Brasiliens Filbinger: José Maria Marin

Brasiliens Filbinger: José Maria Marin

“Raus, Marin!” Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis José Maria Marin seinen Posten als Chef des Organisationskomitees (COL) für die Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien räumt.

Foto: Fúlvio, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18857823

Die Liste seiner Gegner reicht mittlerweile von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff über die großen Zeitungen des Landes bis hin zur Fifa. Sogar die Nationale Fan-Front lässt in den Stadien Transparente aufhängen: „Fora Marin!“ Ob der 80-Jährige nach einem möglichen Rücktritt noch als Präsident des mächtigen brasilianischen Fußballverbands CBF haltbar ist, wird bereits jetzt diskutiert.

Dabei ist es nicht die allbekannte Korruption innerhalb des CBF, die Marin in Schwierigkeiten gebracht hat – diese wird von der Fifa seit Jahrzehnten toleriert –, sondern seine dubiose Rolle während der brasilianischen Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985. Brasilien hat nun eine Art Filbinger-Affäre. Man fragt sich, ob ein sturer Greis und Anhänger einer faschistischen Junta tatsächlich der beste Repräsentant der Fußball-WM im jungen, fußballbegeisterten Brasilien ist.

Die Vorwürfe gegen Marin reichen 38 Jahre zurück. Er soll 1975 als Politiker im Landesparlament von São Paulo dazu beigetragen haben, dass der Fernsehjournalist Vladimir Herzog verhaftet und zu Tode gefoltert wurde. Marin gehörte damals der Arena-Partei an. Sie war das Sammelbecken für Politiker der Militärjunta, fungierte als ihr demokratisches Feigenblatt. In einer Parlamentsrede im Oktober 1975 nahm Marin den Fernsehsender TV Cultura ins Visier, weil dieser einen Beitrag über Ho Chi Minh gebracht hatte. Der Direktor von TV Cultura hieß Vladimir Herzog. Der jüdischstämmige Journalist hatte die Reportage über den vietnamesischen Revolutionär von der britischen BBC übernommen, für die er selbst drei Jahre lang gearbeitet hatte.

Marin sagte: „Es geht nicht nur darum, was sie veröffentlichen, sondern um die Unruhe, die sie in politischen Kreisen und in den Familien São Paulos provozieren.“ Er appellierte an die staatlichen Autoritäten, endlich etwas gegen TV Cultura zu unternehmen und schloss seine Rede mit den Worten: „Es ist notwendig, zu reagieren, damit wieder Ruhe in diesem Hause sowie den Heimen São Paulos einkehrt.“

Die staatlichen Organe ließen sich nicht zweimal bitten. 16 Tage nach Marins Rede wurde Vladimir Herzog festgenommen und zu Tode gefoltert. Er sollte zugegeben, Kommunist zu sein und die Namen seiner Genossen verraten. Sein Tod wurde von der Polizei als Selbstmord dargestellt, doch die Folterspuren sprachen für sich. Der verantwortliche Polizeichef hieß Sérgio Fleury; er war für seinen Sadismus berüchtigt.

Über Fleury sagt José Marin ein Jahr nach Herzogs Tod: „Ohne Zweifel liebt Fleury seine Arbeit. Wir sind sehr stolz darauf, dass er für unsere Polizei tätig ist. Er kriegt nicht die Anerkennung, die ihm zusteht.“ José Marin wurde 1979 Vizegouverneur São Paulos und war ab 1982 ein Jahr lang Gouverneur des Bundesstaates.

Die Redebeiträge Marins wurden im Juni 2012 von dem brasilianischen Sportjournalisten Juca Kfouri ausgegraben. Drei Monate zuvor hatte Marin die Nachfolge des korrupten CBF-Patriarchen Ricardo Teixeira angetreten. Unterstützung erhielt Kfouri von Ivo Herzog, dem Sohn Vladimirs. Ihnen schloss sich der populäre Parlamentsabgeordnete und Ex-Fußballer Romário an, der 54 000 Unterschriften gegen Marin gesammelt hat. Romário, Vorsitzender des Sportausschusses, sagte: „Wir, Athleten und Ex-Athleten, fühlen uns unwohl mit dieser Situation.“ Er hat Marin bereits in den Ausschuss eingeladen, um über den Fall Herzog Auskunft zu geben. Ebenso soll der CBF-Präsident vor der Wahrheitskommission in São Paulo erscheinen, die die Verbrechen der Militärdiktatur untersucht.

Dass Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff den CBF-Präsidenten ablehnt, ist kein Geheimnis. Sie wurde selbst fast drei Jahre lang in den Kerkern der Militärdiktatur gefoltert. Ihr Sportminister Aldo Rebelo hat ein angespanntes Verhältnis zu Marin, seit dieser gesagt hat: „Rebelos Denkvermögen ist verzögert.“ Die beiden gehen sich aus dem Weg.

Seit einigen Wochen hat sich nun auch die brasilianische Presse auf Marin eingeschossen. Die in Rio erscheinende Zeitung „O Globo“, die zum gleichnamigen Medienkonzern gehört, veröffentlichte ein Meinungsstück mit Blick auf die Fußball-WM 2014: „Und der oberste Dirigent des Ereignisses ist eine Kanaille, ein Befürworter des Militärputsches von 1964. Dieses Subjekt hat das Sagen über unseren Fußball, (…) ein gewohnheitsmäßiger Lügner und Hochstapler.“

In die Ecke gedrängt, verteidigt sich José Marin nun mit dem Argument, er habe in seiner Rede 1975 die Aufmerksamkeit auf die tendenziöse Berichterstattung von TV Cultura lenken wollen. Die Anschuldigungen bezeichnete er als „Verleumdungen“ und „Lügen“.

Vielleicht würde Marin mit alledem durchkommen, wenn sich jetzt nicht auch die Fifa – die bisher die Hand über Marin hielt – gegen ihn gewandt hätte. Der Weltfußballverband betreibt seit einigen Wochen Marins Ablösung als Chef des WM-Organisationskomitees. Der ehemalige Fußballstar und COL-Aufsichtsratsmitglied Ronaldo, der bereits als möglicher Nachfolger gehandelt wird, sagte in einem Zeitungsinterview, dass der brasilianische Fußball neue Ideen bräuchte. „Ich erwarte, eine saubere und transparente Führung. Unglücklicherweise ist sie das noch nicht. (…) Der Fußball repräsentiert unser Land. Aber wer wird den Fußball repräsentieren?“ Man kann davon ausgehen, dass Ronaldo dies nicht ohne Rückendeckung gesagt hat.

Diesen Freitag werden sich nun die Präsidenten der 27 brasilianischen Fußballverbände zu einer CBF-Generalversammlung einfinden. Auf solch einem Treffen Anfang 2012 kündigte der alte Pate Ricardo Teixeira seinen Rücktritt an, weil die Fifa seine 23 Jahre andauernden mafiösen Machenschaften nicht mehr decken wollte. Ein Untersuchungsbericht hatte Teixeira Korruption, Bilanzbetrug und Steuerhinterziehung nachgewiesen. Gegenüber Reportern der WDR-Sendung Sport Inside rechtfertigte Marin die Straftaten vor wenigen Tagen: „Das ist Teil der Fußball-Welt.“ Ob Marin seinem Ex-Chef und Komplizen nun folgen wird?