Am Ende sind wir noch neun. Drei haben es nicht geschafft.
Ein Ehepaar hat aufgegeben, weil die Frau erst kürzlich am Magen operiert wurde. Ein junger Mann ist auf der Flucht vor unseren Verfolgern in einen Straßengraben gesprungen und hat sich den Fuß gebrochen. In der Dunkelheit hatte er nicht gesehen, dass es zwei Meter in die Tiefe geht. Jetzt hocken wir Übriggebliebenen unter Sträuchern neben einer Landstraße und warten auf den Pick-up-Truck, der uns in Sicherheit bringen soll. Weg von den Flutlichtern der US-Grenzpatrouillen. Raus aus der Kälte. Fort von den Knüppeln der mexikanischen Banditen.
„Nichts, das war nichts“, sagt Poncho.
„Verglichen mit der Wirklichkeit an der Grenze vielleicht zehn Prozent.“ Wir sitzen, als alles vorbei ist, bei dünnem Kaffee zusammen. „Aber wenn ihr jetzt eine Ahnung von den Strapazen habt, die man durchmacht“, fährt Poncho fort, „dann bin ich froh“. Niemand erwidert etwas. Poncho, der auch jetzt seine schwarze Maske nicht absetzt, ist Experte für den illegalen Grenzübertritt in die USA. Vor 25 Jahren ging er zum ersten Mal über die „pinche linea“, die Scheißlinie, wie er sie nennt. Es folgten Dutzende weitere Überquerungen.
Inzwischen geht der 43-Jährige einmal im Monat rüber. Allerdings nur über eine imaginäre Grenze. Sie liegt mitten in Mexiko, im Bundesstaat Hidalgo, bei dem Dorf El Alberto, 785 Kilometer von den USA entfernt. Und im Schlepptau hat Poncho keine Flüchtlinge, sondern Touristen. Heute Nacht sind es abenteuerlustige Jugendliche aus Mexiko-Stadt und zwei Journalisten, außerdem ist eine Soziologin dabei und eine Flüchtlingsaktivistin aus den USA. Umgerechnet sechs Euro kostet der inszenierte Grenzübertritt pro Kopf, der Marsch dauert vier Stunden. In Wirklichkeit kann er vier Tage dauern, und man kann es durchaus für makaber halten, dass die brutale Realität hier als Immigrant-und-Grenzer-Spiel für Besucher fingiert wird. Doch die Wahrheit ist, dass Poncho vier Stunden mit uns geht, um nie mehr vier Tage laufen zu müssen.
Stellenweise gerät die sogenannte „Caminata Nocturna“, die Nachtwanderung, so außer Kontrolle, dass man völlig vergisst, dass alles nur ein Spiel ist. Wir rennen in der Finsternis über Landstraßen, stolpern durch Tunnel, kraxeln Berge hoch, reißen unsere Hosen an Kakteen auf. Beamte der US Border Patrol feuern Leuchtkugeln über unsere Köpfe, ihre Megaphone tönen: „Mexicans, go home!“ Unterdessen treibt Poncho unentwegt zur Eile an: „Rennen, ducken, hoch mit euch, rennt!“ Man wird von der Gruppe getrennt, balanciert über Abgründe, erschreckt vor Explosionen. Mit den versicherungstechnischen Risiken der Inszenierung hat sich offensichtlich noch niemand in El Alberto beschäftigt. „Aber“, sagt Poncho, „wir wollen, dass die Leute begreifen, wie es uns ergeht“. Ganz nebenbei hat die Zurschaustellung des eigenen Schicksals Ponchos Dorf vor dem Verschwinden gerettet.
El Alberto liegt 180 Kilometer nördlich von Mexiko-Stadt inmitten des wüsten Tals von Mazquital, das von kargen Hügeln und Millionen von Kakteen eingeschlossen ist. Mitten durch das Tal windet sich der Río Tula, an dessen Ufern von Weiden überwachsene Sandbänke liegen. Auf einem errichteten die ersten Konquistadoren 1521 eine Kirche, die zum Mittelpunkt El Albertos wurde. Um 20 Uhr sind wir hier mit Poncho verabredet. Er kommt mit zwei weiteren Schleppern. Alle drei sind dunkel gekleidet und maskiert. Sie tragen Sombreros. Keiner nennt seinen vollen Namen. Warum die Masken? „Weil sich richtige Flüchtlinge auch Schleppern anvertrauen müssen, die ihnen fremd sind“, sagt Poncho.
