Paralympics 2016: Nicht vorbereitet

Eduardo Camara hatte sein Auto gerade auf dem Parkplatz eines Imbiss’ in Rio de Janeiro abgestellt, als es von drei bewaffneten Männern umstellt wurde. Sie forderten ihn auf, auszusteigen.

Sein Einwand, er sei querschnittsgelähmt, brachte sie dazu, ihn aus dem Sitz zu zerren und auf den Boden zu stoßen. Anschließend fuhren sie mit Camaras Auto davon, darin sein Rollstuhl und das speziell für ihn angefertigte handbetriebene Fahrrad. Außerdem die Bronzemedaille, die der 39-jährige kurz zuvor auf einem Wettbewerb für behinderte Radfahrer gewonnen hatte.

Vor 17 Jahren war Eduardo Camara schon einmal Opfer eines Raubüberfalls. Damals traf ihn eine Kugel in die Wirbelsäule und ließ ihn gelähmt zurück.

Die Entwendung von Camaras Transportmitteln ist ein radikales Beispiel, doch verdeutlicht es auf zugespitzte Weise die fehlende Sensibilität der brasilianischen Gesellschaft im Umgang mit Behinderten.

Anfang September 2016 beginnen in Rio de Janeiro die Paralympischen Sommerspiele, bei denen 4350 Athleten aus 160 Ländern antreten werden. Doch weder das Thema Behindertensport noch die fehlende Integration von Behinderten spielen bisher eine Rolle im öffentlichen Diskurs, wie Athleten und Interessenverbände in Brasilien beklagen.
Ausgerechnet der Olympiastadt Rio de Janeiro wird eins der schlechtesten Zeugnisse ausgestellt, wenn es um die Zugänglichkeit öffentlicher Orte, Gebäude und Transportmittel geht. Achtet man einmal darauf, so fallen einem schnell die Hindernisse sowie das Fehlen von Rampen und Orientierungshilfen auf, mit denen Rollstuhlfahrer, Gehbehinderte, Blinde und Taube in dieser Stadt zu kämpfen haben.

Teresa Costa d’Amaral ist Leiterin des Brasilianischen Instituts für die Rechte von Personen mit Behinderungen (IBDD). Sie konstatiert: „In Rio gibt es so gut wie keine behindertengerechten Gebäude, die Stadt ist eine Katastrophe. Dem Rathaus sind die Belange von Behinderten egal. Es ignoriert einfach die Gerichtsurteile zugunsten der Umrüstung der öffentlichen Infrastruktur. Es ist völlig absurd: Die Stadt der Paralympics ist nicht auf Behinderte vorbereitet.“ Zwar habe Brasilien heute die besten Gesetze Lateinamerikas, wenn es um Inklusion gehe, sagt Costa d’Amaral; aber es seien auch diejenigen, am schlechtesten umgesetzt würden.

Fairerweise muss man an anmerken, dass Brasilien entgegen seiner Selbstdarstellung als neuer Global Player immer noch extremen sozialen Widersprüchen und gewalttätigen Konflikten geprägt wird. Vor diesem Hintergrund werden Minderheitenrechte als nachrangig betrachtet. Eher der Ignoranz entsprang allerdings der Kommentar von Rios Tourismusministers vor der Fußball-WM. Er hatte die mangelhafte Erreichbarkeit des Maracanã -Stadions und anderer öffentlicher Orte damit verteidigt, dass Behinderte nicht zum WM-Publikum gehörten – das habe man genau analysiert.
Umso mehr ist also der Mut und die Hartnäckigkeit der brasilianischen Sportler mit Behinderung zu bewundern.

Sabrina Custodia verlor 2010 ihre Hände und einen Unterschenkel bei einem Unfall mit einer Starkstromleitung. Nach den Amputationen entdeckte sie das Laufen dank einer Prothese, die ein behinderter Marathonläufer ihr lieh. Heute ist die 23-Jährige eine der vielversprechendsten Triathletinnen Brasiliens und kämpft mit guten Ergebnissen um die Teilnahme bei den Paralympics 2016.

Sie nennt die Situation behinderter Menschen in Brasilien gegenüber diesem Reporter „prekär“ und beklagt die geringe Sichtbarkeit der Athleten mit Behinderung. „Niemand in Brasilien kennt uns“, sagt sie, „viele Brasilianer wissen nicht, was die Paralympics sind“. Zwar erhalte sie heute in ihrem Heimatort Santos gute Unterstützung über Stiftungen. Doch Behinderte, die erst begännen, Sport zu treiben, würden „Null“ gefördert. „Es gibt keine Anreize, keine Trainer, keine Orte. Insbesondere für Ärmere ist das ein Problem.“

Wilson Zampini ist der Repräsentant in Lateinamerika für einen führenden deutschen Prothesenhersteller. Auch er beklagt, dass der öffentliche Raum in Brasilien behindertenungerecht sei und bedauert die geringe Aufmerksamkeit für das Thema. Doch er glaubt, dass die Spiele nun endlich die Chance eröffneten, mehr Bewusstsein zu schaffen. „Insbesondere weil die brasilianischen Parasportler sehr gut abschneiden werden“, sagt Zampini voraus.

Der Paracyclist Eduardo Camara bekam sein Fahrrad übrigens einige Tage nach dem Überfall in Rio wieder. Die Diebe stellten die umgerechnet 3500 Euro teure Spezialanfertigung gemeinsam mit dem Rollstuhl Camaras in einem Vorort von Rio ab. Der Sportler hatte über Facebook auf seinen Fall aufmerksam gemacht und viel Zuspruch erhalten. Es mag die Diebe bewegt haben. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie keine Verwendung für die Apparate hatten.