Es ist die Geschichte eines Abstiegs. Atemberaubend in seiner Geschwindigkeit und schwer nachvollziehbar. Brasilien, siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt, noch vor wenigen Jahren als die Aufsteigernation des 21. Jahrhunderts gefeiert, taumelt illusionslos auf die Olympischen Sommerspiele zu.
Das Land sucht einen Ausweg aus einer der tiefsten Krisen seiner Geschichte. Sie betrifft Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Es ist Umbruchszeit.
Wenn Brasilien eine literarische Figur wäre, dann vielleicht der Hans im Glück. Der Hans, der alles, was er gewonnen hat, Stück für Stück wieder verliert, sich über den Tisch ziehen lässt und mit leeren Händen nach Hause zurückkehrt. Nur, dass der Hans aus dem Märchen am Ende glücklich ist, befreit vom Ballast des Besitzes. Und das kann man von den Brasilianern nun wirklich nicht sagen.
Zwischen einer und drei Millionen Menschen protestierten vergangenen Sonntag für die Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff. Die große Mehrzahl der Demonstranten war weiß, obwohl in Brasilien die Bevölkerungsmehrheit schwarz ist. Ebenso überdurchschnittlich waren wohlhabende und ältere Menschen vertreten.
Damit unterschieden sich die Proteste klar von den jungen, studentischen Demonstrationen für mehr Bildung, Gesundheit und öffentlichen Transport, die 2013 die Welt in Erstaunen versetzten. Damals wurden die Demos von der Militärpolizei niedergeknüppelt. Nun sieht man Transparente: „Gegen die Entmilitarisierung der Militärpolizei!“
Vielleicht kann man es so sagen: Die Proteste 2013 waren vom Wunsch nach Fortschritt erfüllt. 2016 sind sie reaktionär. Man weiß wogegen man ist, aber nicht wofür.
In Gesprächen sagen die Demonstranten in ihren gelben Hemden immer wieder, Dilma Rousseff solle sich mit ihrer korrupten Arbeiterpartei zum Teufel scheren. „Sie hätten Dilma töten sollen!“, stand auf dem Schild einer älteren Dame in Rio. Dilma Rousseff saß als junge Frau in den Folterkellern der Militärdiktatur.
Ein Land verzweifelt an sich selbst. Ein Land radikalisiert sich. Wie in Europa und den USA polarisiert sich auch hier die Gesellschaft. Die Auseinandersetzungen zwischen links und rechts, zwischen arm und reich, zwischen schwarz und weiß – sie werden vulgärer, bedrohlicher. Doch der Rechtsruck, er kommt nicht von unten, sondern von oben. Die brasilianischen Eliten haben es nie verwunden, dass mit Lula da Silva 2002 einer Ex-Metallarbeiter Staatschef wurde, der fehlerhaft Portugiesisch sprach und billigen Cachaca trank.
Der hässliche Begriff “golpe” macht jetzt die Runde: Putsch! Von den einen zur Absetzung der „kommunistischen“ Regierung gefordert. Von anderen als Warnung vor den konservativen Medienhäusern verstanden, die mit tendenziöser Berichterstattung die Stimmung gegen die regierende Arbeiterpartei (PT) anheizen. Das Militär hält bisher still, und es ist unwahrscheinlich, dass es sich regen wird. Aber dass Bürger 30 Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie für eine Militärdiktatur auf die Straße gehen, sagt einiges über den Zustand des Landes aus.
Selbst die Präsidentin spricht nun von golpe! Sie wehrt sich gegen die Veröffentlichung von Telefongesprächen durch den ehrgeizigen Ermittlungsrichter Sérgio Moro. Ein abgehörtes Telefonat zwischen Rousseff und Ex-Präsident Lula, zur besten Sendezeit im Fernsehen ausgestrahlt, löste Mitte der Woche tumultartige Proteste von Regierungsgegnern aus. In der Hauptstadt Brasília versuchten sie, den Präsidentensitz zu stürmen. Am Freitag dann die Antwort: Hunderttausende, die meisten in rot gekleidet, viele Künstler und Intellektuelle, protestierten gegen den „Putsch“ der Justiz in Komplizenschaft mit den Massenmedien.
Das sind nur die aktuellen Ereignisse. Sie entfalten sich vor einem düsteren Horizont.
Da ist der Einbruch der Wirtschaft: minus vier Prozent Wachstum, zweistellige Inflation, 1.5 Millionen neue Arbeitslose allein 2015. Als Folge steigt die Kriminalität. In Rio haben die Straßenüberfälle sprunghaft zugenommen. Viele geben ihre auf Pump gekauften Autos zurück, sind jetzt statt Ölarbeiter wieder Straßenverkäufer.
Da ist eine zerfallende Regierung, deren Krise auf etwas tieferes hindeutet: Ein politisches System, das nicht funktioniert. Firmenspenden an Politiker, 28 Parteien im Kongress, 31 (!) Ministerien, Abgeordnete, die nur persönlichen Interessen verfolgen. Wie soll das gehen?
Mit beiden Krisen eng verwoben: der gigantische Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras, in den die größten brasilianischen Baukonzerne sowie weite Teile der politischen Klasse verwickelt sind.
Zu all dem gesellt sich: das immer noch mysteriöse Zika-Virus, wegen dem die Behörden den Gesundheitsnotstand ausgerufen haben, weil es im Verdacht steht die Gehirne von Embryos zu schädigen. Dennoch verbreitet es sich, von Mücken übertragen, rasant weiter. „Ein Moskito ist nicht stärker als ein ganzes Land“, so die Parole im Kampf gegen Zika. Das Gegenteil erweist sich als wahr.