Rund um die Kirche stehen Steinhäuser, ihre Fenster sind mit Brettern zugenagelt. „Viele unserer 2300 Leute sind in den USA“, beginnt Poncho dann eine schier endlose Ansprache, „doch sie sind nicht freiwillig dort”. Nachdem er die Ausländer in der Gruppe kurzerhand zu Mexikanern ernannt hat, erklärt Poncho die Nachtwanderung zu einem Akt des Widerstands gegen die korrupten mexikanischen Eliten und die verlogene Einwanderungspolitik Washingtons: „Ohne die illegalen Arbeiter würden die USA keinen Tag funktionieren.“ Tatsächlich leben rund 12 Millionen Menschen ohne Papiere in den USA, mehr als sieben Millionen von ihnen stammen aus Mexiko. Erst ihre billige Arbeitskraft macht viele Unternehmen wettbewerbsfähig. Die US-Ökonomie profitiert also von der Stigmatisierung der Wanderarbeiter. Die Grenze verwandelt sie in „illegals“, entrechtet sie und macht sie ausbeutbar.
Nach einer Dreiviertelstunde redet Poncho immer noch, ohne Punkt und Komma. Er spannt seinen Bogen weit, vom Schnauzer Emiliano Zapatas bis zu Aztlán: Das mythische Ursprungsland der Azteken umfasste einst den heutigen Südwesten der USA und wurde Mexiko im Krieg von 1845-48 „gestohlen“, wie Poncho sagt. Dann wird die mexikanische Flagge ausgebreitet. Poncho schmettert die Nationalhymne, und alle müssen mitsingen. Drei mal, aus ganzer Kehle. Als man sich schon fragt, was das Ganze soll, heulen Sirenen los und ein Wagen kommt mit Blaulicht angerast. Poncho schreit: „Los, los, los!“ Alle rennen auseinander.
Anfang der achtziger Jahre begann das langsame Sterben El Albertos. Die Jugendlichen verließen das Dorf in Richtung USA. Der traditionelle Mais- und Bohnenanbau konnte sie nicht mehr ernähren. Bald etablierte sich eine Route zwischen El Alberto und Las Vegas, wo man Arbeiter zum Bau der luxuriösen Themenhotels benötigte. Aber während Las Vegas boomte und glitzerte, gingen 2600 Kilometer weiter südlich die Lichter aus. El Alberto wurde ein typischer Auswandererort. In jeder Familie gab es mindestens einen, der in den USA arbeitete. Dort verdient man heute im Durchschnitt acht Mal mehr als in Mexiko, wo die einst so stolzen Bauern immer mehr verarmen. Es gibt heute keine Gemeinde mehr in Mexiko, die nicht von Abwanderung betroffen ist.
Rund 15 Tage brauchte Poncho für die Reise von El Alberto nach Las Vegas. Er ging zunächst ins nahe Ixmiquilpan, das an der Bundesstraße 85 liegt, einem Teilstück der Panamericana. Von dort fuhr er nach Nuevo Laredo an der Grenze. In der Umgebung der Stadt konnte er mehr oder weniger unbehelligt nach Texas hinüberlaufen. Die 3200 Kilometer lange Grenze war bis in die achtziger Jahre hinein oft nicht mehr als eine imaginäre Linie im Sand.
Das änderte sich Mitte der neunziger Jahre. Als das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA 1994 in Kraft trat, rüstete die Clinton-Regierung die „Linea“ in den Ballungsgebieten auf. Zäune und Mauern wurden errichtet und Tausende Grenzschützer entsandt, die seitdem über Kameras, Bewegungsmelder und Helikopter verfügen. Güter und Geld konnten nun ungehindert zirkulieren, und die mexikanischen Bauern waren gezwungen, mit der mächtigen US-Agrarwirtschaft zu konkurrieren. Für die Armen zog man eine Mauer hoch. Seitdem werden die Grenzkontrollen kontinuierlich verschärft. Die Bush-Regierung plante 2006 einen fast durchgehenden Zaun und beauftragte die Firma Boeing mit dem Aufbau einer „smart border“, die Flüchtlinge per Radar erfassen soll. Die „intelligente Grenze“ wird seit Jahren auf Teilstücken erprobt und hat die US-Steuerzahler bisher 1,1 Milliarden Dollar gekostet. Die Grenze ist so zu einem Absatzmarkt für die US-Rüstungs- und Überwachungsindustrie geworden.
