Afrika/Europa: Das leere Meer

Afrika/Europa: Das leere Meer

Stille über dem Ozean. Zwei Stunden lang dröhnte der Außenborder, dann hat Joshua Akaa ihn abgewürgt. Schweigend steht der Fischer am Heck seiner Piroge und lauscht in die Nacht hinein.

Von Philipp Lichterbeck und Kai Müller

Es ist fünf Uhr morgens auf dem Golf von Guinea, über dem 38-Jährigen treiben Wolkenfetzen vor den Halbmond, unter ihm schlägt das Wasser schmatzend gegen die Planken des Holzboots.

Nach einer Weile sagt Joshua: „Ich kann die Fische hören. Ich weiß, wohin sie schwimmen.“ Er setzt den Motor wieder in Gang und steuert weiter hinaus aufs offene Meer. Als die letzten Lichter der Küstendörfer am nördlichen Horizont verschwunden sind, drosselt er die Fahrt. Er wirft eine Handvoll Sand ins Wasser und entscheidet: „Hier!“

Wieder einmal soll sich Joshua Akaa irren.

Der Fischer aus Ghana lebt vom Meer. Doch dieses Meer ist nicht mehr so, wie er es kennengelernt hat, „es hat sich verändert“, sagt Akaa. Und das hat viel mit einem anderen Mann zu tun, Horst Rutemöller soll er hier heißen, und wie Akaa ist er Fischer. An einem kalten Wintertag stellt er in seiner norddeutschen Heimat einen Computer auf den niedrigen Couchtisch, drückt auf den Startknopf und registriert zufrieden die Knackgeräusche der Festplatte. Jetzt wird ausgepackt.

Zwei Männer, die vom Ozean leben, sehr unterschiedliche Männer mit sehr unterschiedlichen Schiffen und Methoden. Sie leben in unterschiedlichen Welten, wissen nichts voneinander und teilen sich doch ein und dasselbe Meer. Wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise.

Der eine, Akaa, hat sich drei Stunden bevor er Sand ins Meer streut mit den Hilfsfischern James und Ahene am Strand des Ortes Kokrobite getroffen. Dort liegt seine Piroge im Sand. Sie heißt Oneday und ist aus dem leichten Holz des Abachi-Baums gefertigt. Joshua schraubte seinen kleinen Yamaha-Motor am Boot fest und schob das acht Meter lange Gefährt gemeinsam mit seinen Männern in die Brandung.

Kokrobite befindet sich 30 Kilometer westlich von Accra, der Hauptstadt Ghanas. Früher war es ein reines Fischerdorf, dann entdeckten Touristen die Palmenbucht, und Ausländer investierten in kleine Hotels und Strandbars. Die bunten Boote der Schiffer scheinen nur noch pittoreske Folklore zu sein. In Wirklichkeit spielt sich vor den Augen der Gäste ein Drama ab, das sie nicht sehen können. Denn es handelt von der Leere. Leere im Meer, Leere im Netz und Leere auf dem Teller.

„Wir fangen nicht mehr viel“, sagt Akaa, es ist ihm unangenehm. Als ob das leere Netz seine Fähigkeiten als Fischer, seine Person infrage stellen würde. Dabei kämpft Joshua einen Kampf, den er gar nicht gewinnen kann: Handwerk gegen Industrie, Holzkanu gegen Fabrikschiff, Intuition gegen satellitengestützte Ortungstechnik. Joshua Akaa gegen Horst Rutemöller.

„Mensch!“, schnauzt der auf einem ferneren Teil des Meeres seinen Kollegen an, „halt hier nicht den ganzen Laden auf!“ Fischköpfe fliegen durch die Luft, zerplatzen auf dem Rücken des Kollegen, einem 42-jährigen Mann. Der sei neu an Bord der Maartje Theadora gewesen, wird Rutemöller später sagen, er habe das Tempo nicht halten können. Aber ein Mann zähle da draußen wenig, er müsse einfach nur zupacken können. Dieser hat auch noch rumgejammert. Das kann Rutemöller nicht leiden.

Da draußen. Für Rutemöller ist das der Ozean. Er ist ausgebildeter Fischwirt und bedient auf deutschen Hochseetrawlern das Fanggeschirr. Doch er steht auch an den Filetiertischen und Fließbändern mit dem Messer in der Hand, weil er als Fischer dem Fisch überallhin folgt. „Geht der Fisch unter Deck, gehen wir mit“, lautet die Devise. Das Netz haben er und die Decksmannschaft wieder ausgebracht, es sammelt ein, während sie am Schneidetisch stehen. Für eine Seezunge braucht Rutemöller 30 Sekunden. In zwei Stunden kommt der nächste Hol, so heißt das, wenn der Trawler sein Netz an Bord zieht, dann muss der vorhergehende Fang verarbeitet sein.