Es ist so, als ob biblische Plagen Brasilien heimsuchten. In einer Zeitung war zu lesen, dass es zwar stimme: Gott sei nach wie vor Brasilianer (so ein beliebtes Bonmot). Allerdings befinde er sich gerade in einer alttestamentarischen Phase. So viel Humor haben nicht mehr viele.
Die Aufregung um Zika mag groß gewesen sein. Aber man spricht schon seit Wochen nicht mehr darüber. Die Gesundheitskrise ist allenfalls als Metapher für den Zustand des Landes präsent.
Ebenso wenig wie über Zika spricht man über die Olympischen Spiele.
In einem halben Jahr will Rio de Janeiro die Welt zu den Sommerspielen empfangen. Aber den Brasilianern sind die Spiele gleichgültig. Wie sollte es auch anders sein bei dem Drama, das ihnen auf politischer Bühne geboten wird.
Im vorerst letzten Akt soll der angegraute Ex-Präsident Lula in die Regierung seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff eintreten. Tatsächlich will man ihn durch die Rochade außer Schussweite des aggressiven Untersuchungsrichters Sérgio Moro bringen. Moro erwog, Lula in Untersuchungshaft zu stecken, weil er Gefälligkeiten zweier Baukonzerne in Anspruch genommen haben soll, beide Auftragnehmer der öffentlichen Hand. Als Minister aber genösse Lula eine Art Art Immunität.
Lula war einmal der beliebteste Staatschef der Welt. Als er Brasilien zwischen 2002 und 2010 regierte, entkamen 36 Millionen Brasilianer der extremen Armut. 40 Millionen stiegen laut offizieller Statistik in die Mittelschicht auf. Es entstanden 19 Millionen versicherungspflichtige Jobs. Brasilien wurde zum zweitgrößten Nahrungsmittelexporteur der Welt. Es lieferte das Eisenerz, aus dem die Chinesen den Stahl für ihre Millionenstädte gossen. Und es wollte mit der Ausbeutung der riesigen Ölfelder in den Tiefen des Atlantiks beginnen. Die brasilianische Wirtschaft wuchs um durchschnittlich vier Prozent, der Mindestlohn verdreifachte sich.
Das „Land der Zukunft“ schien endlich seine Rolle gefunden zu haben. Multiethnisch, tolerant, demokratisch. Mit einem unerschöpflichen Potential an Rohstoffen und Arbeitskräften. Der britische „Economist“ titelte 2010 zum Bild einer fliegenden Christus-Statur: „Brasilien hebt ab“.
Doch jedem Aufstieg folgt ein Abstieg.
Sérgio Moro ist 40 Jahre alt, durchtrainiert, sieht gut aus und hat einen Teil seiner Ausbildung in Harvard absolviert. Seit zwei Jahren leitet er die Aufklärung der Korruption rund um Brasiliens größtes Unternehmen: Petrobras. „Lava Jato“ heißt die Operation: Autowaschanlage. Sie befindet sich in ihrer 24. Phase. Worum es geht: Firmen, die Aufträge von Petrobras erhielten, mussten „Prämien“ an Politiker zahlen. Das System verselbstständigte sich, es geht um zwei Milliarden Dollar.
2014 kam der Raubzug ans Licht, als ein ehemalige Petrobras-Manager, der wegen Bestechung festgenommen worden war, einem Deal zustimmte: Straferleichterung gegen Aussage. Und er sagte aus, begann Namen zu nennen. Und weitere Namen. Und noch mehr Namen. Die Fälle landeten bei Untersuchungsrichter Moro und seinem Team. Von den Medien wurden sie bald als die Reiter der Apokalypse bezeichnet.
Nun lehren sie der politischen und wirtschaftlichen Klasse das Fürchten. Diese hat sich in einem System aus Korruption und Immunität eingerichtet. Es sind Leute, die sich noch als erstaunte Opfer aufführen, wenn auf ihren Anwesen Ferraris und Lamborghinis beschlagnahmt werden. Die Liste der Politiker gegen die ermittelt wird, ist mit der Zeit immer länger geworden. Dank einer umfassenden Kronzeugenregelung. Zuletzt sagte ein Senator gegen 74 Personen aus, darunter die Vorsitzenden von Senat und Parlament. Auch der Name von Oppositionsführer Aécio Neves fiel.
Moro muss sich allerdings den Vorwurf gefallen lassen, am liebsten gegen Angehörige der Arbeiterpartei zu ermitteln. Immer wieder versucht er etwa, Präsidentin Rousseff in den Skandal hineinzuziehen – bisher ohne Erfolg. Von ihren Gegnern wird er für die Versuche gefeiert. #ichbinMoro.
Nun hat das Parlament ein Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff eingeleitet, wegen Unregelmäßigkeiten bei der Finanzierung ihrer Wahlkampagne 2014. In der 65-köpfigen Vorbereitungskommission sitzen acht Politiker die selbst von der Justiz untersucht werden.
Sollte das Impeachment erfolgreich sein, würde Vizepräsident Michael Temer von der der wendigen Partei der Demokratischen Bewegung ins höchste Staatsamt aufsteigen. Und auch er wird beschuldigt, in Korruptionsskandale verwickelt zu sein.
Das vielleicht traurigste an der Situation: Es gibt keine Alternativen. Da ist niemand, der einen Weg in die Zukunft zeigt. Niemand, der Hoffnung weckt.
Und doch, es gibt auch etwas Positives. Es wird im brasilianischen Schlamassel oft übersehen. Zum ersten Mal wird die Korruption in Brasilien konsequent verfolgt. Zum ersten Mal diskutieren die Brasilianer über diese Seuche. Vielleicht ist das die größte Errungenschaft der Amtszeit von Dilma Rousseff. Und dafür müsste man ihr eigentlich dankbar sein.