eine Nonne ist vom Klostervorsteher und vier Ordensschwestern gekreuzigt worden. Sie wollten ihr den Teufel austreiben. Der Fall ruft Dracula-Klischees wach. Doch dahinter steckt die Geschichte eines Landstrichs, in dem Armut, Aberglauben und Alkoholismus herrschen. Wo die Autorität der orthodoxen Kirche den einzigen Halt zu geben scheint. Es gibt in dieser Geschichte eine Tote, aber nicht nur ein Opfer. Und es gibt eine Menge offener Fragen.
Als wir nicht sofort wieder verschwinden, legen die Klosterbewacher ihre Feindseligkeit ab, werden stattdessen redselig. Ihr Wortführer heißt Dimitru. Ihm fehlen die Vorderzähne und vier Finger der linken Hand. Er sagt: „Was passiert ist, ist gut so. Der Teufel wurde besiegt. Die Seele der Nonne ist jetzt im Himmel, sie war eine Sünderin.“ Den orthodoxen Priester des Klosters halten die vier für einen Märtyrer. Die rumänischen Medien haben ihn „Exorzist von Tanacu“ getauft, und er sitzt in Untersuchungshaft. „Unser Prior wird von Gott geleitet“, sagt hingegen Dimitru. „Er tut immer das Richtige. Auch Jesus wurde eingesperrt.“
Das Kloster von Tanacu ist fünf Jahre alt. Es ist eins von 30 Klöstern, die die orthodoxe Kirche seit dem Ende des Kommunismus in der Region errichten ließ. Doch keins erfreute sich ähnlichen Zuspruchs wie das von Tanacu. Sonntags strömten die Bauern aus den umliegenden Dörfer auf den Klosterhügel. Sie wollten die Predigten des Priors Daniel Corogeanu hören. Der 29-Jährige hatte zwar kein abgeschlossenes Theologiestudium, doch die zuständige Erzdiözese tolerierte ihn, weil sie unter Nachwuchssorgen leidet. Die stundenlangen Messen des Priors begeisterten. Seine allegorische Sprache kam an: Er redete viel von Sünde und Strafe, und die Bauern ließen sich von seinen langen Haaren und dem imposanten roten Bart beeindrucken. „Prior Corogeanu ließ uns die Schufterei vergessen“, sagt Dimitru.
Innerhalb des Klosterzauns führte Corogeanu ein strenges Regiment. Für die 25 Nonnen ist sein Wort Gesetz. Sie müssen im Garten arbeiten, Holz hacken, schwere Eimer vom Brunnen schleppen. Es gibt weder einen Wasseranschluss noch Elektrizität. Einige Frauen sind über 70 Jahre alt, doch die Mehrheit ist nicht älter als 30. Viele stammen aus armen Familien oder sind in Waisenhäusern aufgewachsen.
Als Daniel Corogeanu am Abend in der nahen Kreisstadt Vaslui der Presse vorgeführt wird, ahnt man, warum die Bauern fasziniert und die Nonnen eingeschüchtert waren. Corogeanu blickt den Fotografen mit flackernden hellbraunen Augen in die Linsen. Er segnet sie und spricht mit fester Stimme: „Ich erkenne nur Gott als meinen Richter an.“ Corogeanu ist von kleiner und sportlicher Statur. Er hat als Jugendlicher Kampfsport trainiert. Nach dem Abitur war er beim Militär. Sein Gang ist aufrecht. Wegen der langen Robe sieht es aus, als gleite er über den Marmorboden des Gerichtsgebäudes.
Wahrscheinlich wäre Daniel Corogeanu heute noch Vorsteher des Klosters von Tanacu, wenn dort nicht im April die burschikose Irina Cornici aufgetaucht wäre. Sie wollte eine Freundin besuchen, die sie aus dem Waisenhaus im nahe gelegenen Barlad kannte. Dort hatte die 23-jährige Irina einen Großteil ihrer Kindheit und Jugend verbracht. Doch dann beschloss sie überraschenderweise im Kloster zu bleiben.