Fische rutschen über Rampen vor Rutemöllers Messer. Eine Minute für einen Kabeljau. Die Klimaanlage summt. Ein steter Luftstrom temperiert die Halle auf 21 Grad. Es riecht nach Diesel, nach Kartonage und Plastik. „Man nimmt das nicht als Schiff wahr“, sagt Rutemöller, „sondern als Fabrik.“ Er und seine Kollegen haben weiße Kittel an und tragen Haarnetze.

Es ist noch nicht lange her, da mühten sich in Rutemöllers schlingernder Welt ein paar Mauretanier mit Fischkisten ab. Schleppten und stapelten sie. Dass die Afrikaner an Bord kamen, war eine Bedingung der mauretanischen Regierung. „Für die Drecksarbeit“, sagt Rutemöller. Zu fünft habe man sie in Kabinen untergebracht, die für vier Personen ausgelegt seien. Entsetzlich, stöhnt Rutemöller, 36 Männer teilten sich zwei Toiletten. „Gerade die Fabriktrawler sind moderne Arbeitslager.“

Wenn er von seinem Alltag auf See berichtet, gibt es von allem in großer Menge: Fisch, vor allem Fisch, aber auch viel Geld und Skrupellosigkeit.

Für ein paar Tage ist Rutemöller ins Rheiderland an der niederländischen Grenze zurückgekehrt, zu seiner Frau und den Kindern. Er hat sich auf seinem Ledersofa niedergelassen, das einen weiten Bogen durchs Wohnzimmer schlägt. Der Hochseefischer will anonym bleiben, zur Verschwiegenheit wäre er nicht verpflichtet, in seinem Heuervertrag fehlt eine entsprechende Klausel. Aber seine Insiderkenntnisse könnten doch unbequeme Folgen haben. Denn auf Trawlern wie der Maartje Theadora geht es um so große Mengen Fisch und Geld, dass Schiffe ihres Typs zum Politikum geworden sind.

Umweltschützer nennen sie „Staubsauger der Meere“. Sie sind zum Symbol der unaufhaltsamen Ausbeutung eines Lebensraums geworden, in den man nicht hineinsehen kann. Die Europäische Union will ihnen nun Grenzen setzen. Seit Anfang dieses Jahres ist eine neue Rahmenverordnung für die EU-Fischerei in Kraft. Die Bundesregierung spricht von einem „radikalen Kurswechsel“, um die „Nachhaltigkeit als wichtigstes Prinzip in der Fischerei“ durchzusetzen. Aber ist das mehr als nur eine Phrase?

Wie kann der Raubbau an den Fischbeständen gestoppt werden, wenn Fischpopulationen jedes Jahr über die erlaubten Quoten hinaus dezimiert, aber unverwertet ins Meer zurück gekippt werden? Und wie geht die EU damit um, dass ihre Fangflotte in die Welt ausschwärmt, um mittlerweile etwa ein Viertel ihres Bedarfs außerhalb europäischer Gewässer zu stillen?

Auch ein Greenpeace-Boot tauchte damals, 2012, vor Mauretanien neben der Maartje Theadora auf. Es gibt Videos von der Aktion. Umweltaktivisten picken sich mit einer Rettungsinsel an der Fangtrosse ein, entrollen ein Banner: „Stop fishing away Africa’s future“. Die Schiffswand bemalen sie mit den Lettern „Plunder!“ – Plünderei. Die Fischbestände vor Westafrikas Küste und die Leben von Millionen Menschen seien ernsthaft durch Schiffe wie das von Horst Rutemöller gefährdet, warnt Greenpeace.

