Rio: 100 Jahre Regen – 100 Jahre Chaos

Rio: 100 Jahre Regen – 100 Jahre Chaos

Wer glaubt, in Rio de Janeiro scheine nur die Sonne, der ist dem Stadtmarketing gründlich auf den Leim gegangen. An durchschnittlich 109 Tagen im Jahr regnet es hier, also an fast jedem dritten Tag.

Pro Quadratmeter gehen insgesamt 1.173 Millimeter Wasser nieder, doppelt so viel wie in Berlin und sogar ein Drittel mehr als in Hamburg. Der Zuckerhut ist dann von dichten Wolken umgeben und die Christus-Statur verschwindet im bleiernen Grau. Man müsste Niederschlag also gewohnt sein – und doch haben nun lediglich zwei Regentage ausgereicht, um die Chaos-Anfälligkeit Rios erneut vorzuführen und die Stadt zum Stillstand zu bringen. Rio, die Stadt, die im kommenden Jahr die Fußballweltmeisterschaft und 2016 die Olympischen Spiele ausrichten will.

Am späten Dienstagabend öffnete der Himmel seine Schleusen und nur zwei Stunden später stand schon der Verkehr im Zentrum still, weil einige Kreuzungen sich in schmutzige Seen verwandelt hatten, durch die sich weder Autofahrer noch Fußgänger wagten. Wie oft bei Regen strömte der achtlos weggeschmissene Plastikmüll durch die Straßen, und auf größeren Pfützen schaukelten Müllsäcke, weil vielerorts der Müll eben auf die Straße gestellt wird, von wo ihn die Müllabfuhr eigentlich abholen sollte.

Am nächsten Morgen lag die Stadt dann lahm. Bis zu anderthalb Meter hoch stand das Wasser in einigen Vierteln und viele Menschen erwachten in vom Wasser eingeschlossenen Häusern. Das Abflussnetz von Rio konnte die Wassermassen nicht mehr aufnehmen. Es stinkt sprichwörtlich zum Himmel, weil es seit Jahren von Müll und Schlamm verstopft wird, der mit jedem Wolkenbruch zäher wird. Außerdem ist Rio in den vergangenen Jahrzehnten unkontrolliert gewachsen, und da Stadtplanung hier immer noch ein Fremdwort ist, werden zu viele Flächen versiegelt und existiert keinen geregelter Wasserablauf.

In den nächsten Stunden verdichteten sich die Nachrichten zum Bild einer kollabierenden Stadt. In der Flut ertranken offenbar zwei Männer, die tot aus Flüssen geborgen wurden. Bus-Passagiere retteten sich auf die Dächer der Fahrzeuge, weil diese zu versinken drohten. Häufig sah man Menschen, die bis zur Brust durch die braune Brühe wateten, einige fuhren mit Paddelbooten durch die Straßen, ein besonders findiger Carioca (so heißen die Bewohner Rios) kurvte mit dem Jetski durch den Stadtteil Botafogo und half vom Wasser bedrohten Nachbarn.

In weiten Teilen der Stadt stand der Busverkehr k0mplett still, eine der beiden Metrolinien (ja, in einer Stadt mit sieben Millionen Einwohnern gibt es nur zwei Metrolinien) wurde ausgesetzt, der Flugverkehr wegen der tief hängenden Wolken eingeschränkt, die zentrale Ein- und Ausfallstraße Avenida Brasil geschlossen und der Gouverneur bat die Menschen zuhause zu bleiben. Das war jedoch nicht allen möglich, weil insbesondere in der armen und vernachlässigten Nordzone das Wasser in viele Häuser eindrang und 4000 Menschen Menschen obdachlos machte.

Andere Gebäude wurden von herabrutschenden Berghängen bedroht. Teilweise brachen unterspülte Straßen ein und verschütteten Autos. In einem dramatischen Video ist zu sehen wie ein mehrstöckiges Haus in der Favela Complexo do Alemão einstürzt und dabei Gas austritt. Wie immer traf es die Armen sehr viel härter als die Reichen.

Als wäre das alles nicht schon genug, nutzen Jugendliche aus den Armenvierteln den Stillstand auf den Zufahrtsstraßen aus, um Lastwagen mit Lebensmitteln und Konsumgütern zu plündern. Die Polizei konnte nur aus dem Hubschrauber zusehen. Woanders wurden festsitzende Autofahrer ausgeraubt. Wegen der Überforderung von Rios Militärpolizei hat Präsidentin Dilma Rousseff nun die Entsendung von zusätzlichen Sicherheitskräften versprochen.

Ebenso symbolisch für den Zustand Rios: Das Maracanã-Stadion, das gerade für umgerechnet eine halbe Milliarde Euro umgebaut worden ist, blieb nicht vom Wasser verschont. Da der WM-Endspielort in einer Senke liegt, außerdem auf einem ehemaligen Sumpfgebiet errichtet wurde, lief sein Erdgeschoss mit den Presseräumen voll. Auch in den Straßen rund um das Stadion ging so gut wie nichts mehr. Rio stand still.

Die Cariocas, für die der Nahverkehr täglich ein kleines Abenteuer darstellt, reagierten außerordentlich gereizt. Die Menschen hier nehmen zwar kleinere Unannehmlichkeiten eher gelassen und routiniert hin, aber wenn das Maß einmal voll ist, dann artikulieren sie ihre Unzufriedenheit lauthals. In der überfüllten U-Bahn und den Bussen schimpften die Menschen auf diese „Scheißstadt“, in der nichts funktioniere und auf die Politiker, die sich nur die eigenen Taschen vollstopften, anstatt sich um das Gemeinwohl zu kümmern. Auch ein mittlerweile geflügelter Satz war häufig zu hören: „Imagina na Copa!“ Es heißt so viel wie: Stell dir mal vor, wie das erst bei der WM wird!

Nun sind, wie Eingangs erwähnt, schwere Tropengewitter in Rio nichts Ungewöhnliches. Dabei kommt es regelmäßig zu Überschwemmungen und Verkehrsproblemen. Der Schriftsteller Lima Barreto notierte schon 1915 in seiner Chronik „Vida urbana“, wie der Sommerregen die Stadt überschwemmt und viele Gebäude zerstört. Er fordert von den Stadtoberen endlich eine Lösung des beschämenden Problems. Doch diese, so klagt er, beschäftigten sich lieber mit dem Herrichten der Stadt, ihren schönen Fassaden, anstatt mit den existenziellen Problemen der Bevölkerung.

Auch daran hat sich bis heute nichts geändert. Rios Bürgermeister Eduardo Paes ist seit 2008 im Amt. Ebenso lang verspricht er Abhilfe für das Überschwemmungsproblem. Die jüngste Katastrophe beweist nun, wie wenig in die öffentliche Infrastruktur des in den kommenden Jahren so wichtigen Orts investiert worden ist. 2012 kündigte etwa der Umweltsenator des Bundesstaats Rio de Janeiro an, zwei Wetterradars für umgerechnet mehr als vier Millionen Euro anzuschaffen, um gefährliche Wetterlagen vorhersagen zu können. Sie sollten dieses Jahr in Betrieb gehen. Geschehen ist nichts.

Nun muss man sich vor Augen halten, dass es in Rio weder einen Tsunami noch einen Hurrikan gegeben hat. Es hat nur stärker und länger als geregnet als üblich – und schon lag die Stadt nach einigen Stunden mit technischem KO am Boden. Imagina na Copa!