Der Jet des brasilianischen Präsidentschaftskandidaten Eduardo Campos war gerade in der Hafenstadt Santos abgestürzt, da präsentierte seine Vize-Kandidatin schon den Grund, warum sie nicht mit an Bord gewesen sei. „Göttliche Vorsehung“, sagte Marina Silva, die schon während die Trümmer noch rauchten als Campos’ Nachfolgerin gehandelt wurde.
Foto: Von José Cruz/ABr – www.agenciabrasil.gov.br/media/imagens/2007/04/26/1926JC055.jpg/view, CC BY 3.0 br, www.commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5980876
Tatsächlich hatte Silva die Einladung zu dem Flug nach Santos ausgeschlagen, weil sie dort nicht mit dem Gouverneur von São Paulo zusammentreffen wollte, wie es in Campos’ Agenda vorgesehen war. Ihre Erklärung verlieh ihrer Kampagne nun jedoch etwas Messianisches: Gott hatte die 56-Jährige Politikerin gerettet.
Wenige Tage später hob Campos’ kleine Sozialistische Partei Brasiliens (PSB) Marina Silva als neue Spitzenkandidatin aufs Schild – und mischte damit den brasilianischen Präsidentschaftswahlkampf erheblich auf. Laut jüngsten Umfragen erhielte Silva im ersten Wahlgang am 5. Oktober etwa genauso viele Stimmen wie Amtsinhaberin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT. Im entscheidenden zweiten Wahlgang würde sie Rousseff dann sensationell schlagen. Die PT wäre nach zwölf Jahren aus dem Präsidentenpalast Planalto heraus.
Das Phänomen Silva beschäftigt nun die Brasilianer, die in ihrer Mehrheit einen Wandel des politischen Systems wollen, das zu Recht als korrupt und ineffektiv gilt. Obwohl seit Jahren selbst Teil des Betriebs, gelingt es Silva in dieser Situation, sich als Anti-Politikerin darzustellen. Sie wolle eine „neue Politik“ machen, lautet ihr Wahlkampfmotto.
In Europa wird Maria Osmarina Silva de Souza oft mit dem Label Umweltschützerin versehen. Sie wurde im abgelegenen Amazonas-Staat Acre als eins von elf Kindern in eine arme Familie von Kautschukzapfern hineingeboren. Analphabetin bis zum 16. Lebensjahr, studierte sie Geschichte, wurde Lehrerin, gründete eine Gewerkschaft und kämpfte mit dem später ermordeten Aktivisten Chico Mendes für den Schutz des Amazonaswaldes.
2003 machte Präsident Lula, dessen Arbeiterpartei Silva angehörte, zur Umweltministerin. Fünf Jahre später schied Silva im Clinch aus Regierung und Partei aus, weil Lula ein quasi-sowjetisches Entwicklungsmodell verfolgte: Massenexport von Gen-Soja und Eisenerz sowie Megaprojekte ohne Rücksicht auf Umweltfragen. Bestes Beispiel: Belo Monte, der drittgrößte Staudamm der Welt am Amazonaszufluss Rio Xingu.
Was bei der Berichterstattung über Silva oft untergeht: Sie gehört seit 1997 der Assembleia de Deus an, der Versammlung Gottes, eine der ältesten Pfingstkirchen Brasiliens und mit zwölf Millionen Gläubigen die größte. Wie überall in Lateinamerika verzeichnen die Pfingstkirchen auch in Brasilien seit den achtziger Jahren starken Zulauf, insbesondere aus ärmeren und ungebildeten Schichten. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl ihrer Mitglieder mehr als verdoppelt.
Der Erfolg basiert auf einer Theologie des Ergebnisses. Wunder finden nicht nur in der Bibel statt, sondern jeden Tag. Viele Pfingstkirchen treten mit dem Versprechen an, dass der Glaube den sprichwörtlichen Berg versetze: Gott heilt Krankheiten, er verhilft zu Job und Geld. Dementsprechend positiv wird der große Reichtum der evangelikalen Bischöfe bewertet. Die steuerbefreiten Kirchen verlangen von ihren Gläubigen völlig ungeniert den Zehnten; im Gegenzug gibt es die direkte Beziehung zu Jesus. Die Gläubigen umarmen sich im Gottesdienst und der Pastor ruft: „Es ist Jesus, der euch drückt.“
Laut aktuellem Zensus definieren sich 42,2 Millionen der 202 Millionen Brasilianer als evangelikal. Sie machen damit nicht nur einen erheblichen Teil der Wählerschaft aus – rund 20 Prozent –, sondern treten seit den achtziger Jahren auch immer öfter selbst zu Wahlen an. 68 von 513 Abgeordneten im Parlament sowie drei von 81 Senatoren gehören heute der Frente Parlamentar Evangélica an, der Evangelikalen Parlamentsfront. Sie stellt den zweitgrößten parteiübergreifenden Interessenblock in Brasilia – nur noch übertroffen von der Bancada Ruralista, dem Block der Agrarindustrie.