Die Maartje Theadora ist einer der größten Trawler, der je für die Schleppnetzfischerei gebaut wurde. Kennung: ROS 171, gemeldet in Sassnitz, Rügen, seit 2007 betrieben von der deutschen Westbank Hochseefischerei GmbH, einer Tochterfirma der Doggerbank Seefischerei GmbH, die wiederum zu hundert Prozent dem niederländischen Konzern Parlevliet & Van der Plas gehört (P & P). Der unterhält Trawlerflotten in etlichen europäischen Staaten. Mit einer Länge von 141 Metern funktioniert die Maartje Theadora wie eine schwimmende Tiefkühltruhe. 6000 Tonnen Fisch kann sie zu Filets verarbeiten und bei eisigen Temperaturen in ihren Laderäumen stauen. Zwei Drittel des Rohfischgewichts gehen dabei als Abfall gleich wieder über Bord. Das riesige Fanggeschirr kann bis zu hundert Tonnen Fisch auf einmal aus dem Wasser holen. Eine Menge, für die Joshua Akaa sein ganzes Fischerleben bräuchte.

Als Akaas nächtliche Entscheidung zum Fischen gefallen ist, schmeißt er ein Gewicht aus Stahlstreben ins Meer und James und Ahene beginnen, das somit im Grund verankerte Netz auszubringen. Es ist aus Nylon, zwei Meter breit, Plastikschwimmer und Gewichte halten es in der Senkrechten, unter Wasser wird es wie ein Vorhang in der Strömung wehen. Die Männer schweigen, das Auswerfen ist eine monotone Tätigkeit. Nur ab und zu stimmt Joshua einen Gesang an: „Looloo, looloo, looloo.“ In seiner Sprache, dem Ga, das rund um Accra gesprochen wird, heißt „loo“ Fisch.

„Looloo, looloo, looloo.“

Joshua Akaa und seine Crew sind sechs Nächte in der Woche auf dem Wasser, aber sie haben keinen Kompass, kein Funkgerät und keine Handys dabei. Akaa fährt seit 26 Jahren hinaus aufs Meer. Abgesehen von dem 20 PS starken Außenbordmotor fischt er noch so wie sein Urgroßvater. „Sterne, Wind, Wellen, Intuition“, antwortet er auf die Frage nach seinen Navigationsinstrumenten. Dieselbe Antwort gibt er auf die Frage, woher er wüsste, wo die Fische seien.

Auch Horst Rutemöller wurde in eine Seefahrerfamilie hineingeboren. Sein Vater war bei der Marine. Als sein älterer Bruder sich für die Fischerei entschied und von dem Geld berichtete, das er verdiente, ging Rutemöller denselben Weg, machte eine Ausbildung. Der kräftige Mann mit den hängenden Schultern ist ein Profi am Fanggeschirr, stellt die Scherbretter ein, repariert Netze so groß, dass Sattelschlepper darin verschwinden könnten, und nun, in seiner Heimat, wo sich rote Backsteinhäuser in die Wiesen ducken, will er Fotos zeigen von seinen Fangreisen. Auch Fotos gibt es in großer Menge auf seinem Computer.

Doch sein Sohn lässt ihn nicht, klebt an ihm wie an einer rostigen Schiffswand. Rutemöller wischt den Jungen von sich ab und setzt ihn neben sich aufs Sofa. Der blonde Kerl saugt sich mit seinen Armen am riesigen Vaterkörper fest, er hat ihn selten, und teilen will er ihn nicht mit den Geschichten und Bildern des Mannes, der er ist, wenn er weg ist.

Er ist ein Anderer dann. Dort draußen. Schweigsam, meist allein auf seiner Kammer. Auf einem Schiff mit 40 Mann Besatzung lebe man anonym, sagt Rutemöller. Der Fernseher läuft, immerhin hat er die Kammer für sich, das Privileg des Gelernten. Den Alltag muss Rutemöller nicht selbst gestalten. Das tut die Bordroutine für ihn. „Kacken, schlafen, arbeiten“, sagt Rutemöller. Sechs Stunden dauert eine Schicht, genauso lange die Freiwache. „Nur, wenn das Netz im Wasser ist, verdienst du.“ Jede Minute, die sie schneller sind als der Plan, verschafft ihnen ein bisschen persönliche Freiheit. „Es ist keine Zeit, um zu diskutieren.“ Die meisten an Bord hätten das sowieso verlernt, sagt er. Die Männer fallen in der Kantine auf ihre Plätze. Voneinander wissen sie so gut wie nichts. Wenn sie schon mal den Mund aufmachten, würden sie streiten: warum der Besen Besen heißt und der Hochdruckreiniger Bobby.

„Das sind ältere Herren, seit vierzig Jahren beinahe ständig auf See. Die können sich kaum noch artikulieren. Das sind verstummte Seelen.“
Aber es gibt doch etwas, was sie bewegt.
„Wir wissen alle, was wir verdienen. Es hängen Listen an Bord aus, auf denen steht, wie viel Fisch bereits gefangen wurde. Es werden die Produkte aufgeführt und der Stand des Verdienstes. Da reden wir drüber.“
Darüber schon.

