Die Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg waren auch in Lateinamerika von Aufbruchsstimmung und Fortschrittsglauben geprägt. Wirtschaft, Wohlstand und Mobilität wuchsen und man glaubte, dass man soziale Fragen mit technischen Lösungen beantworten könnte.
Auch die Architekten der Zeit war voller Selbstvertrauen und inspiriert von den neuen Möglichkeiten, die ihnen Stahl, Glas und bewehrter Beton boten. Es entstanden außerordentliche Bauten, insbesondere in zwei Ländern der Region: Brasilien und Mexiko. Beispielhaft manifestierte sich der Geist dieser lateinamerikanischen Moderne im durchgeplanten und symbolisch aufgeladenen Brasília sowie in einer Vielzahl öffentlicher Bauten, Wohnhäuser und Fabrikgebäude, die in Mexiko entstanden, insbesondere in Mexiko-City und Guadalajara, der zweitgrößten Stadt des Landes.
Sachlich, funktional und immer auch von sich selbst eingenommen war diese mexikanische Moderne. Meist fehlte ihr dabei jedoch auch die organische Einbindung in ihre Umgebung. Enorme Büro- und Bibliothekstürme wurden beispielsweise inmitten eher bescheidener Viertel mit flacher Bebauung hochgezogen. So blieben sie Solitäre, Repräsentanten der sozialistischen Idee, dass sozialer Fortschritt baubar sei. In Mexiko waren sie auch ein Ausdruck der Ideologie der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), die Mexiko seit den 1920ern beherrschte, und die in den Fünfzigerjahren die Industrialisierung des Landes ebenso vorantrieb wie die Schaffung zahlreicher staatlicher Institutionen.
Aus architekturgeschichtlicher Sicht mögen viele Gebäude aus dieser Zeit also zwar wertvoll sein; dennoch gelten sie heute als grandios gescheitert. Einfacher ausgedrückt: Sie haben häufig ihren Nutzen verloren, es herrscht gähnender Leerstand, und oft ist ihre Umgebung dadurch unsicher geworden. Par excellence zu beobachten ist dieses Scheitern der Moderne in Guadalajara, wo nach dem Zweiten Weltkrieg 40 Prozent des architektonischen Erbes modernen Bauten sowie breiten Straßen und Plätzen weichen musste. Die Siemens-Stiftung wählte daher die Stadt im vom Drogenkrieg beherrschten Bundesstaat Jalisco in diesem Jahr als Schauplatz für ihr ambitioniertes Kunstprojekt „Changing Places“.
Seit 2014 findet es alle zwei Jahre in verschiedenen Städten Lateinamerikas statt und hat sich seitdem den Ruf erworben, das Nachdenken über die Stadt als kollektiver Raum in Lateinamerika enorm zu bereichern. Vor allem junge Künstler aus den Bereichen Installation, Theater und Performance der gesamten Region werden zu dem Festival eingeladen. Ihre Aufgabe: die künstlerische Nutzbarmachung verloren geglaubter Orte. „Wir wollen die Geschichte dieser unsichtbar gewordenen Gebäude und Plätze deutlich machen und sie in den Vordergrund holen“, sagt einer der vier Kuratoren der Reihe in Guadalajara, Jochen Gerstmeier. „Die Künstler nehmen eine Neubewertung vor, die im besten Fall einen gesellschaftlichen Dialog auslöst.“
In Guadalajara fand das Projekt nun im März zu einer Zeit statt, da das Neue Coronavirus gerade erst in Mexiko aufgetaucht war und deswegen ähnlich wie in Deutschland zu Beginn der Covid-19-Krise noch relative Unbekümmertheit herrschte. Und so thematisierte man hier im öffentlichen Raum die Idee von Stadt in Lateinamerika während sich die Menschen in Europa aus eben diesem in die eigenen vier Wände zurückzogen.
Den beeindruckendsten Arbeiten des Festivals gelang es dabei immer, neue Zusammenhänge zwischen einem Gebäude, seinem städtischen Umfeld, den Menschen, die hier einst arbeiteten und den Besuchern herzustellen. Die sicherlich bemerkenswerteste Arbeit in dieser Hinsicht stammte von der Mexikanerin Laura Uribe, die den alten Bibliotheksturm des Bundesstaats Jalisco bespielte, ein schlank aufragendes fensterloses Gebäude aus den Fünfzigerjahren, das Anfang der Nullerjahre wegen angeblicher Instabilität aufgegeben wurde und heute komplett ungenutzt in Guadalajaras Zentrum steht, während sich im unbeleuchteten Umfeld eine gewisse Unsicherheit breitgemacht hat und viele Obdachlose leben. 2012 wurde für viel Geld eine neue Bibliothek am Stadtrand gebaut, wobei es wie so häufig in Lateinamerikas Städten sicher auch um die Befriedigung von Interessengruppen ging, die eng mit der Politik verbandelt sind, etwa die Bau- und Immobilienwirtschaft.
Laura Uribe fand nun zwölf ältere Frauen, die einst in der Bibliothek gearbeitet hatten, und entwickelte mit ihnen die tief gehende Performance „Archivo Vivo“ (Lebendes Archiv) im zentralen Bibliothekssaal. Unter der weit gewölbten Decke mit einer der typischen monumentalen Wandmalereien Mexikos präsentierten die Frauen die Gegenstände ihres Lebens und man konnte mit Kopfhörern ausgestattet ihren selbst gesprochenen Lebensläufen folgen.
