Die zwei Gesichter des Papstes

Die zwei Gesichter des Papstes

Vor der Konklave, in der sie im April 2005 Joseph Ratzinger zum Papst wählten, erhielten die Kardinäle eine E-Mail. Darin enthalten: ein Text des argentinischen Journalisten Horacio Verbitsky. Der Betreff: Jorge Bergoglio.

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Die E-Mail, so berichten Vatikan-Insider, soll damals die Chancen des Erzbischofs von Buenos Aires, zum nächsten Pontifex gewählt zu werden, so geschmälert haben, dass er hinter Joseph Ratzinger nur den zweiten Platz belegte.

Doch was stand in Verbitskys Text, und was war daran so brisant?
Der investigative Reporter hatte das dunkelste Kapitel im Leben von Jorge Bergoglio, dem frisch gekürten Papst Francisco, beschrieben: seine Rolle während der argentinischen Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983.

Verbitsky beschuldigt Bergoglio, die beiden Priester Francisco Jalics und Orlando Yorio im Mai 1976 an die Militärdiktatur ausgeliefert zu haben. Sie arbeiteten damals unter seiner Aufsicht, er war höchster Repräsentant der Jesuiten in Argentinien. Der Vorwurf, dass Bergoglio mit der Junta kollaboriert hatte, war zwar nicht neu. Doch Verbitsky präsentierte Beweise. In seinem Buch „El Silencio“ skizziert er, wie Bergoglio die beiden Priester zwei Monate nach der Machtübernahme des Militärs aufforderte, den Jesuitenorden zu verlassen. Die Männer galten in Kirchenkreisen aber auch bei den Militärs als „Guerilleros“, weil sie in einem Armenviertel lebten und dort Sozialarbeit leisteten. Sie lehnten Bergoglios Gesuch ab. Sie seien keine Guerilleros, sagten sie, und baten Bergoglio darum, dies der Junta zu vermitteln. Sie wussten, dass auch nur der Verdacht, subversiv zu sein, ihr Todesurteil bedeuten konnte. Bergoglio versprach, ein Wort für sie einzulegen.

Jalics und Yorio aber auch auch andere Zeugen beschrieben später, wie Bergoglio die Priester stattdessen denunzierte. Er ließ der Junta eine Nachricht zukommen, dass sie nicht mehr unter dem Schutz der Kurie stünden. Sie wurden entführt und fünf Monate in der berüchtigten Marineakademie Esma eingesperrt und gefoltert. Aus Dokumenten der Junta geht zudem hervor, dass Bergoglio drei Jahre später einem Beamten indirekt empfahl, den Reisepass von Jalics nicht zu verlängern, da dieser Kontakte zur Guerilla gehabt habe und dem Jesuitenorden gegenüber ungehorsam gewesen sei. Jalics lebte zu dieser Zeit bereits in Deutschland mit dem Vornamen Franz. Er notierte 1994 in seinem Buch “Kontemplative Exerzitien” über seine Verschleppung: “Dieser Mann versprach mir, den Militärs mitzuteilen, dass wir keine Terroristen seien. Nach späteren Aussagen eines Offiziers und nach dem Zeugnis von dreissig Dokumenten, die ich später in der Hand hatte, war unzweifelhaft klar, dass dieser Mann sein Versprechen nicht gehalten, sondern im Gegenteil eine falsche Anzeige bei den Militärs erstattet hatte.” Es ist unbestritten, dass Jalics mit “dieser Mann” Bergoglio meinte.

Kardinal Bergoglio äußerte sich lange nicht zu diesen Vorwürfen. Erst im Jahr 2010, als das Pontifikat Benedikt XVI. bereits als gescheitert galt, veröffentlichte er eine Biographie mit dem Titel: „Der Jesuit“. Es wird vermutet, dass es sein Versuch war, die Vorwürfe zu entkräften, die ihm möglicherweise 2005 das Papstamt gekostet hatten und sich nun erneut als Kandidat in Stellung zu bringen. In dem Buch erzählt Bergoglio seinem Biographen Sergio Rubin, dass er die beiden Priester nicht verraten, sondern sie gewarnt habe. Später habe er sich für ihre Freilassung eingesetzt – bei drei Gelegenheiten sogar persönlich bei den Juntaführern Jorge Videla und Emilio Massera. Zudem will er anderen Verfolgten Unterschlupf und Hilfe angeboten haben, wie er in einem Interview bekräftigte. Einem jungen Mann, der ihm ähnlich sah, habe er seinen Ausweis zur Verfügung gestellt, damit dieser bei Foz de Iguazú die Grenze übertreten konnte.