Diese Listen sind für den Fahrensmann Rutemöller das Indiz, dass der Fisch verkauft ist, bevor er gefangen wird. Die Aushänge erhöhen den Druck. Auf die Mannschaft, die nach Hause will. Auf den Kapitän, der sein Soll möglichst schnell erfüllen muss, um Treibstoffkosten zu sparen. Auf den Reederei-Konzern, der seinen Kunden eine bestimmte Ware versprochen hat. Und wenn der Laderaum voll ist und die Liste auch, ist dann da ein Glücksgefühl?
„Klar“, ruft Rutemöller, dehnt das Wort begeistert. „Klaaaar.“

Fischen ist Jagen. Das ist eines der unumstößlichen Gesetze, mit denen Rutemöller in seiner Welt für Ordnung sorgt. „Es freut einen doch, wenn man was drin hat und das heißt, dass man nach 90 Tagen auf See 15 000 Euro auf dem Konto hat.“ Im Heuervertrag ist Rutemöllers Teil des Gewinns festgehalten. Kapitän und Mannschaft bekommen 23 Prozent, die abgestuft werden nach Rang. „Wer zahlt einem heute noch 5000 Euro netto im Monat?“, fragt Rutemöller, 1300 davon garantierte Grundheuer, jeden Monat, auch wenn er wie jetzt zu Hause auf seiner Couch sitzt. „Da kann man mal 2000 Euro in Island in der Kneipe lassen. Drei Jim Beam Cola für 75 Euro.“ Für solche Summen gehen sie locker mit ihren Skrupeln um. „Da lachst du drüber.“

Wie zerstörerisch ihr Werk ist, das wollen die Fischer nicht mehr so genau wissen. Rutemöller ist einer der wenigen in diesem Geschäft, der ins Grübeln geraten ist. Die Fischerei stehe an einem Scheideweg, sagt er. Als Berufseinsteiger hatte er die Hoffnung, dass sich mit den neuen Fangschiffen auch der Umgang mit den Ressourcen des Meeres ändern würde. Aber es war nur der Auftakt für das, was Rutemöller „Verbraucherverarsche“ nennt. „Nichts ändert sich. Vielleicht auf dem Papier, aber wer kontrolliert’s?“

An einer Stelle unterhalb des Bugs von Joshuas Akaas Piroge steht in blauer Farbe „John 3:16“. Dahinter verbirgt sich ein Vers aus dem Johannesevangelium: „… damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden.“

Aber Joshua Akaa kann auch auf weltliche Hilfe zählen. Seit Ghanas 2012 verstorbener Präsident John Atta Mills von der NDC entschied, dass der Treibstoff der Fischer subventioniert wird, sind die Fischer treue NDC-Anhänger und hissen die Flagge der Partei am Mast. Trotzdem kostet Joshua eine Tankfüllung umgerechnet noch 20 Euro. Wenn es schlecht läuft, dann ist das eine Tageseinnahme.

Als das Netz an diesem Morgen ausgebracht ist, zieht Hilfsfischer James einen Blechtopf unter einer der Sitzbänke hervor. Darin ist Püree aus Sardinen und Yams, das die Männer sich wortlos mit schwieligen Händen in den Mund schaufeln. Joshua Akaa hat eine Baseballkappe ins rundliche Gesicht gezogen, in deren Schatten zwei unruhige Augen hin- und herwandern. Auf seinen Wangen prangen längliche Stammesnarben. James, 32, hat hingegen ein knochiges, ausgezehrtes Gesicht mit breiter Nase, über die sich tiefe Furchen eingegraben haben. Ahene ist 19 Jahre alt, groß gewachsen, mit langen Armen, sehnigen Beinen und einem breiten Lächeln. Beide Hilfsfischer tragen weite, fleckige Baumwollhosen und Hemden und bekommen am Ende jeder Fahrt 25 Prozent des Fangs. Joshua stellt Motor, Benzin und Netz. So ist die Abmachung.