Warum Irina sich dazu entschied, ist nach wie vor ein Rätsel. Er passt nicht zu ihrem bisherigem Leben. Irina spielte begeistert Fußball und sah gerne Actionfilme. In den vorangegangenen Jahren war sie mehrmals in Deutschland gewesen, hatte als Aupairmädchen und Haushälterin in einem Dorf in Niederbayern gearbeitet und 4000 Euro auf die Seite gelegt. „Irina war offen, ehrlich und ehrgeizig“, sagt ihre deutsche Gastmutter am Telefon. Auf einem Foto aus der Zeit sieht man ein kräftiges lachendes Mädchen in Sporthose und Fußballtrikot. Sie hat kurze Haare, runde Wangen und große dunkle Augen. Einen Freund hatte Irina nie.
Die Gerüchte schießen ins Kraut. Drängte der charismatische Daniel die junge Frau, im Kloster zu bleiben? Wurde sie unter Drogen gesetzt? Welche Rolle spielte ihr Erspartes? Suchte das Waisenkind Irina im Kloster neuen Halt? Ein eindeutige Antwort gibt es nicht.
Fest steht nur, dass zur selben Zeit auch Irinas Bruder Vasile ins Kloster zieht. Er ist zwei Jahre älter als Irina und wie sie im Waisenhaus aufgewachsen. Trotz des Todes seiner Schwester lebt er heute noch im Kloster. Als er uns vor dem Zaun sieht, ist er sofort bereit, sich zu unterhalten. Vasile wirkt emotional völlig abwesend, sein Blick ist weich, er lächelt verklärt. Wie er es finde, was man mit Irina gemacht habe? Er antwortet: „Es ist besser so. Sie war eine Sünderin. Sie hat sich dem Teufel hingegeben.“ Ob er sie nicht vermisse? „Doch, sehr. Aber es ist wichtiger, dass ihre Seele jetzt im Himmel ist.“ Mehr ist nicht aus Vasile herauszuholen. Er spricht ein paar Brocken Deutsch. Er hat ab seinem 14 Lebensjahr als Erntehelfer in Süddeutschland gearbeitet.
So viel Rummel wie in den letzten Tagen hat Ovidiu Berinde noch nicht erlebt. Der Staatsanwalt von Vaslui ist ein dicklicher Mann mit Igelhaarschnitt und Goldrandbrille. Er sitzt in einem sieben Quadratmeter großen Büro, das auch als Durchgangszimmer dient. Vor ihm auf dem Schreibtisch stehen eine alte Schreibmaschine und ein Telefon. Dazwischen liegt ein Blatt Papier. Berinde hat eine Erklärung vorbereitet. „Darin finden Sie alles, was Sie wissen müssen.“ Dann lässt er sich doch zu einem Gespräch überreden.
Elf Stunden lang hat Berinde den Prior Corogeanu verhört. Während der Vernehmung kam es vor dem Gebäude zu Auseinandersetzungen zwischen Anhängern Corogeanus aus Tanacu und Bewohnern Vasluis, die den Prior aufknüpfen wollten. Es ärgert Berinde, was die Medien aus der Geschichte gemacht haben. Etwa dass Irina sexuell missbraucht worden sei. „Alles Unsinn. Irina war noch Jungfrau.“ Berinde erzählt, dass Corogeanu während der Vernehmung ungerührt war. „Der Prior ist überzeugt, dass er das Richtige getan hat. Der Teufel ist für viele Menschen hier nichts Abstraktes.“
Der Beginn von Irinas Leidensweg ist wohl mit einer Reise ins westrumänische Arad verknüpft, die sie kurz nach ihrer Aufnahme ins Kloster unternahm. Sie wollte dort die ersparten 4000 Euro abholen, die sie bei einer befreundeten Familie deponiert hatte. Doch die Familie hatte alles bis auf 500 Euro in eine Eigentumswohnung investiert. Irina kehrte am Boden zerstört nach Tanacu zurück. Kurz darauf bringen einige Nonnen sie in die Psychiatrie von Vaslui. Dort diagnostiziert der Arzt Gheorghe Silvestrovici eine beginnende Schizophrenie. Er berichtet: „Irina hörte Stimmen, auch die des Teufels. Sie redeten ihr ein, eine Sünderin zu sein.“ Die Nonnen nehmen Irina wieder mit ins Kloster. Silvestrovici sagt ihnen, dass er Irina binnen zehn Tagen wiedersehen möchte. Aber sie kehrt nicht zurück.