In diesen ging es häufig um die Träume, die sie noch als junge Frauen hatten und wie sie dann meist von ihren Vätern, Lehrern, Brüdern oder Chefs in das Korsett einer machistischen Gesellschaft gezwungen wurden. Nicht selten spielte dabei auch Missbrauch eine Rolle. Man hörte bewegende Stories einfacher Mexikanerinnen, die sich sozusagen zu einem Sammelband zusammenfügten während die Frauen vor einem frei tanzten, kochten, lasen, schrieben oder sich schminkten. Es entstand also tatsächlich eine Art lebendige Enzyklopädie in einer Bibliothek ohne Bücher.
Am Ende der berührenden Performance räumten die Frauen die Dinge ihres Lebens zurück in die alten Karteikästen der Bibliothek und kamen in der Mitte des Saals zusammen, reckten die Fäuste im Widerstand gegen das Deckengemälde, auf dem einzig Männer verewigt wurden. Uribe gelang es, eine unmittelbare Verbindung herzustellen zwischen dem Raum und den Menschen, die in ihm einen Großteil ihres Lebens arbeitend verbracht hatten. Es gelang ihr damit auch etwas, was die Architekten der Nachkriegsmoderne in Lateinamerika so oft vergaßen: den Mensch in ihre Theorien vom zweckorientierten und sachlichen Bauen miteinzubeziehen.
Ganz ähnlich wirkte die Arbeit des brasilianischen Künstlerkollektivs Hiato, die in einem leerstehenden Fabrikgebäude ein halbes Dutzend Arbeiter samt ihrer Maschinen aus der einst größten Schuhmanufaktur Lateinamerikas versammelten. 18.000 Menschen arbeiteten bis zum Jahr 2000 in der Fabrik Canada – sie belieferte ganz Amerika – bevor sie als Folge des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens Nafta geschlossen wurde.
Zwar steht die Schuhfabrik seitdem im Zentrum von Guadalajara leer, aber die Besitzer verboten eine Aufführung in ihren Hallen, weswegen die Künstler die ehemalige Textilfabrik Juárez für ihre Theater-Performance wählten, die ebenfalls leersteht. Die fünf alten Arbeiter in blauen Kitteln, die nun wie auf einer Bühne in der Mitte der lichten Halle werkeln und Cumbia hören, während die Besucher sich um sie herumbewegen, spielen in gewisser Weise ihre alten Tätigkeiten. Sie haben ihre Fertigkeiten nicht verlernt und sind stolz auf ihre Produkte, sagen, dass heute nicht mehr die Qualität produziert würde, die sie einst erzielten. „Die Latschen aus China taugen nichts“, behauptet einer. Die Schuhe, die in der Performance hergestellt werden, gehen nach dem Kunstprojekt an Obdachlose.
Es ist dem „Changing Places“-Festival, das auch unter Mitwirken des Goethe-Instituts entsteht, enorm wichtig, dass die Kunst diese Beziehung zwischen einem Ort, seiner Geschichte und seiner Außenwelt herstellt. Man wolle der Stadt die verlassenen Gebäude wiedergeben, sagt der mexikanische Kurator Aristeo Mora. „Und wir sehen“, sagt er, „wie die Menschen aufgrund der künstlerischen Durchbrechung des Alltags ihren Blick auf die Gebäude und die Räume, die sie umgeben, ändern.“
Die junge chilenische Künstlergruppe La Laura Palmer führt exemplarisch vor, wie dieser Transformationsprozess gelingen kann. Sie hat in dem vom Drogenkrieg betroffenen Armenviertel Analco einen anderthalbstündige Rundgang organisiert. Er führt zu den Orten, an denen 1992 auf einer Strecke von acht Kilometern mehrere fulminante Gasexplosionen stattfanden, die Hunderte Menschen töteten und Tausende Häuser zerstörten oder beschädigten. Der Grund für die Katastrophe war kriminelle Fahrlässigkeit des Unternehmens Pemex sowie des Staats. Ihnen war Analco, in dem viele Indigene lebten, einfach egal. An jeder Station wartet nun ein Mensch, der die Explosionen erlebte und überlebte. Und er berichtet, wie es seitdem weiterging und füllte so die Leerstelle im Stadtbild mit Ausschnitten aus einem Menschenleben.
Man hatte die Künstler zwar gewarnt, dass ihr Performance-Theater im Stadtteil Analco nicht möglich sein würde, weil zu gefährlich. Aber es gab dann keinerlei Probleme. Die Bewohner kamen, neugierig und durstig, sich mitzuteilen. Die Kunst befriedete und reaktivierte also den einst zerstörten Raum und schuf die Möglichkeit, Menschen zu Wort kommen zu lassen, die sonst ungehört bleiben. Sie gab es in Guadalajara keine Antworten darauf, was mit der gescheiterten Moderne zu tun sei, aber das Festival stellte Fragen, die man über der Gewohnheit an den Leerstand längst vergessen hatte.