Felipe Neto ist einer der meistgesehenen Youtuber der Welt. Vor allem Kinder und Jugendliche lieben seine Späße. Nun ist er zu einem der schärfsten Kritiker von Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro geworden. Die einen feiern ihn dafür, die anderen starten Hass-Kampagnen.
Es ist schon ein ziemlich radikaler Wandel, den Felipe Neto vollzogen hat. Er war einmal ein etwas zu lauter und durchgedrehter Youtuber mit bunten Haaren. In seinen Videos kommentierte er sein Lieblingsspiel Minecraft, erklärte die Comicfigur Sponge Bob oder zeigte die bizarrsten Haustiere und die absurdesten Urlaubsorte der Welt. Oft kritisierte er auch Prominente oder machte sich in unfeinen Worten über sie lustig.
Das war nicht immer sympathisch, aber Neto eroberte eine virtuelle Gefolgschaft von rund 40 Millionen Brasilianern, die allermeisten: Kinder und Jugendliche. Als „der Youtuber, der Ihren Nachwuchs prägt“, bezeichnete ihn die größte Zeitschrift des Landes, „Veja“, einmal. Mit 3,5 Milliarden Visualisierungen lag Neto 2019 weltweit auf dem zweiten Platz der meistgesehenen Youtuber. Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil er seine Videos auf Portugiesisch aufnimmt und nicht im viel weiter verbreiteten Englisch.
Aber auch außerhalb des Internets war Neto enorm erfolgreich. Mit seinem Bruder gründete er mehrere Produktionsfirmen und eine Fastfoodkette. Er schrieb Bücher („Die Welt nach Felipe Neto”), schauspielerte und trat als Comedian auf. 2019 betrug sein Umsatz umgerechnet fünf Millionen Euro.
Neto war also bekannt für vieles, bloß nicht für politisches Engagement.
Das hat sich binnen weniger Monate radikal geändert. Felipe Neto gilt heute als einer der einflussreichsten Kritiker von Brasiliens ultrarechtem Präsidenten Jair Bolsonaro.
Der 32-Jährige, der aus einem Unterschichtenviertel von Rio de Janeiro stammt, sitzt mit einem Mal in politischen Talkrunden und kommentiert fast täglich über Twitter und Instagram (jeweils zwölf Millionen Abonnenten) die Lage der Nation. Wie nebenbei diskutiert er auch mit einem Verfassungsrichter online über die Gefahr von Fake News für die Demokratie – und wurde sogar von Parlamentspräsident Rodrigo Maia eingeladen, eine Kommission zu dem Thema zu beraten.
Nicht der linke Ex-Präsident Lula da Silva oder Oppositionsführer Fernando Haddad ist heute die wichtigste Stimme gegen Jair Bolsonaro. Es ist der Internet-Star Neto. Die „New York Times“, die britische BBC und „El País“ haben große Storys über ihn gebracht. Die Zeitschrift „Isto È“ druckte ihn jüngst aufs Titelbild neben Greta Thunberg und die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafsai. Die Überschrift: „Generation Veränderung“.
Präsident Bolsonaro und seine Unterstützer sind von der großen Resonanz auf Netos politisches Engagement aufgeschreckt. Sie haben ihre Propagandamaschinerie im Internet angeworfen. Deren Inhalte – Videos, Memes, Fotocollagen, Texte die täglich von Unbekannten produziert werden, die man im Umfeld von Bolsonaros Sohn Carlos vermutet – werden vor allem über die Messenger-Dienste Whatsapp und Telegram ins Netz eingespeist. Eine besonders niederträchtige Kampagne brachte Neto mit Pädophilie in Verbindung. Er drohte allen, die die Montagen mit gefälschten Tweets von ihm in Umlauf brächten, mit einer Klage, darunter auch einigen Politikern. „Das Internet ist kein Raum ohne Recht. Jeder ist verantwortlich für das, was er verbreitet“, sagte er.
