In einem historischen Prozess ist Dilma Rousseff abgesetzt worden, Brasilien bekommt mit Michel Temer einen neuen Präsidenten. Doch das Verfahren war dubios und weder Temer noch seine konservative Politik haben Rückhalt in der Bevölkerung. Fragen und Antworten.
Foto: Marcelo Camargo / Agência Brasil – www.flickr.com/photos/fotosagenciabrasil/26428864161/, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=59330158
Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff ist vom brasilianischen Senat mit einer Zweidrittelmehrheit ihres Amtes enthoben worden. Sie und ihre Anhänger sprechen von einem „Putsch“. Was ist davon zu halten?
Man muss nicht von einem Staatsstreich reden, um Zweifel an dem Absetzungsprozess zu haben. Rein formal verlief das Verfahren, das sich neun Monate lang hinzog, gemäß der brasilianischen Verfassung. Darauf berufen sich die Gegner Rousseffs. Allerdings stand es von Beginn unter an dem Verdacht, politisch und sogar persönlich motiviert zu sein. So wurde der Prozess von Parlamentspräsident Eduardo Cunha eröffnet. Er machte klar, dass dies seine Rache dafür sei, das Rousseffs Arbeiterpartei (PT) eine Untersuchung gegen ihn wegen Schmiergeldkonten in der Schweiz nicht verhinderte.
Weiterhin gaben viele Parlamentarier Gründe für ihr Votum gegen Rousseff an, die nichts mit der formalen Anklage gegen sie zu tun hatten. Es war so, als ob man einer Frau, die wegen der Veruntreuung von Geldern vor Gericht steht, vorwirft, schlecht Auto zu fahren. So entstand der Eindruck, dass es sich um einen politischen Prozess mit einem Ziel handelt: Rousseffs konservative Gegner an die Macht zu bringen, die eine Politik wollen, für die sie an den Urnen niemals eine Mehrheit bekommen würden. Rousseff war im Oktober 2014 mit 54 Millionen Stimmen direkt vom Volk gewählt worden.
Mit welcher Begründung ist Rousseff ihres Amtes enthoben worden?
Die entscheidende Frage lautete: Hat Rousseff ihren Amtseid verletzt, als sie ohne Zustimmung des Senats die Auszahlung von Subventionen gewährte, die nicht vom Haushalt gedeckt waren. So soll sie den Haushalt vor ihrer Wiederwahl im Oktober 2014 geschönt haben. Bis zuletzt herrschte unter Senatoren und Juristen aber Zwist, ob diese Fiskaltricks als sogenanntes „Verbrechen gegen die Verantwortung“ eingestuft werden können. Ein solches muss laut Verfassung vorliegen, um ein Staatsoberhaupt absetzen zu können. Dilma Rousseff wiederholte bis zuletzt, dass sie unschuldig sei.
Sie betonte, dass ihr weder Korruption noch Bereicherung im Amt vorgeworfen werden könne. Das unterscheidet sie in der Tat von der Mehrzahl der brasilianischen Senatoren und Parlamentsabgeordneten, die über sie richteten. Gegen 60 Prozent von ihnen laufen Untersuchungen. Auch Rousseffs Amtsvorgänger sowie viele Gouverneure und Bürgermeister des Landes haben ähnliche Haushaltstricks angewendet oder wenden sie weiterhin an. Bislang ohne Konsequenz.
Steht Brasiliens Gesellschaft hinter der Absetzung Rousseffs?
Brasilien hat sich zwischen rechts und links polarisiert. Es ist ein ähnlicher Prozess, wie er auch in Europa zu beobachten ist. Die sozialen Netzwerke spielen dabei eine große Rolle. Man kann sagen, dass ein Großteil der weißen Oberschicht im reicheren Südosten Brasiliens hinter der Absetzung Rousseffs steht. Die sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Intellektuelle sind dagegen. Drei Faktoren schufen das gesellschaftliche Klima für das Impeachment: Die tiefe Wirtschaftskrise mit dramatischer Inflation, steigender Arbeitslosigkeit und Minuswachstum. Der gigantische Korruptionsskandal um den staatlichen Erdölkonzern Petrobras, in den Rousseffs Arbeiterpartei (PT) verwickelt ist. Drittens, die konservativen Medienhäuser, die seit der Wiederwahl Rousseffs täglich versuchten, sie als korrupt darzustellen – was sie erwiesenermaßen nicht ist.
Stellt die Absetzung Rousseffs eine neue Art von Staatsstreich in Lateinamerika dar?
