Es ist ein historischer Einschnitt in der Geschichte Brasiliens. Seine Tragweite ist noch nicht abzusehen. Inácio Lula da Silva, populäres Staatsoberhaupt zwischen 2003 und 2011, wird wegen Korruption ins Gefängnis müssen.
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Am Mittwoch lehnte der Oberste Gerichtshof in der Hauptstadt Brasília nach elfstündiger Debatte seinen Antrag auf Haftaufschub mit 6 zu 5 Stimmen ab. In einem Grundsatzurteil entschied das Gericht, dass ein Haftantritt schon nach einer Verurteilung in zweiter Instanz möglich ist.
Bereits im Januar war Lula in zweiter Instanz wegen Korruption und Geldwäsche zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Er soll in seiner Amtszeit von dem Baukonzern OAS eine Maisonettewohnung erhalten und der Firma im Gegenzug Aufträge beim Erdölkonzern Petrobras besorgt haben. Nun liegt es an dem umstrittenen Richter Sérgio Moro, den Beginn der Haft anzuordnen. Es gilt nur als eine Frage der Zeit, bis er dies tut.
Mit Lula wird erstmals ein ehemaliger Präsident des wichtigsten Landes Lateinamerikas ins Gefängnis müssen. Die Brisanz des Urteils liegt darin, dass Lula nicht irgendein Politiker ist, sondern fast schon eine mythische Figur. Von seinen Anhängern wird er tief verehrt, von seinen Gegnern noch tiefer gehasst. Eine vernünftige Diskussion über die historische Rolle Lulas, der Brasilien in seiner Amtszeit veränderte wie kaum ein Präsident vor ihm, ist schon seit einigen Jahren nicht mehr möglich. So demonstrierten Tausende vor dem Urteil in verschiedenen Städten Brasiliens für und wider den 72-Jährigen.
Die Spaltung des Landes entlang sozialer und ethnischer Linien ist dabei offensichtlich. Zwei Erzählungen prallen aufeinander. Für Lulas Feinde aus der zumeist weißen Oberschicht Brasiliens ist der Ex-Präsident ein „Dieb“, der Brasilien in eine „kommunistische Diktatur“ verwandeln wollte. Sie schrecken auch vor Gewalt nicht mehr zurück. Als Lula vor wenigen Tagen auf einer Kampagne durch den Süden des Landes reiste, wurde seine Karawane mehrfach angegriffen, sogar Schüsse wurden auf sie abgefeuert.
Lulas Fans sind hingegen unter städtischen Intellektuellen, Gewerkschaftlern und der zumeist dunkelhäutigen Unterschicht zu finden. Sie sprechen von einem „politischen Prozess“. Für sie ist das Urteil die Fortsetzung des Rollbacks konservativer Kräfte, der mit der Absetzung der demokratisch gewählten Präsidentin Dilma Rousseff 2016 begann. Tatsächlich setzt ihr umstrittener Nachfolger Michel Temer seitdem eine neo-liberale Agenda um, die den Abbau von Arbeitnehmerrechten, von Umwelt- und Minderheitenschutz sowie die Privatisierungen staatlicher Unternehmen beinhaltet.
Kurz vor dem Urteil gegen Lula wurde die Stimmung zusätzlich vom obersten Kommandanten der brasilianischen Armee, Eduardo Villas Boas, angeheizt. Der General hatte über Twitter mitgeteilt, dass das Militär „die Sorgen der rechtschaffenen Bürger“ teile und Straffreiheit ablehne. Der Tweet wurde als indirekte Androhung eines Militärputsches verstanden, falls der Oberste Gerichtshof Lula einen weiteren Haftaufschub gewähren sollte. In den sozialen Netzwerken bekam Villas Boas größtenteils Zuspruch. Von Politikern und auch vom Obersten Gerichtshof wurden die Aussagen teils scharf gerügt.
Mit seiner Verurteilung ist auch Lula da Silvas Absicht zunichte gemacht, noch einmal Präsident Brasiliens zu werden. Er wollte zu den Wahlen im Oktober antreten und lag in allen Umfragen mit großen Vorsprung vorne. Auf Kundgebungen bezeichnete er sich deswegen immer wieder als Opfer eines Komplotts. Die Oberschicht könne es nicht ertragen, dass ein einfacher Metallarbeiter mit neun Fingern und fehlerhaftem Portugiesisch noch einmal Präsident werde. Während seiner Amtszeit hatte Lula mit Sozialprogrammen und der Schaffung zahlreicher Hochschulen vielen Menschen die Möglichkeit gegeben, der Armut zu entkommen.
Gleichzeitig blühte die traditionelle Korruption auf, die nicht nur Lulas Arbeiterpartei (PT) betraf und betrifft, sondern das gesamte politische System Brasiliens verseucht hat. Das haben die umfangreichen Korruptionsermittlungen im seit 2014 andauernden Lava Jato-Prozess deutlich gemacht, denen nun auch Lula zum Opfer gefallen ist.
Besonnene Beobachter sehen in dem Urteil des Obersten Gerichtshofs deswegen ungeachtet der Person Lulas eine Chance, endlich die epidemische Straffreiheit in Brasilien zu beenden. Bislang konnten wohlhabende Brasilianer sich dank guter Anwälte teils jahrelang durch die verschiedenen Instanzen klagen ohne jemals ins Gefängnis zu müssen. Das ging so lange, bis Taten verjährt waren. Sofort ins Gefängnis wanderten hingegen die Armen ohne Mittel, sich zu verteidigen.
Ob das Urteil gegen Lula tatsächlich diese Wirkung entfalten wird, muss abgewartet werden. Lula selbst behauptet hartnäckig, dass er unschuldig sei. Er fordert, dass einzig die Bevölkerung über ihn, den „Sohn Brasiliens, der vor keinem Kampf flieht“, urteilen könne.