„Loo, loo, loo. Loo, loo, loo.“

Als es grau-rosa über dem Ozean dämmert, tauchen im Umkreis von mehreren Kilometern Dutzende andere Fischerboote aus der Dunkelheit auf. Da gibt es bananenförmig geschwungene Pirogen mit Außenbordern wie die von Joshua. Einige Segler, kleine offene Dinghys. Aber auch große, imposante Holzschiffe, auf denen ein Dutzend Seeleute die Netze im Akkord über die Reling ziehen. In der Nähe der Drogba kommt es zum Streit. Die Besatzung des größeren Schiffs hat die Fahne der Elfenbeinküste gehisst, zehn Männer wuchten ein fast leeres Netz an Bord. Nun beschuldigt man sich gegenseitig brüllend übers Wasser hinweg, nicht gegrüßt zu haben. Fäuste werden geschüttelt. „Es gibt zu viele Fischer“, erklärt Joshua Akaa die Anspannung, „keiner wird mehr satt“.

Ghanas Küsten zählten einst zu den fischreichsten Gewässern der Welt: Barrakudas, Heringe, Makrelen, Haie, Thunfische, Tintenfische und Barsche schwammen hier, außerdem gab es Hummer, Langusten, Krabben, Muscheln und Schildkröten. Ghana war neben dem Senegal die bedeutendste Fischfangnation Westafrikas mit einer mehr als 500 Jahre alten Tradition. Bis heute ist Fisch eine der wichtigsten tierischen Proteinquellen der Bevölkerung, drei Viertel des heimischen Fangs werden lokal konsumiert. 300 Anlegestellen hat das Fishery Committee for the Gulf of Guinea an der 550 Kilometer langen ghanaischen Küste gezählt. Darunter sind die beiden Tiefseehäfen in Tema und Takoradi aber auch Dörfer wie Kokrobite. Etwa zwei Millionen Ghanaer leben von der Fischerei – zehn Prozent der Bevölkerung. 125 000 von ihnen sind Meeresfischer wie Joshua Akaa. Die anderen arbeiten als Verkäufer, Zwischenhändler oder Bootsbauer. Doch sie alle bangen um ihre Existenz. Sind Ghanas Fischgründe erschöpft?

Als Joshuas Männer ihr Netz einholen, sind zerfetzte Quallen das Erste, was darin hängt. Es folgen Plastiktüten, Plastikflaschen, Kunststoffsandalen. Dann, nach einer Weile zappeln die ersten Fische an Deck: drei Rote Schnapper.

Die Katastrophe begann, als Joshua Akaa noch ein Kind war. 1977 beschlossen die Vereinten Nationen, die Hoheitsgewässer von Meeresanrainern auf 200 Seemeilen auszuweiten. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass die Zone zwischen der zwölften und der 200. Seemeile zur wirtschaftlichen Nutzung ausgeschrieben werden müsse, wenn ein Land diese nicht selbst gewährleisten könne, was vor allem Industrienationen mit leistungsstarken Fahrzeugen begünstigte. Erst vor wenigen Monaten hat so die Elfenbeinküste der EU in einem „Fischereipartnerschaftsabkommen“ bis 2018 das Recht abgetreten, pro Jahr 6500 Tonnen Thunfisch und andere Wanderfische zu jagen. Dafür erhält das Land 680 000 Euro pro Jahr.

Andere Länder bekommen deutlich mehr. Etwa Mauretanien, das allein dieses Jahr 70 Millionen Euro kassieren wird. Die Lizenzgebühren werden künftig von den Reedern der Fangschiffe, etwa der Doggerbank Seefischerei GmbH, eingefordert, an dem Geschäft beteiligt ist allerdings auch der europäische Steuerzahler. Dass die Gelder oft in die Taschen korrupter Beamter fließen, statt zur Förderung einer „verantwortungsvollen Fischereipolitik“ in Afrika verwendet zu werden, wie es in den Verträgen heißt, ist kein Geheimnis.

In Brüssel betont man dennoch das Positive der Abkommen: Die EU-Flotte sei ausgelastet und Arbeitsplätze seien gesichert. Außerdem würden die überfischten europäischen Fanggründe entlastet.

Ghana weigerte sich von Anfang an, Fischereiabkommen zu schließen. Das Land war selbst in der Lage seine Küsten abzufischen, weil es 140 Trawler aus sowjetischer Fabrikation besaß. Dann aber zwang die Weltbank das Land zur Abwrackung und Privatisierung der staatlichen Flotte, die überwiegend von Koreanern und Chinesen aufgekauft wurde. Damit waren die heimischen Gewässer den Fremden preisgegeben. Die britische Beraterfirma Marine Resources Assessment Group schätzt, dass Ghana jeden Tag illegal um Fische im Wert von 100 000 US-Dollar gebracht wird. Vor der Küste kreuzen Trawler aus Honduras, Liberia oder Panama neben solchen von russischen, chinesischen und europäischen Reedern.