Der Wandel Netos begann 2019. Zunächst wurde er Vegetarier und schloss seine Imbisse für frittiertes Hühnerfleisch, beendete zudem eine lukrative Zusammenarbeit mit der Sandwichkette Subway. „Die Welt wird nur besser“, twitterte er, „wenn die Wohlhabenden zugunsten des Planeten auf Profite verzichteten“. Richtig aufmerksam aber wurde die Öffentlichkeit, als Neto 14.000 Exemplare eines Comic-Hefts aufkaufte, das von Rio de Janeiros christlich-fundamentalistischem Bürgermeister von der Buchmesse der Stadt verbannt worden war. Der Grund: die Darstellung zweier junger Männer, die sich küssen. Neto ließ das Heft kostenlos auf der Messe verteilen – und erhielt Morddrohungen. Er heuerte Personenschützer an, die er auch heute noch braucht. Vor dem Villenviertel in Rio de Janeiro, in dem er heute wohnt, tauchten jüngst Demonstranten auf, die ihn bedrohten.
Den geballten Zorn der bolsonaristischen Bewegung bekam Neto zu spüren, als er vergangenen März einen „offenen Video-Brief an alle Künstler und Influenzer“ in Brasilien veröffentlichte. Er verlangte eine Positionierung gegen Bolsonaros „faschistisches Regime“. Alle, die jetzt noch still hielten, seien ebenfalls Faschisten. Das war starker Tobak. Aber Neto stand dazu. Er sagte, dass er keine Angst vor all jenen habe, die diesen Wahnsinn immer noch für normal hielten. „Meine Funktion als Influenzer ist der Kampf für die Freiheit, die Pluralität und den laizistischen Staat.“
Bei all dem lassen sich durchaus Ähnlichkeiten zwischen Neto und dem deutschen Youtuber Rezo feststellen – nicht nur weil sich beide die Haare bunt färben. Beide recherchieren auch sauber, sie sind eloquent und lassen sich von Angriffen nicht einschüchtern. In ihren Aussagen wirken sie meist klarer, mutiger und glaubwürdiger als die meisten Politiker und auch viele Medien, die mittlerweile die absurdesten Behauptungen als legitime Meinungen und „andere Sicht auf die Dinge“ durchgehen lassen.
Diese Verschiebung – nicht mehr Politiker, klassischen Medien und politische Organisationen bestimmen alleine den Diskurs, sondern auch junge digitale Influenzer – wurde vielleicht am deutlichsten, als die „New York Times“ Felipe Neto vor einigen Tagen um ein Meinungsstück bat. Er nahm ein sechseinhalb Minuten langes Video auf, das prominent auf der Webseite der Zeitung platziert wurde. Darin nannte er Bolsonaro „den schlimmsten Covid-Präsidenten der Welt“ und eine „Gefahr“. Er sei schlimmer als Donald Trump. Das Video war Tagesgespräch in Brasilien und einer der bekanntesten TV-Journalisten des Landes, Guga Chacra, bezeichnete Neto als das „größte Medien-Talent seit Jahren“.
Wie konsequent Neto seinen Wandel vom Spaß-Youtuber zum politischen Einflussnehmer vollzieht, zeigt sich auch daran, dass er einige seiner alten Videos gelöscht hat, weil sie sexuelle Anspielungen enthielten. Ebenso bereute er öffentlich, dass er 2016 den Sturz der linken Präsidenten Dilma Rousseff unterstütze. Er sei damals politisch uninformiert gewesen, sagt er.
Nun hat Neto angekündigt, dass er umgerechnet 17.000 Euro investieren werde, um schwarze Influenzer zu fördern und ihre Videos jeden Samstag über seinen Kanal laufen zu lassen. Er glaube, sagte er, dass Menschen in privilegierten Positionen eine Verantwortung gegenüber den weniger Privilegierten hätten. „Es ist nie zu spät, sich zu verändern“, sagte Neto.