Kulturkampf an der Copacabana

Kulturkampf an der Copacabana

Immer wenn die Gruppe „Samba que Elas Querem“ in Rio de Janeiro auftritt, gibt es diesen Gänsehautmoment. Die Sängerin der nur aus Frauen bestehenden Band erhebt sich und ruft mit erhobener Faust: „Marielle!“ Das Publikum antwortet wie aus einer Kehle: „Presente! Heute und immer!“

Die Hommage gilt der schwarzen Lokalpolitikerin Marielle Franco von der kleinen Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL). Die 38-Jährige wurde vergangenes Jahr in Rio von einem Killerkommando mit mehreren Kopfschüssen getötet. Der Mord ist bis heute nicht aufgeklärt, der Staat lässt sich auffällig viel Zeit. Aber es gilt als ausgemacht, dass rechtsgerichtete Milizen aus ehemaligen Polizisten dahinter stecken, deren Geschäften Franco gefährlich wurde. Es ist mittlerweile auch klar, dass Flávio Bolsonaro enge Verbindungen zu diesen Milizen hat. Er ist der älteste Sohn des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro und sitzt als Senator im Kongress.

Wenn Franco gedacht wird, ist es also auch ein Protest gegen Jair Bolsonaro und alles wofür sein rechtsextremer Clan steht, zu dem neben Flávio zwei weitere Politiker-Söhne gehören. Oft stimmt das Publikum auch noch spontan in einen Chorus ein: „Ele não, ele nunca!“ – „Er nicht, er niemals!“ Gemeint ist der Präsident. Wobei dem Ruf etwas ziemlich Vergebliches anhaftet.

Denn Jair Bolsonaro regiert seit dem 1. Januar das größte und mächtigste Land Lateinamerikas. Rund zwei Drittel der Brasilianer erwarten laut Umfragen, dass seine Präsidentschaft „gut“ oder „sehr gut“ wird. Die Wahrnehmung klafft also enorm auseinander.

Die meisten Künstler Brasiliens stellten sich schon im Wahlkampf gegen Bolsonaro, darunter die international bekanntesten Musiker des Landes, Gilberto Gil, Caetano Veloso und Chico Buarque. Es ist keine Überraschung: Als junge Männer waren sie im Widerstand gegen Brasiliens Militärdiktatur, die von Bolsonaro bei jeder Gelegenheit verteidigt wird. Gemeinsam mit 300 Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern unterzeichneten sie das Manifest „Demokratie, Ja“. Bolsonaro sei eine „Gefahr für das zivilisatorische Erbe Brasiliens“ hieß es darin, man müsse die Toleranz verteidigen.

Die Mehrheit der Wähler beeindruckte das Manifest ebenso wenig wie Bolsonaros gewalttätige Äußerungen: Homosexuelle? – Müsse man schlagen! Linke?– Füsilieren! Drogendealer? – Sofort erschießen! Künstler wiederum bezeichnete er als „vagabundos“, als Schmarotzer, die nur Fördergelder absahnten, um ihren Schund zu produzieren. Über sein Lieblingsmedium Twitter verkündete Bolsonaro: „Die Kulturförderung wird erhalten bleiben – aber für talentierte Künstler.“

Er meinte eins der wichtigsten Instrumente der hiesigen Kulturförderung: Firmen oder Privatpersonen, die die Kulturinstitutionen oder Produktionen unterstützen, können ihre Gelder steuerlich absetzen. Für manche Museen oder Theater ist diese Förderung überlebenswichtig. Allerdings liegt die Entscheidung über die steuerliche Absetzbarkeit beim Bund in Brasília. Sollten dort nun politische Kriterien eingeführt werden, wäre dies ein wirksames Mittel, um unliebsame Künstler und Institutionen auszuschalten.

Dass es dazu nicht unbedingt der Mittelkürzung bedarf, erfuhr der Performancekünstler Wagner Schwartz. Er war eins ersten Opfer des Rechtsrucks Brasiliens. Im September eröffnete er mit der Performance „La Bête“ das 35. Panorama Brasilianischer Kunst in São Paulo. Die Performance, die Schwartz bereits seit 2005 zeigte, bezieht sich auf ein Werk von Lygia Clark, eine der wichtigsten Künstlerinnen Brasiliens. Schwartz liegt dabei nackt auf dem Boden, und das Publikum kann seine Körper in beliebige Posen rücken. Es war sein Pech, dass am nächsten Tag ein kurzer Mitschnitt der Performance in den sozialen Netzwerken landete. Darauf war eine Mutter mit ihrer Tochter zu sehen, die Schwartz’ Füße berührt. Es brach ein reaktionärer Shitstorm los, Schwartz wurde der Pädophilie beschuldigt und mit dem Tod bedroht. Weil er um sein Leben fürchtete, zog er nach Paris. Er sagt: „Ich wurde im Netz getötet, als ob ich ein Zombie wäre”.

Es war kein Einzelfall. Etwa zeitgleich verhinderten rechte Gruppen in Porto Alegre die Ausstellung „Queermuseum – Kartographien des Unterschiedes in der brasilianischen Kunst“. Sie sollte im Kulturzentrum der Santander-Bank gezeigt werden. Deren Chefs ließen sich jedoch von Protesten und Boykottaufrufen gegen die Bank einschüchtern. Es hieß, die Ausstellung, sei eine Aufforderung zu Pädophilie und Sodomie.