In Europa unterhält Spanien die größte Flotte an Hochseetrawlern, in Deutschland sind nur noch acht Großtrawler registriert, sechs davon gehören Parlevliet & Van der Plas. Nach Greenpeace-Angaben floss ein Drittel der staatlichen Zuwendungen zwischen 1994 und 2007 in diese Miniflotte. Danach, die Subventionskriterien hatten sich geändert und mit der Helen Mary für P & P war der letzte Neubau vom Stapel gelaufen, förderten EU und Bund nur noch einmal die Anschaffung besseren Fanggeräts mit 80 000 Euro.

Seit 2007 sind die Fangmengen der sechs deutschen Supertrawler nach einer internen P & P-Darstellung von 146 000 Tonnen auf etwa 110 000 Tonnen zurückgegangen. In einem Positionspapier aus dem Jahr 2011 warnte der Konzern vor der Reform der Fischereipolitik wegen drohender Wettbewerbsnachteile. Auf ihn würden Bestimmungen angewandt, an die sich andere auf demselben weiten Meer nicht halten müssten. Russen etwa. Ein Argument, das in Brüssel nicht ungehört blieb. „Die Macht von Parlevliet“, sagt ein deutscher Fischereiexperte, „ist als Beinahe-Monopolist ziemlich ausgeprägt.“

Rutemöllers Sohn hat einen Papierflieger gebastelt. Der Vater ist Landebahn. „Du gehst jetzt mal eben raus“, sagt der streng und ungeduldig, „Papa ist gerade am Reden“. Am Reden von seinem Netz. Wie es auf 1500 Meter Wassertiefe herabgelassen wird und sich öffnet, als sei es ein riesiges Maul. Wie es über die Heckrampe an Bord gezogen wird, während aus den Maschen Fischköpfe quellen. Ein Berg toter, zerdrückter Fische mit aufgeplatzten Augen, die an ihren Innereien erstickt sind. „Was einmal im Netz ist, hat keine Chance weiterzuleben“, kommentiert Rutemöller den Wunsch der EU-Politiker, mehr Geld für bessere, selektive Fangmethoden auszugeben.

Manchmal gerät ein seltenes Exemplar ins Netz. Ein Seeteufel, Delikatesse, streng genommen auch nur Beifang. So etwas fotografieren sie. Rutemöller zeigt ein Bild von sich, am Boden liegend neben einem Heilbutt, zwei Meter lang, ein halbes Jahrhundert alt. Haie, Tintenfische, Schildkröten, Delfine, alles holen sie mit ihrem Netz herauf. Riesige Viecher. Verendet. Es macht Mühe, sie wieder ins Meer zu bugsieren. „Da machst du ein Stück Geschichte kaputt.“

Auf einem anderen Foto sieht das Deck aus, als habe ein Kieslaster seine Ladung verloren. Es ist über und über mit grauem Schotter bedeckt. Kaltwasserkorallen, 10 000 Jahre alt, drei Zentimeter Wachstum pro Jahr. Und jetzt sind sie vor Norwegen dem Netz des Trawlers in die Quere gekommen.

Aus Versehen?
„Da war Fisch.“
Wird diese Zerstörung gemeldet?
„Nö. Besser nicht drüber reden, sonst könnte es im folgenden Jahr keine Quote für das Gebiet geben.“

Niemand kann wissen, ob es ein guter Hol ist, welche Fischarten sich unter dem Schiff befunden haben, bis alles ausgekippt wird. „Das Netz ist eine Wundertüte“, sagt Rutemöller, auch so ein Fischer-Spruch. Doch er meint, dass deshalb mit dem Fangen automatisch das Tricksen losgeht. Der Kapitän folgt seinem „Zielfisch“ dorthin, wo er ihn zu einer bestimmten Jahreszeit in großer Zahl vermutet. Aber erst nachträglich weiß er, ob er richtig gelegen hat. Ist der Fisch im Netz teurer als der, den er fangen darf, wird er mitgenommen. Und während das Schiff seinen Hafen anläuft, sind die Manager an Land damit beschäftigt, dem Fang die nötige Quote zu verschaffen.