Im Kloster entscheidet Prior Corogeanu: „Den Teufel treibt man nicht mit Pillen aus.“ Er befiehlt seinen vier Lieblingsnonnen, ein Kreuz zu zimmern. Anastasia, Siluana, Bahomia und Leonila besorgen Hämmer, Nägel und zwei Holzbretter. Sie finden, dass Schwester Irina den Klosterfrieden störe. Die Novizin hat sich über die harten Regeln im Kloster beschwert und den Prior in der Messe beschimpft. Einmal hat sie ihm fast das Weihwasser aus der Hand geschlagen. Das macht den Nonnen Angst, die vier sind zwischen 21 und 32 Jahre alt. Corogeanu sagt: „Der Teufel ist in Irina gefahren, weil sie ihre Sünden nicht gebeichtet hat.“
Als das Kreuz fertig ist, legen die Nonnen es laut Bericht von Staatsanwalt Berinde in den Klostergarten. Irina wird herbeigeschafft, Corogeanu presst ihren Kopf mit beiden Händen auf das Holz. Die Nonnen wickeln Tücher um Irinas Hand- und Fußgelenke. Mit darüber gelegten Eisenketten zurren sie Irinas Arme und Beine am Kreuz fest. Sie schließen sie mit Vorhängeschlössern.
Eine weitere Kette wird um Irinas Hüfte gelegt. Ihre Brust wird mit einem Stofftuch auf der Holzlatte fixiert. Es ist so fest gezogen, dass Irina kaum mehr atmen kann. Über ihren Mund heften ihre Peinigerinnen ihr breites Klebeband. Dann schleifen sie das Kreuz in die Klosterkirche. Sie legen es auf mehrere Kissen. Irina windet sich und schreit. Durch das Klebeband sind einzelne Worte zu verstehen. Sie habe Obszönitäten von sich gegeben und nach Sex verlangt, sagen die Nonnen später aus.
Drei Tage lang ist Irina auf das Kreuz gefesselt. Sie bekommt weder Wasser noch Nahrung. Auch auf Toilette lässt man sie nicht. Prior Daniel spricht Gebete und besprengt sie mit Weihwasser. Die Nonnen stehen schweigend um das Kreuz herum. Auch Irinas Bruder Vasile ist da und betet für sie. Mit zunehmender Dauer der Marter verkrampft sich Irina. Ihr Körper bäumt sich auf. Für den Prior ist es der Beweis, dass er den Teufel aus Irina treibt.
Am Ende ist die junge Frau jedoch so schwach, dass sie zu sterben droht. Der Prior lässt eine Ambulanz aus Vaslui rufen. Noch vor der Ankunft im Krankenhaus ist Irina Cornici tot. Als Todesursache werden Wassermangel, Atemnot und ein schwerer Schock festgestellt. „Wir haben Irinas Seele gerettet“, sagt Corogeanu. „Der Teufel ist um den Preis ihres Körpers besiegt worden.“
In Tanacu ist heute Markttag. Die Bauern verkaufen Kartoffeln, Rote Beete und Gänse. Ein Eisenwarenhändler bietet neue Sensenblätter an. Pferdewagen stehen durcheinander, es riecht nach Vieh und Dung. Die Männer sitzen bei weißem Landwein. Wenn man sich zu ihnen setzt, kommt man nicht darum herum, mitzutrinken. Der Schweißgeruch harter Arbeit steigt einem in die Nase. Aus dem Radio scheppert eine Mischung aus türkischen Melodien und Roma-Rhythmen. Seit der tödlichen Teufelsaustreibung ist das Dorf gespalten in Anhänger und Gegner von Prior Corogeanu. Die Bauern nehmen kein Blatt vor den Mund. Sie meinen, dass man dem Prior „die Haut vom Leib ziehen“ sollte. Sie sagen auch, dass Exorzismus in der orthodoxen Kirche nichts Ungewöhnliches sei. „Es funktioniert aber ohne Gewalt. Nur mit Beten und Fasten“, sagt einer.
