Der rechtsextreme Jair Bolsonaro hat die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in Brasilien gewonnen. Er holte 46 Prozent der Stimmen. Damit verpasste er die absolute Mehrheit und tritt nun in der Stichwahl gegen Fernando Haddad von der linken Arbeiterpartei (PT) an.
Haddad erhielt 29 Prozent. Auf den dritten Platz kam der linksliberale Ciro Gomes. Andere Kandidaten lagen abgeschlagen hinten, etwa der Anfangs hoch gehandelte Geraldo Alckmin von der liberal-konservativen PSDB oder die evangelikale Umweltschützerin Marina Silva.
In den letzten Umfragen zur Stichwahl am 28. Oktober liegt Bolsonaro nun knapp in Führung vor Haddad. Das Momentum scheint auf Seiten des 63-Jährigen zu sein. Die Chancen sind hoch, dass er das nächste Staatsoberhaupt der größten und wichtigsten Nation Lateinamerikas mit 210 Millionen Einwohnern wird.
Wer aber ist dieser Jair Bolsonaro, der wie aus dem Nichts aufgestiegen zu sein scheint?
Die einfache Antwort lautet, dass er das Ergebnis eines korrupten und gescheiterten politischen Systems ist. So gut wie alle brasilianischen Parteien haben sich diskreditiert. Da ist niemand der noch eine positive Botschaft verbreiten und Hoffnung machen könnte. Es ist bezeichnend, dass Bolsonaro auf dem Ticket der zuvor völlig unbedeutenden Kleinstpartei PSL gewinnen konnte.
Viele Brasilianer sind insbesondere von der linken Arbeiterpartei PT tief enttäuscht. Sie hatte vor 15 Jahren die Regierung übernommen und versprochen, eine andere, eine saubere Politik zu machen. Dann aber ließ sie sich (wie alle großen Parteien des Landes) in gigantische Korruptionsaffären verwickeln. Ihr Gründer, der einst gefeierte Ex-Präsident Lula da Silva, sitzt nun seit April eine umstrittene Haftstrafe ab.
Bolsonaro ist es gelungen, die Enttäuschung vieler einfacher Menschen aber auch den Hass der weißen Oberschicht auf die Arbeiterpartei zu bündeln. Letztere ist in einem extremen Klassendenken verhaftet. Bolsonaro ruft nun seinen Anhängern zu: „Wir werden die Petralhada füsilieren.“ Und alle jubeln. Petralhada ist ein Schimpfwort für Anhänger der PT. Woanders wäre das strafbar, in Brasilien aber wird es schulterzuckend hingenommen. Es hat in jüngster Zeit gerade auf Seiten der Rechten eine totale Enthemmung der Sprache und der Gewaltfantasien stattgefunden.
Wie immer, wenn Extremisten nach der Macht greifen, herrscht bei vielen Menschen der Wunsch, mit allem aufzuräumen. Sie wollen Tabula Rasa machen. Dieses Gefühl bedient Bolsonaro. Dabei rücken die vielen Ungeheuerlichkeiten, die er von sich gibt, in den Hintergrund. Sie werden von seinen Anhängern bagatellisiert, als „Fake News“ diskreditiert oder als Ausdruck von Bolsonaros „Ehrlichkeit“ gefeiert.
Vor seiner Kandidatur saß Bolsonaro 27 Jahre lang im Parlament in Brasilía. Er brachte in dieser Zeit lediglich zwei Gesetzesvorhaben durch, machte sich aber als Fürsprecher der brasilianischen Militärdiktatur (1964–1985) einen Namen. Er verteidigte etwa die Folter und den Mord an Oppositionellen, sagte einmal im TV: „Die Diktatur hätte 30.000 töten sollen.“ Immer wieder beleidigte Bolsonaro auch Minderheiten, insbesondere Homosexuelle, die man „schlagen“ müsse. In Parlamentsdebatten und Diskussionen agierte er häufig aggressiv, schrie Gegner nieder.
Bolsonaro ist stolz darauf, Hauptmann der Reserve zu sein, Hitler hält er für einen „großen Strategen“. Zu seinem Vize-Kanditaten hat er den Armeegeneral Hamilton Mourão gemacht, der mehrfach eine Militärintervention gefordert hat. Von Waffen ist Bolsonaro so fasziniert, dass er auf Wahlkampfkundgebungen häufig das Schießen mit einem Sturmgewehr nachahmte. Einer seiner wichtigsten Vorschlägen lautet denn auch, dass jeder Brasilianer eine Waffe besitzen dürfe, um sich gegen Verbrecher zu wehren. Der Polizei will er einen Blankoscheck zur Tötung Krimineller ausstellen. Dabei tötet die häufig korrupte brasilianische Militärpolizei schon derzeit extrem viel: Rund 14 Menschen pro Tag fallen ihren Kugeln zum Opfer, meist ohne jede Untersuchung. Die Opfer sind überwiegend arme und junge Schwarze.
Aus der „kommunistischen“ UNO will Bolsonaro austreten und den Amazonaswald zur Ausbeutung freigeben. Brasiliens Ureinwohnern will er „keinen Zentimeter mehr“ für ihre Reservate geben.
Bolsonaros Wirtschaftspolitik ist neoliberal. Er verlässt sich auf den Wirtschaftsexperten Paulo Guedes, der sein Fach unter anderem in Chicago gelernt hat. Guedes will alle öffentlichen Unternehmen Brasiliens privatisieren und Arbeitnehmerrechte abbauen. Bolsonaro hat gesagt, dass die Leute sich aussuchen könnten, ob sie „Arbeit und weniger Rechte oder keine Arbeit und alle Rechte“ haben wollten. Die Steuern für Reiche will Bolsonaro senken, Gewerkschaften hält er für überflüssig.
