Ein brasilianische Jugend

Ein brasilianische Jugend

Dembore Silva steht auf einem Aussichtspunkt in Rocinha, der größten Favela Rio de Janeiros, und zeichnet mit dem Zeigefinger eine imaginäre Linie durch das Meer aus ineinander verschachtelten Häusern. „Dort laufe ich mit den Touristen entlang und erkläre ihnen, wie das Leben hier funktioniert“, sagt er. „Die meisten sind begeistert.“

Als Dembore Silva vor 25 Jahren geboren wurde, deutete wenig daraufhin, dass er einmal Australier, Amerikaner und Deutsche durch eine Favela in Rio führen würde. Er wuchs in dem Dorf São João do Oriente im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais auf. „Meine Eltern“, sagt er, „waren bitterarm. Wir besaßen kein Land, keine Tiere. Dann ging mein Vater illegal in die USA.“ Dembore blieb bei seiner Mutter und aß jeden Tag in der Schule, „weil wir uns zuhause nichts Warmes leisten konnten“.

Heute bietet Silva seine Touren auf Englisch oder Spanisch an. Er hat die Sprachen gelernt, als er seinem Vater für einige Zeit in die USA folgte. In den Neunzigerjahren gingen Hunderttausende junge Brasilianer in das vermeintliche Land der Möglichkeiten. „Wir waren eine kleine brasilianische Gemeinde in New Jersey“, erinnert sich Dembore Silva, „viele kamen aus Minas Gerais.“ Dann drehte sich der Trend um – und die Brasilianer kehrten scharenweise in ihre Heimat zurück.

Als Silva vor ein paar Jahren nach Rio zog, arbeitete er zunächst in einem Restaurant und verdiente mickrige 750 Reais im Monat. Dann bekam er den Job als Touristenführer und macht jetzt in der Hauptsaison 3500 Reais. Das sind rund 1250 Euro – das Fünffache des brasilianischen Mindestlohns. „Es geht mir besser als früher meiner Familie“, sagt Silva bescheiden. Erst vor kurzem hat er seiner Mutter ein kleines Haus in São João do Oriente gekauft.

Dembore Silvas Aufstieg spiegelt die Geschichte Brasiliens der letzten zehn Jahre wider. 35 Millionen Arme sind seit 2002 in die Mittelschicht aufgestiegen. Ihr gehören nun mehr als die Hälfte der rund 200 Millionen Brasilianer an, wie das Brasilianische Statistikinstitut IBGE ermittelt hat. Das vielleicht wichtigste Detail: Der Anteil der arbeitslosen Jugendlichen beträgt 15 Prozent. Er hat seit 2002 um mehr als sieben Prozentpunkte abgenommen. Die Gründe: Mehr Jugendliche gehen dank staatlicher Programme zur Schule, und es gibt mehr Arbeitsplätze. Seit 2002 sind 18 Millionen neue Jobs entstanden.

Dembore Silva ist ein kräftiger Typ, er trägt Tätowierungen auf den Armen, wie man sie oft am Strand der Copacabana bewundern kann. Er läuft zum Büro seines Arbeitgebers, der kleinen Agentur Favela Adventures. Sie ist einer von mehreren Anbietern, die sich auf die Erkundung Rocinhas spezialisiert haben. 70.000 Menschen leben laut Zensus in dem Viertel, das in weiten Teilen einer Kleinstadt gleicht. Es gibt Supermärkte, Banken, Hotels und Modeboutiquen. „Ich mag Rocinha“, sagt Silva, der selbst ein Haus in dem Viertel mietet.

Einige zentral gelegene Favelas in Rio sind mit der Stationierung von Einheiten der Befriedungspolizei in Mode gekommen. Diese unterbindet zwar nicht den Drogenhandel aber zumindest den Gebrauch von Waffen und vermittelt das Gefühl gestiegener Sicherheit. Nun trauen sich immer mehr Touristen in die Favelas, Ausländer und reiche Brasilianer kaufen Grundstücke. Gleichzeitig existieren Armut und Krankheiten weiter – in einigen dunklen und feuchten Winkeln der Rocinha leiden die Menschen an Tuberkulose.

Während andere Touranbieter ihre Kunden im Geländewagen durch Rocinha kutschieren, unternimmt Silva Wandertouren. Sie dauern bis zu sechs Stunden und führen durch die unzähligen Gassen des Viertels. „Ich zeige den Touristen die Gastfreundschaft der Bewohner“, sagt er. „Aber auch die Realität unter der Oberfläche des neuen Brasiliens: Armut, Müll, offene Abwasserkanäle.“

Silva hat wie viele junge Brasilianer persönlichen Erfolg erlebt – und ist doch verärgert über den Kurs des Landes. „Die Politiker stopfen sich die Taschen voll und lassen die öffentliche Infrastruktur verrotten“, sagt er. „Ich habe ja mein Englisch auch nicht in der Schule gelernt.“ Die Jugendproteste, die seit Juni in Brasilien stattfinden, sind Ausdruck dieser Unzufriedenheit. Silva lief bei einer Demo zum Haus von Rios Gouverneur Sérgio Cabral mit.

Die Politologin Sonia Fleury von der Getúlio-Vargas-Stiftung in Rio erklärt die Wut junger Brasilianer so: „Sie haben besseren Zugang zu Informationen und spüren die Diskrepanz zwischen dem offiziellen Bild Brasiliens und ihrem Alltag.“ Silva drückt es so aus: „Der Staat zahlt Milliarden für neue Fußballstadien, aber bei uns fällt der Strom aus.“

Über die Proteste informiert Silva sich per Facebook, der wichtigsten Informationsquelle junger Brasilianer. „Man bekommt Nachrichten von allen Seiten“, sagt er. Im Mai 2013 waren laut Facebook rund 73 Millionen Brasilianer bei dem Netzwerk angemeldet. Das Land weist eine der höchsten Nutzerzahlen der Welt auf.

Der Jugendforscher Paulo Carrano von der Bundesstaatlichen Universität in Rio (UFF) hat beobachtet, dass junge Brasilianer das Netz nutzten, um sich neu zu definieren: „Sie artikulieren ihre eigenen Themen, Codes und Forderungen.“ Verblüfft stellt Carrano fest: „Brasiliens Jugend weist den Weg in eine bessere Demokratie.“

Silva hat bei Facebook mehr als 500 Freunde. Über die Plattform macht er die DJ-Kurse für elektronische Musik bekannt, die er im Büro von Travel Adventures anbietet. Für Teilnehmer aus Rocinha sind sie kostenlos. Am Abend steht Dembore hinter den Mischpults und gibt Anweisungen. Dabei sind der 21-jährige Thiago, der mit einem Stipendium Journalismus studiert, und der gleichaltrige Fabuloso. Er hat früher in der Rocinha Drogen verkauft. Auch sie: Kinder des Wandels.