Vor dem Windsor Hotel in Rio de Janeiro lieferte sich die Armee Straßenschlachten mit den Demonstranten, drinnen drängelten sich die Journalisten, um von einer der wichtigsten Entscheidungen für die Zukunft Brasilien zu erfahren.
Wer darf das gigantische Ölfeld „Libra“ im Atlantik ausbeuten, mit dem Brasilien zur Öl-Supermacht wird? Mit rauer Stimme verkündete die sichtlich erschöpfte Magda Chambriard, Chefin der staatlichen Ölagentur ANP, das Ergebnis. Der Zuschlag geht an ein ungewöhnliches Konsortium: Jeweils 20 Prozent halten die privaten Ölkonzerne Shell (englisch-niederländisch) und Total (französisch), jeweils zehn Prozent die beiden staatlichen chinesischen Unternehmen CNPC und CNOOC sowie die halbstaatliche brasilianische Petrobras. Letztere bekommt zusätzlich 30 Prozent der Ausbeutungsrechte, wie schon zuvor obligatorisch festgelegt worden war.
Eigentlich wollten die Brasilianer das 2007 entdeckte Ölfeld versteigern – sie rechneten mit insgesamt 40 Interessenten. Doch am Ende lag nur ein einziger Umschlag im Bewerbungskasten. Weder die US-Ölgiganten Exxon Mobil, Chevron noch die BP hatten Interesse angemeldet, zuletzt waren noch die spanische Repsol abgesprungen – ebenso wie je ein indisches, kolumbianisches, malaysisches und japanisches Unternehmen. Es mag am engen Handlungsspielraum und der Zwangsheirat mit Petrobras gelegen haben: Das Gewinnerkonsortium muss bei Vertragsabschluss fünf Milliarden Euro an den Staat zahlen und diesem 41,65 Prozent der Fördermenge überlassen. Zudem wird es eine extra gegründete Aufsichtsbehörde geben.
Die engen Leitplanken weisen auf die große strategische Bedeutung hin, die „Libra“ für Brasilien hat. Es liegt 183 Kilometer vor der Küste des Bundesstaats Rio de Janeiro und ist mit 1500 Quadratkilometern eins der größten Ölfelder, die in den letzten 20 Jahren weltweit entdeckt wurden. Experten beziffern sein Reservoir auf bis zu zwölf Milliarden Barrel (je 159 Liter). Damit würde es die brasilianischen Ölreserven von derzeit 15,3 Milliarden Barrel fast verdoppeln. Außerdem soll „Libra“ 120 Milliarden Kubikmeter Erdgas enthalten.
Doch „Libra“ ist kein Einzelfall. Es zählt zu einer ganzen Reihe von Ölfeldern, die sich vor Brasiliens südlicher Atlantikküste in einer Tiefe von sechs Kilometern unter einer dicken Salzschicht entlangziehen. In Brasilien werden diese Vorkommen daher als „Pré-Sal“ bezeichnet – „vor dem Salz“. Bis zu 100 Milliarden Barrel Öl werden dort vermutet. Weil „Libra“ nicht nur das größte, sondern auch das erste ausgeschriebene Ölfeld aus dem „Pré-Sal“ ist, kam der Versteigerung am späten Montagnachmittag Modellcharakter zu.
Brasiliens nationalistische Linke und die Ölarbeitergewerkschaft FUP forderten daher, dass die Petrobras das „Libra“-Öl alleine fördern solle. Aus Protest gegen die ausländische Beteiligung (und um die Forderung nach höheren Löhnen zu unterstreichen) bestreikt die FUP zurzeit zahlreiche Förderplattformen. Vor dem Versteigerungsort im Reichenviertel Barra da Tijuca protestierte sie unter dem Petrobras-Gründungsslogan „O petróleo é nosso!“ – „Das Öl ist unser!“ Er wurde in den vierziger Jahren von den Befürwortern einer Nationalisierung der brasilianischen Ölvorkommen verwendet. Sie setzen sich damals im Streit mit den Verfechtern ausländischer Investitionen durch, was 1953 zur Gründung der Petrobras führte, heute einer der zehn größten Konzerne der Welt – und ein starrer Gigant.
Trotz seiner Ölreserven hat Brasilien nur 16 jahrzehntealte Raffinerien. Für 2016 ist zwar die Eröffnung zweier neuer Raffinerien geplant, doch Investitionen werden abgeschreckt, weil der Benzinpreis staatlich festgeschrieben ist (der Liter kostet in Rio de Janeiro zurzeit weniger als einen Euro). Er ist auch Schuld daran, dass die Petrobras im Benzingeschäft stark defizitär arbeitet – wenn sie auch sonst im Erdölgeschäft Gewinne erzielt.
Nun weisen Kritiker der Versteigerung auf die ihrer Ansicht nach gefährliche Beteiligung der Chinesen am brasilianischen Öl hin, von deren Rohstoffhunger Lateinamerika bereits jetzt stark abhängig ist. China ist nach den USA der größte Erdölkonsument der Welt und kauft täglich 5,5 Millionen Barrel zu, um seine Wirtschaft am Laufen zu halten. Die chinesische Regierung drängt die staatlichen Unternehmen daher zur Akquise im Ausland.
Experten bezweifeln allerdings, dass die Petrobras die Ölfelder im „Pré-Sal“ überhaupt ohne Hilfe von Außen fördern könnte. Die Chefin der Ölagentur ANP, Chambriard, bezifferte die notwendigen Investitionen am Montag allein für das „Libra“-Feld auf umgerechnet 35 Milliarden Euro. Zwölf bis 18 Plattformen müssten im Meer installiert werden, die von 60 bis 90 Schiffen unterstützt würden.
Die Einnahmen, die der brasilianische Staat während der Ausbeutungsphase von 35 Jahre erwartet, belaufen sich auf eine Billiarde Reais, umgerechnet mehr als 300 Milliarden Euro. Von einer „Eintrittskarte zur Zukunft“ sprach Präsidentin Dilma Rousseff und versprach, einen Großteil des Geldes ins marode Bildungssystem zu stecken. Nach der Versteigerung erwiderte sie per Fernsehansprache den Kritikern: „85 Prozent der Gewinne werden uns gehören. Das hat nichts mit Privatisierung zu tun.“
Mit seinen neuen Ölfeldern ist Brasilien nun über Jahrzehnte hinweg unabhängig von Importen. Einen Notfallplan für Unfälle und eine mögliche Ölpest hat das Land nicht. Seinen Kohlendioxid-Ausstoß würde es durch die Nutzung der Reserven mehr als verdoppeln.