Quoten sind Staatseigentum, verteilt werden sie in Deutschland von der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE). Doch einer Firma wie der Doggerbank Seefischerei ist es möglich, ihre Kontingente innerhalb der eigenen Flotte umzuverteilen oder gegen die Kontingente anderer Firmen einzutauschen. Ende 2012 muss etwas bei diesem Verfahren bei der Maartje Theadora schiefgelaufen sein. Französische Behörden entdeckten 2000 Tonnen Fisch an Bord, die nicht durch eine Quote legitimiert waren. Sie legten das Schiff an die Kette und verhängten ein Bußgeld von 595 000 Euro. Später empörte sich die Reederei, dass ihr allein durch den Zeitverlust über eine Million Euro verloren gegangen sei. Konsequenzen hatte das keine, zumindest nicht für den Kapitän, wie Uwe Richter sagt. Er ist Geschäftsführer des deutschen P & P-Ablegers Doggerbank und der Mann in Deutschland, der als Verbandsvorsitzender die Interessen der Hochseefischerei vertritt. Herr Richter, Sie haben den Kapitän weiterbeschäftigt?

„Ja, natürlich.“
Er hat Sie einen Batzen Geld gekostet.
„Das Bußgeld wurde wegen einer Geringfügigkeit verhängt.“
Richter sagt dann auch noch, dass die französischen Behörden sich aufgespielt hätten, nur weil drei verschiedene Netze mitgeführt worden seien, was allerdings ja wirklich nicht erlaubt war. Aber das sei eben nur ein formaler Fehler.

Überhaupt hat Richter für alles eine Erklärung. Dass der Fisch erst verkauft und dann gefangen werde, bestreitet er. Die Listen an Bord, die für Rutemöller und seine Kollegen Tagesgespräch sind, rechtfertigt er mit den Quoten, die innerhalb eines engen Zeitfensters erfüllt werden müssten. Da seine Firma ausschließlich Frostware vertreibe, könne sie flexibel auf den Markt reagieren.

Wie viel essbarer Fisch dabei den Markt nie erreicht, weil er als Ausschussware sofort ins Meer zurückgekippt wird, ist eine heftig diskutierte Frage. Es ist bekannt, dass Trawlerbesatzungen sich weniger profitabler Fänge entledigen, um Platz für höherwertige Ware zu schaffen. Highgrading heißt diese Praxis, nach europäischem Recht ist sie seit 2009 illegal. Aber es muss auch nicht jeder Beifang angelandet werden. „Den Fang gab es dann einfach nicht“, sagt Rutemöller. Man müsse das der Mannschaft gar nicht befehlen. Die weiß um die Kilopreise einzelner Arten, auch Rutemöller betet sie herunter, und sie schmeiße einfach wieder über Bord, was nicht ins Beuteschema passe.

Im vergangenen Jahr hatte Uwe Richter abermals Ärger. Die Schiffsführung der Jan Maria wurde des illegalen Highgradings verdächtigt. 1500 Tonnen Hering sollen auf einer dreiwöchigen Reise vernichtet worden sein. Das BLE nahm Ermittlungen auf. Ihm waren das offizielle Fangtagebuch sowie eine geheime Fangkladde der Jan Maria zugespielt worden. Angaben über Beifänge fehlten darin. Der Gedanke eines Betrugs bei der Jan Maria „drängte sich zwar auf“, wie ein BLE-Sprecher sagt. Doch die Behörde stellte ihre Ermittlungen ein, aus Mangel an Beweisen. Die Firma darf ihre Produkte weiterhin mit dem MSC-Gütesiegel für umweltbewussten Fischfang bewerben. Und Richter behauptet: „Highgrading haben wir noch nie gemacht.“ Seine Firma bekomme jeden Fisch verkauft. Und im konkreten Fall hätten sich die Beifänge zwischen 200 und 300 Kilo bewegt, das habe innerhalb der EU-Toleranz gelegen, da habe der Kapitän sie nicht eigens vermerkt. Auch das eine Richter’sche Geringfügigkeit.

Von der EU werden die Beifangraten auf bis zu 70 Prozent – bei der Grundnetzfischerei – und bei der pelagischen Fischerei auf etwa 15 Prozent geschätzt – pelagisch ist alles zwischen Meeresoberfläche und -grund. Nun soll es ab 2015 ein generelles Rückwurfverbot für EU-Schiffe geben. Dann muss alles, was gefangen worden ist, auch angelandet werden. Allerdings werden derzeit Sonderregelungen für einzelne Fischereitypen erarbeitet, die das Prinzip wieder aufweichen. Schon jetzt sollen nach dem Rahmenvertrag fünf Prozent des Fangs als Discard über Bord gehen dürfen. Worauf sich die fünf Prozent beziehen, ist derzeit nicht definiert. Ob auf einen Hol. Ob auf den Fang an Bord, die Jahresmenge. Greenpeace tobt. Die Fischer hätten nun wieder eine Ausrede für ihre Verschwendung. Und fünf Prozent, ist das kein Leben?