Und zu einem Geschäft für Schlepperbanden. Denn für Poncho und die anderen Migranten bedeutete die Aufrüstung: Taktik und Route ändern. Sie waren nun gezwungen, sich Schleppern, den sogenannten Coyoten, auszuliefern. Diese führten sie in langen Märschen durch die Wüsten von Arizona, New Mexico und Texas. Weil die US-Regierung aber auch dort die Kontrollen verstärkte, verlangten die Menschenschmuggler immer mehr Geld und bauten mächtige Organisationen auf, die als Nebenzweig der Drogenkartelle fungieren. Deren Krieg gegen den Staat und untereinander hat in den vergangenen vier Jahren 18 000 Menschen das Leben gekostet.
Als Flüchtling zahlt man heute bis zu 3000 Dollar an die Schlepper und hat doch keine Garantie, jemals in den USA anzukommen. Denn wer die Wüste betritt, begibt sich in Lebensgefahr. Im Sommer können die Temperaturen auf über 45 Grad steigen, im Winter unter null Grad sinken. Jedes Jahr verdursten, erfrieren und ertrinken 500 der rund 1,5 Millionen illegalen Grenzgänger. Andere werden von Kriminellen ausgeraubt und getötet. Die Banden wissen mittlerweile auch, dass manche Frauen ihr Geld in der Vagina verstecken. Als wir in El Alberto einen der Dorfvorsteher nach seiner Familie fragen, beginnt er zu weinen und bringt kein Wort mehr heraus. El Alberto hat mehrere Grenzopfer zu beklagen – dass es „muchos“ seien, deutet Poncho an.
Trotz der Risiken gab es für die Menschen aus El Alberto keine Alternative zum Job in den USA. Die Geldtransfers wurden zur wichtigsten Einnahmequelle des Dorfes. Zeitweilig lebten 70 Prozent seiner Bewohner im Norden. Heute überweisen die mexikanischen Auswanderer jedes Jahr rund 25 Milliarden Dollar in ihre Heimat. Dieser Geldtransfer ist neben Öl, Drogen und Tourismus die wichtigste Einnahmequelle Mexikos. Er verhinderte jedoch nicht, dass El Alberto langsam ausstarb. Nur Kinder und Greise waren noch da. Viele Arbeiter kehrten zwar an Weihnachten zurück, um an ihren Häusern zu bauen, aber ansonsten gab es kein Gemeindeleben mehr.
Dann geschah Ende der neunziger Jahre etwas, was Poncho wie ein Wunder beschreibt: Heißes, mineralhaltiges Wasser brach aus dem Gemeindeboden, und man entschied gemeinschaftlich, das Ersparte zusammenzulegen und ein Thermalbad zu eröffnen. Dass das klappte, lag auch daran, dass die Einwohner El Albertos zur indigenen Gruppe der Hñahñus gehören, bei denen das Kollektiv einen hohen Stellenwert hat. Gemeinsam baute man eine Straße ins Dorf und legte Strom – Notwendigkeiten, die der korrupte und von Privatinteressen beherrschte mexikanische Staat verweigert. „Wir sind gewohnt, zu improvisieren“, sagt Poncho.
Aus dem kleinen Thermalbad, wo man stundenlang unter heißem Wasser stehen und den Wüstenhimmel betrachten kann, hat sich ein kleiner Freizeitpark im spektakulären Canyon des Río Tula entwickelt. Wer dann genau den Geistesblitz mit der Nachtwanderung hatte, weiß Poncho nicht mehr. Aber man begann etwas zu nutzen, was die Soziologin in der Gruppe „kulturelles Kapital“ nennt: die Erfahrung des illegalen Grenzübertritts. Denn ähnelte nicht die Landschaft rund um El Alberto verblüffend jener an der Grenze? Könnte man sich nicht vorstellen, man sei in Texas oder Arizona? Und sieht nicht der Río Tula, dieses gemächliche braune Gewässer, genau so aus wie der Río Bravo? Die „Caminata Nocturna“ schlug in Mexiko sofort ein. Hauptstädter mit Geld, die problemlos ein Visum für die USA beantragen könnten, spielen seitdem Flüchtlinge und schlagen dem arroganten Nachbarn im Norden ein Schnippchen – zumindest symbolisch. Nebenbei können sie sich einbilden, Solidarität mit den Armen zu üben. El Alberto, das jahrelang nur dank der Überweisungen aus den USA überlebte, finanziert sich seitdem auch aus dem Bedürfnis der Reichen, für eine Nacht ein Flüchtling zu sein. Gruppen von 100 Personen hat Poncho schon über die „Grenze“ geführt.
