Verkappter Rassist: Samuel Huntington

Verkappter Rassist: Samuel Huntington

Vor gut zehn Jahren prophezeite der Politologe Samuel P. Huntington den „Clash of Civilizations“. In den Konflikten der Zukunft, so der Harvard-Professor, würden nicht Ideologien, sondern kulturelle Blöcke – der Westen und der Islam – aufeinander prallen.

So hellsichtig Huntingtons Voraussage heute erscheinen mag, so grob war sie auch. Raum für Zwischentöne ließ sie nicht; auf der einen Seite standen „wir“ (der Westen), auf der anderen Seite „die anderen“ (der Islam).

Nun hat Huntington ein neues Buch geschrieben, „Who Are We?“ (Simon & Schuster, New York, 448 Seiten, 27 $, auf Deutsch demnächst im Hamburger Europa-Verlag).

Und siehe da, wieder hat er einen Kulturkampf entdeckt, diesmal mitten in den USA. Seit die Zeitschrift „Foreign Policy“ ein Kapitel vorabdruckte, erleben die USA ihre Leitkultur-Debatte.

Unter der Überschrift „Die hispanische Herausforderung“ warnt Huntington vor dem Untergang des anglo-protestantischen Amerikas. Zu diesem Amerika der WASPs (White Anglo-Saxon Protestants) rechnet er sich selbst. Der anhaltend starke Zustrom aus Lateinamerika drohe die USA „in zwei Völker, zwei Kulturen und zwei Sprachen zu spalten“. Denn die Latinos seien nicht bereit, sich in den amerikanischen Mainstream zu assimilieren. Huntington schlussfolgert, dass den USA ein Latino-Separatismus bevorstehe. Schon heute betreibe die mexikanischstämmige Bevölkerung im Südwesten die Reconquista, die Wiedereroberung einst mexikanischer Territorien. „Blut ist dicker als Grenzen“, konstatiert der im April 75 gewordene Professor: Mexikanische Einwanderer und ihre Kinder identifizierten sich einfach nicht mit den USA. Sie weigerten sich sogar, Englisch zu sprechen.

Huntingtons Kassandraruf mündet in der Feststellung, die lateinamerikanischen Einwanderer ruinierten den amerikanischen Traum. Werte wie Bildung und harte Arbeit lehnten sie ab. Stattdessen akzeptierten sie Armut als „tugendhafte Voraussetzung, um in den Himmel zu gelangen“. Wären die USA heute das gleiche Land, fragt Huntington, wenn statt britischer Protestanten französische, spanische oder portugiesische Katholiken es besiedelt hätten? „Nein“, antwortet er, „wir wären Quebec, Mexiko oder Brasilien.“ Amerikas Identität stehe auf dem Spiel.

Huntingtons Text hat erwartungsgemäß Entrüstung ausgelöst. Die „New York Times“ fand es „ein wenig daneben“, die amerikanische Kultur als anglo-protestantisch zu bezeichnen. Im kubanisch geprägten Miami riefen Kommentatoren zu Massenprotesten gegen Huntington auf. Der in ganz Lateinamerika gelesene „Miami Herald“ proklamierte einen Freudentag für alle Fremdenfeinde: „Endlich haben sie einen Intellektuellen, der ihre Ressentiments in Worte kleidet.“ Und der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes nennt Huntington in der spanischen Zeitung „El País“ einen „maskierten Rassisten“. Er jage wie Kapitän Ahab in „Moby Dick“ einem Phantom hinterher.

Dabei sind die Fakten, die Huntington referiert, kaum bestreitbar. Seit den 60er Jahren haben sich die USA von einer einsprachigen, europäisch geprägten Nation zu einer multikulturellen, in Teilen zweisprachigen Nation verwandelt. Dieser Trend hat sich nicht zuletzt wegen der Einwanderung aus Lateinamerika verstärkt: Seit 2002 bilden Latinos die größte ethnische Minderheit; bis 2050 könnten sie 25 Prozent der US-Bevölkerung ausmachen. Kein Wunder also, wenn auch die Bedeutung der spanischen Sprache in den USA zugenommen hat. In großen Teilen von Los Angeles oder Miami ist Spanisch mittlerweile Umgangssprache, die Latinos haben eigene Zeitungen, Fernseh- und Radiostationen. Bill Clinton meinte zum Ende seiner Amtszeit: „Ich hoffe, dass ich der letzte Präsident bin, der kein Spanisch spricht.“ George W. Bush lässt seine Radio-Ansprachen bereits ins Spanische übertragen.