Es ergibt daher Sinn, wenn man Bolsonaro als „klassischen Faschisten“ bezeichnet, wie es etwa der brasilianisch-chilenische Philosoph Vladimir Safatle tut. Einer Theorie zufolge ist Faschismus: entfesselter Kapitalismus plus Terror gegen Andersdenkende und Minderheiten, die nicht ins Bild der heteronormativen Gesellschaft passen, die sich hinter einem Führer versammelt. Die Definition passt perfekt auf Bolsonaro.
Er ist zwar in dritter Ehe verheiratet, behauptet aber, er kämpfe für die traditionelle Familie. Sein Wahlkampfmotto lautet: „Brasiliens über Alles. Gott über Allen.“ Zu seinen wichtigsten Unterstützern zählen die extrem konservativen evangelikalen Kirchen, die ihre Ansichten gerade unter armen und ungebildeten Menschen verbreiten.
Viele wundern sich nun, wie es möglich ist, dass ausgerechnet in Brasilien ein engherziger und unangenehmer Mann wie Bolsonaro nach der Macht greift. Brasilien galt bislang als tolerante Nation. Als den „herzlichen Menschen“ beschrieb der Historiker Sérgio Buarque 1936 den Archetyp des Brasilianers in seinem Schlüsseltext „Die Wurzeln Brasiliens“. Und für den Wiener Schriftsteller Stefan Zweig war Brasilien ja vor allem deswegen „Ein Land der Zukunft“, weil er hier weder Rassenwahn noch Nationalismus zu finden glaubte.
Nun ist aus dem herzlichen Brasilianer der hässliche Brasilianer geworden.
Wie derzeit überall auf der Welt zu beobachten ist, spielten die sozialen Netzwerke eine entscheidende Rolle für den Aufstieg des Extremismus. Bolsonaro und drei seiner Söhne, die ebenfalls Politiker mit rechtsradikalen Ansichten sind, bedienen gemeinsam mit Unterstützern insgesamt 1500 Whatsapp-Gruppen. Diese sind ein ständiger Quell von ausgemachten Lügen. Es ist bei der Flut an Nachrichten unmöglich, darauf zu antworten, geschweige denn die Unwahrheiten zu entlarven. Außerdem lassen sich viele Brasilianer nicht mehr von Fakten beeindrucken. Wer glaubt, Schwulsein sei eine Krankheit, wird dafür „Beweise“ finden und behaupten, es gebe eine Verschwörung der Medien und der Linken, die den Menschen das Gegenteil weiß machen wollten. Es verwundert nicht, dass einer von Bolsonaros Söhnen ein Strategietreffen mit Steve Bannon hatte, dem ehemaligen Berater Donald Trumps und Chef der Fake News-Schleuder Breitbart. Brasilien ist laut Studien das Land auf der Welt, in dem die Menschen am ehesten Lügen aus dem Internet glauben.
Über die Netzwerke ist es Bolsonaro also gelungen, ständig präsent zu sein und die Diskussionen zu beherrschen. In den Wahlkampfblöcken im TV hatte er nur wenige Sekunden Werbezeit. Sein Konkurrent Geraldo Alckmin, ehemals Gouverneur von São Paulo, hatte mehr als fünf Minuten. Es hat ihm nichts genutzt. Die Wahl in Brasilien ist ein weiterer Beweis für den verlorenen Einfluss der traditionellen Medien auf den Meinungsbildungsprozess vieler Menschen.
Entscheidend für Bolsonaros Aufstieg war weiterhin ein strategischer Fehler der konservativen Parteien PMDB und PSDB. Sie stürzten 2016 die linke Präsidentin Dilma Rousseff in einem umstrittenen Impeachmentverfahren. Brasilien steckte damals inmitten einer Rezession. Offenbar kalkulierten PMDB und PSDB, dass das Volk ihnen den Sturz der glücklosen und ungeschickten Rousseff schon danken werden. Doch dann gelang es Präsident Michel Temer von der PMDB nicht, das Land aus der Krise zu führen. 13 Millionen Menschen sind heute arbeitslos, die Erwerbslosenquote liegt bei zwölf Prozent. Außerdem gerieten nun die neuen Regierenden in den Fokus der Korruptionsermittlungen. Präsident Temer wurde vom ehemaligen Generalbundesanwalt sogar als „Kopf einer kriminellen Vereinigung“ bezeichnet. Doch das Parlament mit konservativer Mehrheit bewahrte ihn zweimal vor weiterführenden Ermittlungen.
So verfestigte sich der Eindruck, dass alle Politiker korrupt sind und das System einen radikalen Wandel braucht. Was 2012 mit einer Wirtschaftskrise begann, wuchs sich zu einer Krise der Politik, des Staats und seiner Institutionen, ja, zu einer Krise der Gesellschaft und ihrer Moral aus.
Der Profiteur heißt Jair Bolsonaro, ein inkompetenter und hasserfüllter Narziss. Er wird Brasilien kaum zur Ruhe bringen, sondern die übelsten Instinkte wecken. Die Geschichte Brasiliens handelt von einem Land das noch vor zehn Jahren als Aufsteigernation des 21. Jahrhunderts gefeiert wurde, weil es sein riesiges Potential endlich angezapft zu haben schien. Nun steht es kurz vor dem Abgleiten in den Faschismus.