Warum etwa soll der Eberfisch sterben, wenn Schwarmjäger wie die Jan Maria auf Makrele und Holzmakrele aus sind? Der Eberfisch ist immer dabei. Aber nur die Dänen besitzen für diesen kleinen Beifisch eine Quote. „Die freuen sich jetzt natürlich“, sagt ein Meeresbiologe am Institut für Seefischerei in Hamburg. Die Deutschen müssten den Dänen, um Holzmakrele zu fangen, ein Teil der Eberfisch-Quote abkaufen. Oder der Eberfisch wird auf die Holzmakrele angerechnet. Aber niemand braucht den Eberfisch. Nicht einmal für Fischmehl.

„Dann macht Fischerei keinen Sinn mehr“, sagt Rutemöller, „weil man die Besatzung nicht mehr bekommt. Die geht nicht wochenlang aufs Meer, wenn dabei nichts für sie herausspringt.“

Er selbst gehört zu denen, die genau kalkulieren, wie viel ihnen eine mehrmonatige Heringreise einbringt. Oder eine Kabeljaureise. „Man macht das nicht aus Nächstenliebe zum Fischereiprodukt.“ Und er rechnet vor, wie eine Ladung billigen Seelachses die Monatseinkünfte schmälert. Eine Familie könnte man wohl noch ernähren, „doch dafür macht man das ja nicht“.

So ist das. Er ist Teil der Profitgier. Und er weiß das. Obwohl die Investoren und Reeder Millionen verdienen und der Fischer nur einen Bruchteil dessen, kriege er eben immer noch „zu viel, um aufzuhören“, wie Rutemöller sagt.

So sehr Joshua Akaa auch am Anlasser reißt – der Motor springt nicht an. Er klappt den Außenborder hoch, nimmt die Verkleidung ab, schraubt herum, verstellt und reinigt das Innere der Maschine. Beim nächsten Versuch knattert der Motor los, säuft aber sofort wieder ab. Joshua fummelt weiter. Es ist niemand in Sicht, der seine Piroge den langen Weg zurückschleppen könnte. Er versucht es weiter und weiter.

Am Strand von Kokrobite wartet bereits eine Gruppe Jugendlicher und Kinder, als die Oneday am Horizont erscheint. Joshua Akaa hat es doch geschafft. Geschickt lässt er das Boot von einer Welle auf den Strand tragen. Mit Stricken ziehen die Helfer es nun über Planken auf den Sand und beginnen sofort die Fische aus den Netzen zu sammeln. Am Ende wird der Fang unter Joshua und seiner Crew aufgeteilt, und die Frauen der Fischer machen sich schon am Strand daran, die Ware für einige ghanaische Cedis, umgerechnet ein bis zwei Euro, zu verkaufen. Den Rest tragen sie in großen Plastikbottichen auf dem Kopf ins Dorf zum Markt.

Joshua, Ahene und James setzen sich unterdessen in den Schatten ihres Boots und flicken mit langen Nadeln das Netz. Es ist schon Nachmittag, als Joshua den Außenborder abschraubt und nach Hause trägt. Er bewohnt mit seiner Frau und 13 Kindern ein bröckelndes Steinhaus. Ein Fernseher ist da, ein paar Hühner laufen umher, die Toilette ist im Hof.

Er könne sich keine andere Arbeit vorstellen, sagt Joshua. Er besitzt weder Land noch ist er besonders gebildet. Seit er zwölf Jahre alt ist, fischt er. Darauf ist er stolz.

Als Joshuas Frau nach Hause kommt, bringt sie 37 Cedis mit, umgerechnet 15 Euro, und einige Fische für das Abendessen. „Manchmal bringt sie auch 100 Cedis mit“, sagt Joshua, „und manchmal gar nichts.“ Von dem Geld muss Reis, Yams, Öl und Wasser gekauft werden. Und Treibstoff für den Außenborder. Es war ein schlechter Tag, sagt Joshua. „Aber morgen fangen wir wieder mehr.“