Als der Fotograf Ubirajara Carvalho eines Abends in sein Haus in der Favela Maré heimkehrt, ist die Tür eingetreten. Im Wohnzimmer stehen schwarzuniformierte Polizisten von Rios Spezialkommando Bope.
Sie können keinen Durchsuchungsbefehl vorweisen, behaupten aber Carvalho verstecke Drogen. Sie verwüsten seine Wohnung, ein Beamter schmeißt seine Kamera ins Klo, ein anderer versucht, ihm die Ersparnisse zu stehlen. Fündig werden die Beamten nicht. Carvalho kann sich nicht wehren, er sitzt im Rollstuhl.
Die Polizeiaktion wird in der aktuellen Ausgabe der Monatszeitung „Maré de Notícias“ behandelt. Unter der Überschrift „Fuß in der Tür“ schildert Chefredakteurin Silvia Noronha die Furcht der Favelabewohner vor der Polizei. „Bürgerliche Medien porträtieren die Maré als Ort voller Krimineller und die Polizisten als Helden“, sagt sie. „Wir machen eine Zeitung aus der Favela für die Favela.“
Noronhas Blatt, das vor drei Jahren gegründet wurde, gehört zu einer Reihe von Medien, die in den vergangenen zehn Jahren in Rios Favelas entstanden sind. 2012 hat eine Studie dort rund 70 journalistische Erzeugnisse ausgemacht. „Sie entspringen dem enormen Bedarf an Lokalnachrichten“, sagt Silvia Noronha. Weniger der gerade in Brasilien stattfindende Confederations-Cup der Fifa interessiert dabei, sondern der miserable Zustand des Fußballkäfigs um die Ecke. Denn von den Massenmedien werden die 1,4 Millionen Menschen, die in einer von Rios 1071 Favelas leben, mit einer Mischung aus Paternalismus und Sensationsgier behandelt. Aus einer Überfallserie in Rios reicher Südzone strickt die Zeitung „O Globo“ ganzseitige Reportagen. Wenn aber die Abwasserentsorgung für Hunderttausende nicht funktioniert, ignoriert man es. Zugespitzt: Rios Massenmedien werden von reichen Brasilianern für reiche Brasilianer gemacht.
Die Zunahme der Favela-Medien hat in erster Linie mit dem Internet zu tun, wo mehr als die Hälfte von ihnen erscheint. Nur jeweils rund ein Viertel sind Radios und Zeitungen. Letztere gehen allerdings meist nach kurzer Zeit wieder ein, Schuld sind die Kosten für Papier und Druck oder ganz einfach der Zeitmangel der Organisatoren. Bei der „Maré de Noticias“ ist das anders. Die Zeitung – die größte ihrer Art in Rio – wird unter dem Dach der NGO Redes da Maré produziert, die vom staatlichem Erdölkonzern Petrobras gefördert wird. „Ohne diese Rückendeckung könnten wir nicht regelmäßig erscheinen“, sagt Silvia Noronha. „Es gäbe uns gar nicht.“ Allein der Druck des werbefreien Blatts kostet umgerechnet 2700 Euro, die Distribution 1200 Euro. Hinzu kommen Löhne für ein halbes Dutzend ständiger Mitarbeiter, von denen die meisten eine journalistische Ausbildung haben.
Noronha steigt die Treppe zu ihrer Redaktion in einem dreistöckigen Haus empor. Im Flur stapeln sich Pakete mit der Mai-Ausgabe, die frisch von der Druckerei gekommen ist: 40000 Exemplare, 16 Seiten, fast quadratisch. Eine Woche lang werden die Helfer brauchen, um sie zu verteilen. Im schmalen Redaktionsraum stehen acht Computern, vor dreien sitzen Journalisten und kümmern sich um den Internetauftritt der Zeitung. Im Netz herrscht enormes Interesse an den jüngsten Polizeiaktionen. Ein Radiomoderator ruft an und will wissen, was los sei. Die Favela-Reporter antworten live, dass die Bope am Morgen in eine Grundschule eingedrungen sei und den Unterricht suspendiert habe. „Wir machen den Job der Kollegen“, sagt Fotografin Elisângela Leite. Die 35-Jährige hält die Seite einer großen Tageszeitung hoch. Die hat einfach eins ihrer Fotos aus dem Netz heruntergeladen und abgedruckt.
