An einer Stelle in diesem furiosen Film heißt es: „60 Jahre Entwicklungspolitik: Manchmal sollte man erkennen, wenn es genug ist. Vor allem genug geheuchelt.“
Port-au-Prince, die Hauptstadt der verarmten karibischen Nation Haiti, wurde am 12. Januar 2010 vom verheerendsten Erdbeben in der Geschichte Amerikas erschüttert. Viele sahen darin eine Chance. 230.000 Menschen starben, 300.000 wurden verstümmelt, die Häuser von 1,5 Millionen Personen zerstört – sie hausten fortan in Zeltstädten. Und doch herrschte in den ersten Monaten nach der Katastrophe so etwas wie Aufbruchstimmung. Wer damals mit den Bewohnern von Port-au-Prince sprach, der konnte Hoffnung auf einen Neuanfang feststellen. Die Internationale Gemeinschaft hatte uneigennützige Hilfe zugesagt, insgesamt sollten elf Milliarden Dollar fließen. Und wichtiger noch: Die Hilfe sollte transparent und vernünftig eingesetzt werden. Man wollte die Fehler der Vergangenheit vermeiden. Tabula Rasa. Ein neues, ein gerechteres Haiti schien auf den Trümmern des alten möglich zu sein. Man hatte alles, was es braucht: Geld, Technik, Expertise, ein Gefühl für Dringlichkeit.
Damals reiste auch der Filmemacher Raoul Peck („Lumumba“, „Sometimes in April“) in sein Geburtsland. Er wollte dokumentieren, was nach „Haitis Stunde Null“ passierte. Drei Jahre später liegt nun „Fatal Assistance“ vor: ein Dokument, das jeden Zuschauer davon abhalten wird, sein Geld jemals wieder irgendeiner Organisation zu spenden, die damit „den Armen helfen“ will. Natürlich gibt es Bücher („Dead Aid“, „Travesty in Haiti“, „Die Mitleidsindustrie“), die beweisen, wie westliche Hilfe den Helfern zugute kommt; dass sie politisch eingesetzt wird und oftmals die prekäre Situation, die sie erleichtern soll noch verschlimmert – insbesondere die der Abhängigkeit. Raoul Peck zeigt all dies jedoch mit einer Klarheit, einer argumentativen Stringenz und emotionalen Überzeugungskraft, der sich nur schwer zu entziehen ist. Sein Hauptargument: Die Haitianer spielen keine Rolle in der von Milliarden Dollars angetriebenen Hilfsmaschinerie. Sie werden sogar als störend empfunden. Niemals wird man ihnen Geld geben, damit sie selbst entscheiden können. Stattdessen wird es in Hilfsagenturen und NGOs gepumpt: ausländische Helfer, die glauben, alles besser zu können – und am Ende desillusioniert Platz machen für die nächste Generation von Helfern. Gute Hilfe macht sich überflüssig, schlechte reproduziert sich.
Einer der Fäden, die Peck auslegt, um sie in anderthalb instruktiven Stunden zusammenzuführen, gehört Joséus Nader. Er ist der oberste öffentliche Ingenieur von Port-au-Prince, verantwortlich für die Straßen und Kanäle der Millionenstadt. Aber ihm stehen weniger als 100 Angestellte und nur ein paar Bagger zu Verfügung. In einer Szene sieht man, wie einer seiner Männer barfuß einen verschlammten Gulli mit einer Mistgabel aushebt. Gleichzeitig reinigen an anderer Stelle vier gut ausgestattete NGOs ein und denselben Kanal – und zwar mehrfach. Keine von ihnen würde jemals Herrn Nader beim Aufbau seiner Behörde helfen. Das – keineswegs falsche – Argument lautet: Die haitianischen Eliten sind korrupt. Doch man verschweigt, wie viel Geld bei den Hilfsorganisationen selbst unterschlagen, zweckentfremdet und verdient wird. Als Haitis Regierung von den 20 größten Organisationen im Land einen Rechenschaftsbericht forderte, erhielt sie keine fünf Antworten. Nicht ohne Grund wird Haiti als erster NGO-Staat der Welt bezeichnet. Raoul Peck zeigt: Gerade deswegen ist er so arm.
Als das drängendste Problem nach dem Erdbeben identifiziert Peck schlüssig die Beseitigung von Trümmern. Doch für diese Aufgabe ist so gut wie kein Geld vorhanden. Sie gilt als als unsexy. Die Agenda von Hilfsorganisationen richtet sich nach Fotomotiven. Journalisten arbeiten ihnen zu, die sich einladen lassen und das Material für ihre Geschichten von ihnen beziehen. Ein Klima des Mitleids und der Bemutterung entsteht: der Haitianer, das hilflose Kind, dem die weiße Ärztin das Fläschchen reicht. Welch Verdrehung der Historie.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Peck kritisiert nicht die Helfer selbst, meist engagierte und intelligente Profis. Es sind die absurden Strukturen, in denen sie gefangen sind. „Nach zwei Jahren in deinem Land versuche ich immer noch, zu verstehen, was passiert ist. Ich finde keine kohärente Antwort. Ich kann mir nicht erklären, warum das Leben trotz der Milliarden von Dollars, die in diese kleine karibische Insel gepumpt wurden, immer noch eine so unerträgliche Last ist.“ Peck hat einen radikal-poetischen Text über seine Bilder gelegt. Es ist sein Dialog mit einer anonymen Helferin, die in Haiti gearbeitet hat und sich nun leer und betrogen fühlt.
Um die Milliardenhilfen zu verwalten und den Wiederaufbau zu koordinieren, gründete man eine Interimskommission. Ihre Vorsitzenden: der haitianische Premierminister und Bill Clinton. Die Szenen, die Raoul Peck aus dem Innenleben dieser gescheiterten Kommission gesammelt hat, sind komisch bis erschütternd: wie die 13 haitianischen Mitglieder eine Erklärung verlesen, weil sie bei Entscheidungen systematisch übergangen werden; oder wie über Bill Clintons Phrasendrescherei gespottet wird: „Wiederaufbau: Der Film“. Es gehört zu den Schwächen des Films, dass er nicht auch auf die erklärte Strategie des US-Außenministeriums unter Hillary Clinton eingeht, die Haiti in ein Billiglohnland für die US-Textilindustrie verwandeln will. Haitis Agrarwirtschaft wird systematisch durch sogenannte „Lebensmittelhilfe“ der Hilfsagentur US-Aid zerstört.
Er braucht dann eine Weile, bis Peck das zentrale Thema seines Films gefunden hat. Die Umsiedlung von Zehntausenden Menschen auf eine Brache 17 Kilometer vor Port-au-Prince Doch wo ein neues Stadtviertel gebaut werden soll, droht das größte Slum Haitis zu entstehen. Die neuen Behausungen, das Stück 2000 bis 3000 Dollar, sind eine Beleidigung für die Menschen, die darin leben sollen. Jede haitianische Familien hätte mit dem gleichen Geld ein anständigeres Haus bauen können. „Vielleicht war die größte Katastrophe in Haiti ja gar nicht das Erdbeben, sondern die Art und Weise wie darauf reagiert wurde“, fragt Peck: „Wer rettet Haiti vor seinen Rettern?“