Tatsächlich ist es nicht das erste Mal, dass ein linkes Staatsoberhaupt in Lateinamerika in einem fragwürdigen Verfahren von einem konservativen Kongress entfernt wird. Man könnte nun die These vertreten, dass die Ära der Militärcoups in Lateinamerika vorbei ist. Diese hatten – meist von den USA unterstützt – das politische Leben in Lateinamerika im 20. Jahrhundert bestimmt. Stattdessen werde heute unliebsame Staatsoberhäupter auf vorgeblich legalem Wege aus dem Weg geräumt.
Bereits in Honduras wurde 2009 der linke Präsident Manuel Zelaya unter dubiosen Umständen vertrieben. Drei Jahre später setzte der Kongress in Paraguay den linken Präsidenten Fernando Lugo ab, der eine Landreform plante. Manche Beobachter befürchten nun, dass der „sanfte Putsch“ in Brasilien einen weiteren Präzedenzfall gesetzt haben könnte. Eine etwas nüchternere Analyse kommt zu dem Schluss, dass die politischen Systeme Lateinamerikas nicht funktionieren. In Brasilien muss sich etwa ein direkt gewählter Präsident seine Mehrheiten in einem Kongress mit 28 Parteien suchen. Diese aber folgen meist einzig den persönlichen Machtinteressen ihrer Führer. Eine Lesart lautet daher, dass die sture Dilma Rousseff zu wenige Egos in Brasília befriedigte.
Hat die Amtsenthebung Auswirkungen auf die paralympischen Spiele, die nächste Woche in Rio de Janeiro beginnen?
Wohl nicht. Bis auf mögliche Demonstrationen für Rousseff in Rio oder vereinzelte Proteste gegen die neue Regierung in den olympischen Spielstätten – wie es sie auch schon während Olympia gab – werden die Besucher der Paralympics nichts von der politischen Lage in Brasilien mitbekommen.
Was hat die neue Regierung vor?
Unter Brasiliens neuem Präsidenten Michel Temer wird Brasiliens Politik konservativer. Sein oberstes Ziel, sagt er, sei die Konsolidierung des Haushalts, um das Vertrauen der Investoren zurückzugewinnen. Deswegen will Temer Staatseigentum und staatliche Leistungen privatisieren. So sollen etwa Flughäfen in Rio de Janeiro und São Paulo privatisiert werden, ebenso Gefängnisse und sogar Kindergärten. Die unter Rousseff und ihrem Vorgänger Lula da Silva geschaffenen Sozialprogramme will Temer einschränken oder abschaffen. Darunter fallen das Alphabetisierungsprogramm, der soziale Häuserbau und viele Stipendien beispielsweise für Studentenaustausche. Auch die Rechte von Arbeitern will Temer einschränken, so soll das 13. Monatsgehalt abgeschafft werden. Im Kontrast zu den Sparmaßnahmen steht Temers Vorhaben, das Gehalt der Obersten Richter Brasiliens von umgerechnet 9.600 Euro auf 11.200 Euro anzuheben. Es sind die Richter, die ihre legitimierende Hand über den Prozess gegen Rousseff hielten. Ihre Gehaltserhöhung hätte einen Kaskadeneffekt für alle Richter Brasiliens. Kein Brasilianer hat jemals für diese Politik gestimmt.
Wie geht es mit der Korruptionsbekämpfung weiter?
Das Thema bestimmte monatelang die brasilianischen Medien, ist aber in der Versenkung verschwunden, seit klar ist, dass Rousseff abgesetzt wird. Es ist zu befürchten, dass der Kampf gegen die Korruption nun endet, um zahlreiche Politiker zu schützen, die die neue Regierung unterstützen. Andeutungen in diese Richtungen kommen sowohl aus der Politik wie aus dem Justizapparat. Auch der neue Präsident Michel Temer steht unter Korruptionsverdacht. Es ist der Eindruck entstanden, dass das Thema Korruption lediglich ein Vehikel war, um Stimmung gegen Rousseff zu machen. Tatsächlich haben Gesprächsmitschnitte bewiesen, dass sich viele Politiker in Brasília jetzt in Ende der Korruptionsermittlungen erwarten. Sie bezeichneten Rousseff als die Kuh die man den Piranhas opfern müsse, um selbst ans andere Ufer zu gelangen.
Hat das Impeachment Folgen für Deutschland?
Indirekt. So begrüßen die 1200 deutschen Unternehmen, die in Brasilien ansässig sind, den Machtwechsel mehrheitlich. Sie hoffen auf eine wirtschaftliche Wiederbelebung. Rousseffs Wirtschaftspolitik, die auf staatliche Eingriffe setzte und dabei oft irrte, sahen sie mit großem Misstrauen. Im Auswärtigen Amt wird man sich derweil überlegen müssen, wie man mit einer Regierung umgeht, welcher der Makel anhaftet, durch einen sanften Putsch an die Macht gelangt zu sein.