Das Bergoglio jedoch zeitweilig einen lässigen Umgang mit der Wahrheit pflegt, bewies er 2006, als er das Buch „Kirche und Demokratie in Argentinien“ herausgab. Darin steht über eine Unterredung der Bischöfe mit Repräsentanten der Junta vom November 1976 geschrieben, dass die Kirchenoberen klar gemacht hätten, dass man bei den Menschenrechten keinen Schritt zurückweichen werde. In Wahrheit drückten die Bischöfe den Militärs bei dem Treffen ihre Unterstützung für die „Neu-Organisation des Landes“ aus, deren Scheitern „mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Marxismus führen“ würde. Auch dieser Fall wurde von Horacio Verbitsky aufgedeckt.

Argentinische Menschenrechtsgruppen und Opferangehörige wie etwa die „Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo“ haben nun entsetzt auf die Ernennung Bergoglios zum neuen Papst reagiert. Graciela Yorio, die Schwester von Orlando Yorio sagte, dass Papst Francisco für sie der „intellektuelle Autor der Entführung“ ihres Bruders sei (Orlando Yorio selbst starb vor 13 Jahren in Uruguay; Franz Jalics lebt heute in Deutschland). Graciela Yorio war gerade dabei, neue Beweise gegen Bergoglio für ein Gerichtsverfahren zu sammeln. Dies sei nun hinfällig, sagte sie der Zeitung „O Globo“.

Eine andere Opferangehörige, Estela de la Cuadra, bezeichnet Papst Francisco als „Komplizen einer Genozidregierung“. Ihr Fall beleuchtet einen weiteren Aspekt des argentinischen Unterdrückungsapparats. Auch hier scheint sich die Kirche verstrickt zu haben. Estelas Schwester Elena wurde von den Militärs entführt, als sie im fünften Monat schwanger war. Ihre Familie wandte sich daraufhin persönlich an Bergoglio, der laut Estela einen Brief an andere Kirchenobere schrieb, in dem er um Hilfe bei der Suche nach Elenas Säugling bat. Die Militärs nahmen damals schwangeren Entführten die Babys weg und gaben sie regimetreuen Familien, bevor sie die Mütter umbrachten. Doch anstatt Hilfe zu erfahren, so Estela de la Cuadra, habe man von der Kirche lediglich gehört, dass man sich keine Sorgen machen solle. Das Baby sei bei einer guten Familie, die sich hervorragend kümmere. Der Clou ist, dass Jorge Bergoglio bei einer Gerichtsverhandlung vor wenigen Jahren zu dem Thema sagte, dass er zum ersten Mal von den geraubten Babys höre.

Auch wenn es immer wieder mutige Priester gab, die versuchten, Widerstand zu leisten, so kollaborierte die Führung der katholischen Kirche offen und systematisch mit der argentinischen Militärdiktatur, die sich als Bollwerk gegen den Kommunismus (und dessen Religionsfeindlichkeit) präsentierte. 30.000 Menschen wurden im sieben Jahre dauernden „schmutzigen Krieg“ der Diktatur umgebracht. Ein Beispiel für die Rolle der Kirche ist der Fall des Ex-Kaplans der Polizei von Buenos Aires. Christian von Wernich wurde 2007 wegen siebenfachen Mords, 31-facher Folter und 42 Entführungen zu lebenslanger Haft verurteilt.

Ebenso emblematisch ist ein Ereignis aus dem Jahr 1979: Aufgrund starker internationaler Kritik gestattete die Junta der Interamerikanischen Menschenrechtskommission einen Besuch. Diese wollte auch die Marineschule Esma in Augenschein nehmen, das berüchtigste Foltergefängis der Diktatur mitten in Buenos Aires. Um die Gefangenen vor den Augen der Kommission zu verbergen, wurden sie auf die Fluss-Insel El Silencio im Stadtteil Tigre gebracht. Dies geschah mit Einwilligung der Kirche, der die Insel gehörte. Es entstand ein Konzentrationslager auf katholischem Grund. So etwas hat es später nur noch in den katholischen Kirchen Ruandas während des Genozids gegeben. 2012 baten die argentinischen Bischöfe unter Bergoglio Führung um Vergebung für ihre Fehler. Doch die Erklärung wies die Schuld für die Gewalt zu gleichen Teilen dem Militär wie den Montoneros zu, der kleinen linken Guerillabewegung.

Trotz dieser Vergangenheit ist Papst Francisco nicht so einfach in die üblichen Links-Rechts-Kategorien einzuordnen wie seine beiden reaktionären Vorgänger. Früher war er ein erbitterter Gegner der internationalen Finanzinstitutionen und ihrer neoliberalen Strukturanpassungsprogramme. Und mit der derzeitigen argentinischen Präsidentin Cristina Fernández Kirchner unterhält er zwar eine angespannte Beziehung – unter anderem wegen der Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Argentinien. Gleichzeitig aber kritisierte er sie von links: Sie tue nicht genug gegen die Armut, die Schere zwischen Unten und Oben öffne sich immer weiter. Nun gehörte Kirchner zu den ersten, die Bergoglio zum Papstamt gratulierten. Es ist zu vermuten, dass sie ihn lieber in Rom sieht als in Buenos Aires.