Die „Maré de Notícias“ – es heißt wörtlich „Flut von Nachrichten“ – erscheint in Rios Viertel Maré: einem Komplex aus mehreren Favelas mit mehr als 130000 Einwohnern. In den Straßen, die im Schachbrettmuster angelegt sind, reihen sich schmale unfertige Häuser zwei, drei Etagen hoch, es gibt weder Bäume noch Plätze; nur Steine, Beton, Menschen, Motorräder und Tausende Geschäfte, Restaurants und Bars. Konzentriertes Leben. Die Zeitung erfüllt hier die Funktion eines Lokalblatts. Man bringt Berichte von Alphabetisierungskursen, regt Diskussionen über die Lärmbelästigung durch Diskotheken an oder weist auf Sportangebote hin. Zur Realität gehören auch zwei Jugendliche, die man vom Redaktionsfenster aus sieht. Sie sitzen auf der Straße, in ihren Badeshorts stecken Pistolen, vor ihnen liegen Marihuana, Kokain und dicke Geldbündel. Am Abend wird sich eine lange Schlange bilden, man kauft sich den Joint zum Feierabend. „Da sitzt die Lokalregierung“, bemerken die Journalistinnen.
Sie meinen die Drogengang Comando Vermelho (CV), in deren Einflusszone ihre Redaktion liegt. „2011 hatten wir Probleme“, erinnert sich Chefredakteurin Noronha. Nach einer Schießerei mit zwei Toten hatte ihr Grafiker die Titelseite mit Fotos von Einschusslöchern übersät. Ein paar Tage später sandte das CV die Nachricht, dass es besser für alle wäre, wenn man solche Themen nicht mehr anfasse. „Daran müssen wir uns halten“, sagt Noronha. „Wir wollen nicht unsere Leben riskieren.“ Als man später Fotos von den Favela-Journalisten macht, muss man aufpassen, dass im Hintergrund keine Dealer zu sehen sind. Und Reporterin Millioti will unter keinen Umständen mit aufs Bild.
Der Maré-Komplex ist die letzte zentral gelegene Favela, die noch nicht von der Befriedungspolizei UPP besetzt worden ist. Die 2008 gegründete Einheit soll im Vorfeld von Fußball-WM und Olympia die Drogengangs unter Kontrolle halten. Doch in der Maré herrschen bis heute zwei verfeindete Mafias sowie eine Polizeimiliz. Seit die Regierung nun die Eroberung der Favela angekündigt hat, geht die Angst um. „Die Bewohner fürchten die Polizisten, die sie nur als Rambos kennen“, sagt Silvia Noronha. Für die aktuelle Ausgabe hat sie ein Interview mit der Politologin Sonia Fleury geführt, die den Befriedungsprozess heftig kritisiert. Daneben findet sich die Geschichte eines 77-Jährigen, dessen Engagement es einst zu verdanken war, dass die Maré fließend Wasser, Licht, Hausnummern und eine Zahnarztpraxis bekam.
Die 42-jährige Noronha, die anders als ihr Team nicht aus der Maré stammt, hat früher für die renommierte Tageszeitung „Folha de São Paulo“ gearbeitet. „Was ich jetzt mache, entspricht eher meinen Idealen“, sagt sie. Ihre Kollegin Rosilene Millioti ergänzt: „Wir erhalten viel Resonanz auf unsere Bewohner-Porträts. Viele kommen mit ihren Geschichten zu uns.“ Die „Maré de Noticias“ ist mehr als eine Zeitung. Sie sagt den Menschen: Ihr lebt am Rand, aber ihr zählt.
Recherche in einer Seitengasse. Eine Bewohnerin hat sich gemeldet und erzählt, dass sie von Rios Stromversorger einen energiesparenden Kühlschrank angeboten bekommen habe. Noronha und Fotografin Leite machen sich auf den Weg. „Auch solche Geschichten gehören dazu“, sagen sie. Gerne erinnert man sich in der Redaktion an die Story über die angolanische Gemeinde in der Maré. Damals meldeten sich internationale Medien, um die Geschichte nachzuerzählen.