Wir finden uns in den Ruinen eines Stalls wieder. Scheinwerferkegel wandern über das Gemäuer, entfernt sind Funkgeräte zu hören. Poncho sondiert die Lage. Niemand zu sehen. Alle müssen geduckt weiter. Es ist eine Haltung, an die wir uns gewöhnen. Sie schlägt auf die Psyche durch. Man verinnerlicht, dass man nicht gewollt ist, dass man unsichtbar bleiben muss. Wir gelangen an ein Flussufer, stolpern über Steine und Wurzeln. Auf einmal explodiert vor uns eine Blendgranate. Aus dem Nichts tauchen Vermummte mit Knüppeln auf und zwingen uns auf die Erde. Einige werden durchsucht und angebrüllt, dann verschwinden die Banditen wieder. “Die richtigen Banditen töten und vergewaltigen”, sagt Poncho, “bestenfalls nehmen sie den Illegalen alle Wertsachen ab, manchmal sogar die Schuhe”. Kaum sind die Banditen verschwunden, ist die Border Patrol zur Stelle. Mit einer Mischung aus Fürsorglichkeit und Drohung wird in die Nacht hinein gewarnt, dass man nicht lebend über die Grenze komme. Auf Spanisch mit schwerem englischen Akzent ruft der Grenzer, dass er in seinem Auto Decken und Verpflegung habe. Eigentlich könnte man jetzt zu ihm ins Auto steigen, Radio hören und Bier trinken. Doch niemand rührt sich. Nach fünf Minuten, die wir uns auf den feuchten Boden drücken, rennen wir zu einer Abwasserröhre und hindurch. Auf der anderen Seite geht es einen Ziegenpfad hinauf in die Berge. Rechts und links des Wegs stehen runde, hüpfballgroße Kakteen mit langen, harten Stacheln. „Mancher, der hier ausgerutscht ist, hat sich schon daran festgehalten“, sagt Poncho kichernd.
Als bekannt wurde, was in El Alberto vor sich geht, wurden konservative Medien und die Behörden aufmerksam. Sie behaupteten, es würden Auswanderer für den illegalen Grenzübertritt trainiert. Das Gerücht hält sich bis heute. Aber Poncho winkt ab: Die Nachtwanderung sei harmlos. „Wenn einer nicht mehr kann, helfen wir ihm.“ In der Realität bleibe er einfach liegen. Und Training würde anders aussehen: „Dann müsste jeder von euch acht Liter Wasser und Essen für drei Tage mitschleppen.“
Rund 80 Dorfbewohner sind an der Nachtwanderung beteiligt. Sie spielen Schlepper, Grenzschützer und Banditen. Dass sich jede Nacht so viele Helfer finden, hat mit einer alten indigenen Tradition zu tun, die in El Alberto wiederbelebt wurde: das obligatorische Ehrenamt. Jeder Mann muss alle acht Jahre für 12 Monate einen unentgeltlichen Dienst für die Dorfgemeinschaft leisten. Weigert er sich, verliert er seinen Grundbesitz. Ohne die Regel würde die Nachtwanderung wahrscheinlich nicht funktionieren. Denn an unserer kleinen Gruppe verdient heute Nacht niemand etwas, und für viele der Männer wird aus dem Spiel der heutigen Nacht bald wieder lebensgefährlicher Ernst, wenn sie zum Arbeiten nach Norden müssen.
Wir machen auf einem Bergrücken halt. Unten in der Ebene leuchten schwach die Lichter entfernter Dörfer. Poncho lässt uns im Kreis Aufstellung nehmen und bei den Händen fassen. Er hält wieder eine Rede, zitiert Emiliano Zapatas „lieber aufrecht sterben, als auf Knien leben“. Und er fordert mehr Solidarität mit den Immigranten aus Zentralamerika, die in Mexiko genauso schäbig behandelt würden wie die Mexikaner in den USA. „Die Körper der Arbeiter wandern auf der Suche nach einem Auskommen, aber ihre Seelen bleiben in ihren Dörfern.“
Dann treibt er uns weiter. Auf dem Hosenboden rutschen wir einen Geröllhang hinunter, kommen an eine Straße, verstecken uns unter Büschen, ein Wagen der Border Patrol rauscht vorbei. Dann stoppen zwei Pick-ups. Bevor wir auf die Ladefläche steigen, verbinden uns die Schlepper die Augen. Es symbolisiere den Übergang in die USA, sagt Poncho: „Eure Blindheit ist eure Unsicherheit. Ihr seid ausgeliefert. Ihr müsst Hunger und Durst aushalten, Flüsse und Berge überwinden. Wenn wir euch die Binden abnehmen, seid ihr drüben.“