Vor dem kleinen Rathaus von Tanacu flattert die EU-Fahne. Bürgermeister Georghe Focsa hofft, dass Europa ihm irgendwann die Dorfstraße pflastern wird. Aber der 54-Jährige macht sich Sorgen. „Ihr müsst den Eindruck haben, hier gibt’s nur Verrückte. Erst Dracula, dann Ceausescu, jetzt Corogeanu. Aber die Menschen hier haben andere Sorgen, als sich um den Teufel zu scheren.“
Im Garten von Elena Antohi herrscht großer Auflauf. Die Mutter von Irina wird morgen den zweiten der traditionell drei Leichenschmäuse geben. Etwa 20 Frauen und Kinder bereiten das Essen vor. Auf dem Feuer steht ein großer schwarzer Topf, darin kochen zwei Dutzend Hühner. Elena Antohi wohnt in dem Dorf Perieni, anderthalb Autostunden von Tacanu entfernt. In der Nacht hat es geregnet, und aus dem Feldweg, der die Dorfstraße darstellt, ist eine Schlammbahn geworden. Wie in vielen rumänischen Dörfern ist das Einzige, was gebaut wird: eine orthodoxe Kirche.
Elena Antohi geht am Stock. Sie hat ein steifes Bein und ihr rechter Arm ist gelähmt. Sie ist 50 Jahre alt und hat keine Vorderzähne mehr. Jeden Monat zahlt ihr der rumänische Staat eine Rente von 1,4 Millionen Lei. Das sind knapp 40 Euro. Elena Antohi hat Irina ein Jahr nach der Geburt in ein Waisenhaus gegeben, Irinas Bruder war damals drei Jahre alt. Ihr Mann hatte sich erhängt, und sie war zu arm, um zwei Kinder zu ernähren. Außerdem trank sie. Die Ceausescu-Regierung ermutigte damals mittellose Eltern, ihre Kinder dem Staat zu überlassen. In den Waisenhäusern ernährte man sie, sie bekamen Schulbildung und wurden von den Kommunisten indoktriniert.
Elena Antohi, die noch einmal geheiratet hat, zeigt die beiden Räume ihres Lehmhauses. Zwei durchgelegene Betten, ein Sack Kartoffeln, ein Holzofen, ein Fernseher. Von Irinas Tod hat ihre Mutter in den Nachrichten gehört. Über dem Ofen hängt ein Kalender mit Bildern orthodoxer Heiliger. Wasser holt Elena Antohi vom Ziehbrunnen an der Straße.
Dann führt sie uns zum Friedhof. Vor drei Tagen wurde Irina beerdigt. Mehr als 250 Menschen haben das hohe Gras des Friedhofs zertrampelt, die meisten waren Journalisten. Elena Antohi zündet eine Kerze an und steckt sie in den Grabhügel. Sie hat einen hilflosen und fragenden Gesichtsausdruck. Sie murmelt, dass auch Irinas Bruder Vasile bei der Beerdigung gewesen sei: „Aber er ist gegangen, ohne sich zu verabschieden.“ Es wirkt, als ob Elena Antohi nicht begriffe, was um sie herum passiert. Sie murmelt, dass die Erde gezittert habe, als man Irinas Sarg aufgebahrt hatte. Tatsächlich erschütterte an dem Tag der Beerdigung ein Erdbeben das östliche Rumänien: 6,2 auf der Richterskala. Elena Antohi und die Köchinnen sagen, es war der Groll Gottes.