Am Tag danach prangte sein Foto auf den Titelseiten der großen Zeitungen Brasiliens. Ein schüchtern dreinschauender Rogério Avelino da Silva ist darauf in Handschellen zu sehen, umringt von lachenden Polizisten mit Gewehren in der Hand, einer von ihnen macht das Victory-Zeichen.
Foto: WhatsApp / Reprodução
Die fröhliche Fotosession der Polizisten hatte dann ein eigenes Nachspiel. Eine Zeitung in Rio de Janeiro fragte: „Habt ihr einen Kriminellen gefasst… oder einen Star?“ Die Polizeiführung kündigte Disziplinarmaßnahmen an.
Tatsächlich war die Freude der Beamten zu verstehen, denn ihnen war der meistgesuchte Drogenboss Rios ins Netz gegangen. Und das, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern.
Seit Monaten schon hatte die brasilianische Bundespolizei versucht, Rogério da Silva ausfindig zu machen. Schließlich fasste sie ihn in einer Favela in der Nordzone Rios. Vorausgegangen war eine großangelegte Polizeioperation, während der öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten und Kliniken geschlossen blieben.
Über abgehörte Telefonate waren die Ermittler auf die Spur da Silvas gekommen, der den meisten Brasilianern unter dem Spitznahmen Rogério 157 ein Begriff ist. Bei seiner Festnahme war er unbewaffnet und ohne Eskorte. Er soll mit einer Frau im Bett gelegen und noch versucht haben, sich unter einem Laken zu verbergen. Ein Beamter berichtete, dass er seine aussichtslose Situation jedoch sofort begriffen habe. „Jetzt habe ich wohl verloren, Herr Doktor“, soll der 35-Jährige gesagt haben.
Rios Sicherheitsminister Roberto Sá verkündete nach der Aktion sichtlich erleichtert: „Es liegt mir fern, einen Kriminellen groß zu reden. Aber wir haben einen Banditen gefasst, der uns seit mehr als zehn Jahren Kopfzerbrechen bereitet.“
Zuletzt machte man da Silva für die regelrechten Kriegszustände verantwortlich, die in der Rocinha ausgebrochen waren, der größten Favela Rio de Janeiros. Mehr als 70.000 Menschen leben in dem Häuserlabyrinth an einem Berghang im Südwesten der Stadt. Anlass für die schweren Kämpfe war der Bruch Rogério das Silvas mit dem legendären Drogen-Boss der Rocinha, Antônio Bonfim Lopes, alias Nem. Dieser sitzt seit 2011 in einem Hochsicherheitsgefängnis in der Amazonasregion, kontrolliert aber weiterhin die Geschäfte in der Rocinha. Er ist der Pate der Favela. Und Rogério 157 war einer seiner Statthalter.
Der Zwist entstand, weil Nem zunehmend unzufrieden war mit Rogério 157. Dieser hatte begonnen, Steuern auf den Verkauf von Gas, Mineralwasser, Holzkohle und den Transport mit Motorradtaxis zu kassieren. Ebenso übel stieß ihm Rogérios Protzerei mit Goldringen und einem riesigen Amulett auf, das er um den Hals trug. „Jesus ist der Herr dieses Hauses“, stand darauf. Rogério richtete auch Partys mit Prostituierten aus, bei denen Alkohol und andere Drogen in rauen Mengen konsumiert wurden. Es ist der Lebensstil, den die jüngeren Drogendealer anstreben, der aber bei der älteren Generation, zu der Nem gehört, auf Ablehnung stößt.
Als Rogério 157 erfuhr, dass Nem ihn degradieren und aus der Rocinha verbannen wollte, lockte er Verbündete von Nem in einen Hinterhalt und exekutierte sie. Er kündigte an, dass der Drogenhandel in der Rocinha künftig von ihm befehligt würde. Außerdem wollte er zur größten Drogengang Rios wechseln, dem „Comando Vermelho“ (Rotes Kommando).
Es war ein Schock für Rios Unterwelt, denn jahrelang war die Rocinha in der Hand der „Amigos dos Amigos“ (Freunde der Freunde). Die Rocinha ist wegen ihrer Lage in der Nähe mehrerer Reichenviertel einer der einträglichsten Drogenverkaufsplätze Brasiliens. Auf umgerechnet drei Millionen Euro schätzen Experten den Umsatz hier monatlich.
Es war also klar, dass Krieg um die Rocinha ausbrechen würde. Während der Gefechte zwischen den Anhängern Rogérios und Nems wurden mindestens 20 Menschen getötet, 14 verletzt. Tagelang stand das Leben in der Rocinha still. Beide Drogengangs schickten Gangster aus anderen Favelas zur Verstärkung ihrer jeweiligen Fraktion in die Rocinha. Selbst nachdem die brasilianische Armee eingerückt war, gingen die Schusswechsel weiter.
Ob nach seiner Festnahme nun Frieden einkehrt, bezweifeln Experten. Die Frage sei, ob die abtrünnigen Anhänger Rogérios jetzt zu Fraktion von Nem zurückkehren, sagt Rios Sicherheitsminister Roberto Sá. Doch danach sieht es bisher nicht aus. Das Comando Vermelho wählte bereits einen Nachfolger Rogérios. Bei Schusswechseln Tag nach seiner Festnahme kamen drei Menschen ums Leben.
Ein weiterer Unsicherheitsfaktor kommt hinzu: Denn hinter dem Krieg zwischen den beiden Drogengangs aus Rio steckt auch der wachsende Einfluss der größten Drogenmafia Brasiliens: Das „Primeiro Comando da Capital“ (PCC) aus São Paulo will in Rio Fuß fassen. Zurzeit ist es mit den „Amigos dos Amigos“ verbündet. Sicherheitsminister Sá sagte, dass man die Entwicklung genau beobachte und weiterhin 500 Militärpolizisten in der Rocinha stehen habe, um Schlimmeres zu verhindern. Es hörte sich etwas hilflos an.
Seinen Spitznamen, Rogério 157, hat der Drogengangster übrigens, weil er seine kriminelle Karriere mit Straßenüberfällen begann. 157 – das ist der Paragraf im brasilianischen Gesetzbuch für Raub. In der Hierarchie der „Amigos dos Amigos“ stieg Rogério auf, als er 2010 mit zehn Mann ein Luxushotel in Rio besetzte und zahlreiche Geiseln nahm. Die Gangster gaben auf und kamen ins Gefängnis – doch Rogério war schon bald wieder auf freiem Fuß.
Bei seiner jetzigen Festnahme soll er übrigens versucht haben, die Polizisten zu bestechen. „Dann habt ihr ausgesorgt“, soll er gesagt haben. Die Polizisten lehnten ab – und zogen es vor, Selfies mit dem prominenten Gangster zu machen.