Brasilien, das man in Europa gerne als tolerantes Land sieht, ist stark nach rechts gerückt. Jair Bolsonaro ist Ausdruck und zugleich Katalysator dieser Entwicklung. Dabei war Brasilien war nie nur Rio, Samba und Strand. Im riesigen Hinterland ist Rodeo Volkssport und man hört die Country-Musik Sertanejo, deren ausnahmslos weiße Künstler mit Cowboyhut und Stiefeln auftreten. Sie stehen für das Brasilien Bolsonaros, das man unter drei großen B zusammenfasst: Bala, Boi, Bíblia (Kugeln, Rinder, Bibel). Bolsonaros Wahlslogan lautete: „Brasilien über alles! Gott über allen!“ Dass keine Steuergelder mehr für Rios dekadenten Karneval ausgegeben werden sollte, hört man nun von seinen Anhängern.

Für Bolsonaro und seine Bewegung ist Politik immer auch Kulturkampf. In seiner ersten Rede an die Nation rief er, dass Brasilien sich nun „vom Sozialismus, der Umkehrung der Werte und der politischen Korrektheit befreien“ werde. Die Legende von den überall lauernden Linken gehört fest zum Weltbild von Brasiliens neuer Rechter.

Dieses kann man nur verstehen, wenn man Olavo de Carvalho kennt, einen 71-jährigen Philosophen und Publizisten, der in den USA lebt. Mit seinen Youtube-Vorlesungen hat er das Denken von Bolsonaro und seinen Anhängern maßgeblich geprägt. Sein Zorn gilt Hegel, Marx und Freud, dem Dekonstruktivismus sowie der Theologie der Befreiung. Ein weiteres Feindbild: der „Globalismus“ (nicht zu Verwechseln mit Globalisierung), der angeblich die Familien, Kirchen, den Staat und die Nationen zersetze. Der Linken sei es laut Carvalho in den letzten Jahrzehnten gelungen, den „Kulturmarxismus“ in Universitäten, Medien und Kunst durchzusetzen. Entscheidend habe ihnen dabei Theorie von der „passiven Revolution“ Antonio Gramscis geholfen.

Die Ideen Carvalhos werden von Brasiliens Rechter mit Begeisterung aufgenommen. So kommt es, dass einfache Brasilianer heute auf Twitter über Antonio Gramsci schwadronieren. In Wirklichkeit aber hat die Rechte von dem Italiener viel gelernt. Sie dehnt ihren anti-aufklärerischen, anti-wissenschaftlichen und anti-emanzipatorischen Diskurs über das Internet immer weiter aus. Auf Youtube laufen heute professionell gemachte Dokumentationen, die Brasiliens Militärdiktatur (1964 – 1985) als legitime Antwort auf die Gefahr des Kommunismus rechtfertigen. Ihre Folterkeller seien notwendig im Kampf gegen die Feinde des Volkes gewesen. Jair Bolsonaros Söhne teilen diese Videos, die Linke hat dem nichts entgegenzusetzen außer Empörung.

Auch in Brasiliens neuem Kabinett finden die Theorien von Carvalho starken Widerhall, etwa bei Außenminister Ernesto Araújo, der den Klimawandel für eine „marxistische Verschwörung“ hält und Europa als „kulturell leeren Raum“ bezeichnet. Bildungsminister Ricardo Vélez wiederum hat als Ziel ausgegeben, den „Kulturmarxismus“ und die „Gender-Ideologie“ auszumerzen. Zuletzt sagte er, dass Universitäten einer Elite vorbehalten bleiben müssten – es war eine nur leicht verhüllte Absage an Quoten für Schwarze. Einzureihen in die Riege der Ideologen ist auch Familienministerin Damares Alves. Die evangelikale Christin meint, dass Heim und Herd der ideale Platz für Frauen seien.

Angesichts solcher Minister sagte der Musiker und Schriftsteller Chico Buarque, dass er froh sei, dass Bolsonaro das Kulturministerium abgeschafft habe.

Der Kulturkampf erreicht nun auch die Berlinale. Brasiliens Botschaft sagte überraschend den traditionellen Empfang für die Filmemacher des Landes ab. Es wird vermutet, dass dahinter die Angst vor politischen Demonstrationen der Künstler stecken könnte. Mit Wagner Moura ist nicht nur der international bekannteste Schauspieler Brasiliens („Tropa de Elite“, „Narcos“) in Berlin, sondern auch ein radikaler Gegner Jair Bolsonaros.

Moura zeigt im Wettbewerb des Festivals eine Semi-Doku über Carlos Marighella, den berühmtesten Guerillero Brasiliens. Er kämpfte in den 1960ern gegen die Militärdiktatur und wurde umgebracht. Für Brasiliens Rechte ist Marighella eine Hassfigur, und bereits jetzt wird Moura als „linkspathologischer Kommunist” beschimpft. Er antwortet: „Ein trauriges Land ist, welches aus seinen Künstlern Feinde des Volkes macht. Aber ich bin bereit für den Kampf.“