Diesen kongressinternen Lobbygruppen kommt große Bedeutung zu, weil sie in der instabilen Parteienlandschaft Brasiliens – im Parlament sind 23 Parteien vertreten, die aktuelle Regierungskoaliton besteht aus zehn – als Mehrheitsbeschaffer dienen. Außerdem sind sie in der Lage, außerparlamentarischen Druck zu erzeugen, im Falle der Evangelikalen etwa über Gottesdienste sowie eigene Radio- und Fernsehsender. Wie das Institut für Studien der Religion (Iser) 2013 festgestellt hat, bestimmten die Evangelikalen gerade in den Peripherien der Städte den Diskurs, weil andere Akteure wie Gewerkschaften, soziale Bewegungen und NGOs abwesend seien: „Sie prägen die politische Kultur.“
Charakteristisch für die Evangelikalen sind extrem konservative Positionen in gesellschaftspolitischen Fragen. Sie lehnen die Homosexuellen-Ehe ebenso ab wie die Legalisierung der Abtreibung. Demgegenüber wird etwa die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts für Jugendliche befürwortet. Außerdem behindern die Evangelikalen progressive Gesetzesvorhaben, etwa zur Aids-Prävention oder zur Kriminalisierung der Homophobie. Ihr Einfluss wurde 2013 offenbar, als sie den Pastor Marco Feliciano ausgerechnet als Vorsitzenden des Menschenrechtsausschusses installierten. Feliciano war berüchtigt für seine homophoben, rassistischen und frauenfeindlichen Äußerungen.
Auch außerhalb des Kongresses zeigen die Evangelikalen gerne ihre Macht. Erst vor wenigen Wochen weihte die Universalkirche vom Reich Gottes den gigantomanischen Salomon-Tempel mit mehr als 10.000 Sitzplätzen in São Paulo ein. Zur Feier erschien Staatsoberhaupt Dilma Rousseff, die in Bischof Edir Macedo, dem steinreichen Gründer der Kirche, einen ihrer wichtigsten Verbündeten sieht.
An einem Freitagmorgen findet einer der ersten Gottesdienste in dem 230 Millionen Euro teuren Bau statt. Die rund 3000 Gläubigen werden aufgefordert, für ihre Wünsche und Gebete zu zahlen. Dann treten einige vor und legen Zeugnis von den Wundern ab, die ihnen widerfahren seien. Einer berichtet, wie er vom Alkohol losgekommen sei. Eine Frau erzählt vom Verschwinden ihrer Krampfadern. Um Politik geht es nicht. Aber auf dem riesigen Platz vor dem Tempel sagen die Menschen nach dem Gottesdienst, dass sie selbstverständlich evangelikale Kandidaten unterstützten.
Würde nun Marina Silva brasilianische Präsidentin, hätte der Marsch der Evangelikalen durch die Institutionen einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.
Dabei wäre es falsch, Silva einzig durch die religiöse Brille zu betrachten – ebenso wie man sie nicht ins übliche Rechts-Links-Schema einordnen kann. In ihrem Wahlprogramm hat Silva für jeden etwas zu bieten. Sie verspricht politische Reformen und umwirbt die jungen Brasilianer, die letztes Jahr auf die Straße gingen. Bei den Konservativen wildert sie mit einem liberalen Wirtschaftsprogramm. Wenn sie die Erfolge der PT in der Armutsbekämpfung lobt, schmeichelt sie deren Wählern im ärmeren Nordosten. Gleichzeitig bietet sie sich rechtskonservativen PT-Hassern im reichen Südosten an, verspricht den drastischen Staatsabbau.
Auch in gesellschaftspolitischen Fragen eiert Silva herum. Sie versucht die evangelikalen Wähler zufrieden zu stellen – und modern denkende Brasilianer nicht zu verprellen. Im Zweifel optiert sie für die ersteren. In ihrem Wahlprogramm befürwortete sie zunächst die Schwulen-Ehe, zog aber nach heftiger Kritik von evangelikalen Führern wieder zurück. Der einflussreiche Pastor Silas Malafaia hatte Silvas Position per Twitter als „moralischen Müll“ bezeichnet. Nun unterstützt Silva die ohnehin existierende Zivilunion.
Ebenso widerrief sie kurzfristig ihre Unterstützung für ein Gesetz zur Bestrafung von Homophobie ähnlich des Rassismus. Aus Silvas Wahlprogramm gestrichen wurden weiterhin das uneingeschränkte Adoptionsrecht für homosexuelle Paare sowie die schulische Aufklärung über Sex und Gender. Der schwule Abgeordnete Jean Wyllys nannte Silvas Schwenk einen „Wahlbetrug schon vor der Wahl“.
Tatsächlich gibt Marina Silva eine ideale Projektionsfläche für alle Brasilianer ab, die einen Wandel möchten, ohne genau zu wissen, wie dieser aussehen soll. Allerdings überschätzen sie dabei die Position des Präsidenten, dessen Spielraum vom Kongress mit seinen unzähligen Partikularinteressen zerrieben wird. Auch Marina Silva wird bei den Ränkespielen in Brasilia mittun müssen. Es ist zu befürchten, dass sie sich dann allzu oft mit den rückwärtsgewandten Evangelikalen verbünden wird.