Erst kürzlich versprach er ein Legalisierungsprogramm: ein Signal für die mexikanische Gemeinde. Denn die Mexikaner nehmen unter den Latinos eine Sonderstellung ein – wie Huntington richtig erkennt. Ein Viertel aller legalen Einwanderer kam in den Neunzigern aus Mexiko, hinzu kommen jährlich mehrere Hunderttausend „Illegale“. Und diese Einwanderungswelle konzentriert sich geografisch: Zwei Drittel der Mexikaner leben im US-Südwesten. Dank der überdurchschnittlich hohen Geburtenrate werden Säuglinge in Kalifornien und Texas mittlerweile häufiger auf den Namen José getauft als auf John.

Allerdings zieht Huntington aus diesen Zahlen fragwürdige Schlüsse und reproduziert jene soziale Grenze, die zwischen Anglos und Latinos seit der Annektierung des mexikanischen Nordens immer wieder gezogen wurde, um die Einwanderer auf dem Status rechtloser Arbeitskräfte zu halten. Noch bis in die 1960er Jahre war auf Schildern in Texas zu lesen: „No dogs or Mexicans!“ In den Siebzigern tauchte dann die Warnung vor einem „US-Quebec in the Southwest“ auf. Huntingtons vermeintliche Entdeckung der mexikanischen Separatisten ist also nichts Neues. Vor allem Bürgerwehren in Arizona dürften ihm seine Ausführungen danken. Bei ihren Jagden auf mexikanische Einwanderer berufen sie sich auf das „Recht zur Selbstverteidigung vor einer Invasion aus Mexiko“.

Das macht Huntingtons Buch gefährlich, richtig peinlich aber ist, dass er seinen Gegenstand nicht kennt. Den Einwanderern mangele es an Ehrgeiz und Fleiß, behauptet er (den gleichen Vorwurf machte man Anfang des 20. Jahrhunderts übrigens katholischen und jüdischen Einwanderern aus Südosteuropa). Wie es dann aber kommt, dass diese „antriebslosen“ Menschen tausende Kilometer teils zu Fuß zurücklegen, eine militarisierte Grenze überwinden und sich für drei Dollar die Stunde auf Amerikas Feldern mit Pestiziden besprühen lassen, beantwortet er nicht. Ebenso wenig kann er erklären, warum die „assimilierungsfeindlichen“ Latinos überproportional in den US-Streitkräften vertreten sind. Heißt der Oberkommandierende der Truppen im Irak nicht Ricardo Sanchez?

Dazu entsetzt sich Huntington über die Kubaner. Sie unterzögen die Stadt Miami einer schleichenden Latinisierung. Wie diese Dominanz mit der von ihm unterstellten „Unfähigkeit zu schnellen Resultaten” zusammenpasst, bleibt unklar. Rätselhaft auch seine Beschwerde über das höhere Einkommen zweisprachiger Familien. „Erstmals in der US-Geschichte“, so Huntington, „erhalten Amerikaner weniger Gehalt, weil sie nur Englisch sprechen”. Die Fähigkeit, mehrere Sprachen zu sprechen, wird allerdings in den meisten Ländern der Welt belohnt.

Huntington outet sich mit „Who Are We?“ als Anhänger des Nativismus. Diese US-amerikanische Variante der Fremdenfeindlichkeit wird gewöhnlich in wirtschaftlichen Krisenzeiten virulent. Zuletzt war das Anfang der Neunziger, als die Rüstungsindustrie Kaliforniens kränkelte. Die Clinton-Regierung reagierte damals mit dem Ausbau der Grenzanlagen. Es ist unwahrscheinlich, dass Präsident Bush im Wahljahr zu solchen Mitteln greifen wird. Dennoch ist Huntingtons Buch ein weiterer Beweis dafür, dass die politische Debatte in den USA seit dem 11. September zunehmend von Bedrohungsszenarien durchsetzt ist. Neben die reale (äußere) Bedrohung durch den Terrorismus tritt nun die imaginäre (innere) Bedrohung durch die Latinos. Auf ihre billige Arbeitskraft wird man deswegen aber nicht verzichten.