Vielleicht liegt der Schlüssel zum Verständnis der somnambulen Zeichenkunst des Friedrich Karl Waechter in vier Episoden aus frühester Kindheit verborgen. Wir wollen sie überschreiben mit „Vater“, „Gott“ „Alles“ und „Geschlecht“.
Waechter selbst, der aus Anlass seines 65. Geburtstages mit einer Retrospektive im Willy-Brandt-Haus geehrt wird, berichtet die folgenschweren Ereignisse mit lakonischer Beiläufigkeit.
„Vater“: 1939, als Fritz Karl Waechter zwei Jahre alt ist, „zieht Vater in den Krieg. Ich bleibe mit Papp-Stahlhelm zurück“ in Danzig. Der Vater bleibt mit Steckschuss in Dnjepopetrowsk und Waechter fortan vaterlos. Hat es nun vor Waechters „Unter der Brücke“ von 1977 einen Cartoon gegeben, der die wütende Vergeblichkeit der Suche nach dem verlorenen Vater fühlbar machte? In fünf einfachen Bleistift-Zeichnungen bringt Waechter das Kunststück fertig – und entlockt einer Betrachterin im Willy-Brandt-Haus noch ein Vierteljahrhundert später ein unverschämtes Lachen.
Dabei entdeckt lediglich ein junger Mann unter einer Brücke, die nirgendwo steht, seinen abgerissenen Vater. Am nächsten Tag schaut er erneut nach ihm, doch der Vater ist verschwunden. War alles nur ein Traum? Der Sohn findet einen Zettel mit einer unbeholfenen Zeichnung. Darauf ist ein über die Brücke gebeugter junger Mann zu sehen, überschrieben mit „Mein Sohn“.
Im Interview beschreibt Waechter die Vaterlosigkeit als das Fehlen eines Trainingspartners, um mit erwachsenen Männern wie den Lehrern „fertig zu werden“. Trainingspartner Waechters wird fortan der Zeichenstift, mit ihm arbeitet er sich an Familie und Erwachsenenwelt ab. Nachdem ihn die Hamburger Kunstakademie abgelehnt hat, absolviert Waechter ab 1957 eine Ausbildung zum Gebrauchsgrafiker. Er schlägt sich mit Entwürfen für Friseurartikel-Etiketten und Sonderangebots-Aufsteller durch, findet das aber so „niederschmetternd“, dass er nebenher Karikaturen zu zeichnen beginnt. Sein Vorbild ist Saul Steinberg. Später nimmt ihn die 68er-Bewegung, für die er sich mit 30 Jahren schon zu alt fühlt, dankbar auf. Waechters Kinderbücher gehören in den Siebzigerjahren zum Inventar jedes antiautoritären Haushalts. Meistens geht es um Erwachsene, die ihren Kindern auf die „Köpfe klopfen“. Die Kinder aber sind schlauer, wie im berühmten „Anti-Struwwelpeter“ von 1970, und gehen in den Kinderladen.
Der aufklärerische Eifer Waechters wäre freilich nicht denkbar ohne den Einfluss der „Neuen Frankfurter Schule“, die sich seit Anfang der Sechzigerjahre in der Redaktion des Satiremagazins „Pardon“ trifft. Chlodwig Poth, Robert Gernhardt, F. W. Bernstein und eben jener Waechter treiben im Dunstkreis anderer junger bundesrepublikanischer Edelfedern (Enzensberger, Wallraff, Broder, Henscheid etc.) ihr satirisches Unwesen. Man möchte nicht nur „geißeln, spotten und beleidigen“, sondern auch „antäuschen und verwirren, verscheißern und verhohnepipeln“, lautet das Credo der Redaktion. „Es gibt kein richtiges Leben im valschen“, dichtet Gernhardt einmal frei nach Adorno. Aus „Pardon“ geht 1979 das „endgültige Satiremagazin“ „Titanic“ hervor, das Waechter Anfang der Neunzigerjahre wieder verlässt, weil es Nonsens vor Aufklärung stellt.
„Gott“: Wo die Institutionen nichts gelten, da kann folglich auch der Allmächtige nicht viel erwarten. „1946 errege ich zum ersten Mal Heiterkeit mit einer Zeichnung, die Gott in Gummistiefeln, bartlos und mit Jägerhütchen zeigt, wie er Moses auf dem Berg Sinai die Gesetzestafeln überreicht. Ich bin sehr gekränkt.“ Seitdem gehört Gott zum Aushilfspersonal Waechters. Es ist ein gutmütiger Gott, der auch mal zu Besuch kommt, um über die gefährdete Aufnahme in den Himmel zu sprechen. Den Erwachsenen verleiht er vier Nasen und den Tieren die Gabe der Sprache. Womit wir mit quietschenden Reifen die Kurve zu „Alles“ genommen hätten. „1948 erntete ich bei den Dorfjungen Anerkennung mit der Behauptung, alles zeichnen zu können.“ Die Hybris hat der kleine Waechter nie bereut. Denn der große Waechter kann wirklich alles zeichnen. Aus seinem Zeichenstift fließt „Lebendiges, Genaues, Begnadetes gleich einem Liebesrausch“, wie Kollege Hans Traxler bemerkt.
Der Gnade des zeichnerischen Odems hat die Bundesrepublik einige ihrer liebenswürdigsten Bewohner zu verdanken. Es ist die Gans, die kopfüber in einem Stiefel steckt und denkt: „Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein.“ Es ist das Schwein, das guckt und denkt: „toll“. Und natürlich das Huhn, dem der Spaziergänger die Hand auf die Stirn legt und ruft: „He Bauer, dein Huhn hat Fieber.“ Huhn und Schwein sind Stammpersonal in Waechters Welt, sie haben ihn bekannt gemacht. Ebenso die Eule im Norwegerpulli, „einer der schicksten Vögel im Walde“. Was daran lustig ist? Vielleicht das Selbstverständliche, das Emanzipatorische, die Unmöglichkeit säuberlich zwischen ernsthafter und komischer Geste zu unterscheiden?
Die verwirrende Wirkung seiner Kunst hat Waechter in den letzten 25 Jahren zunehmend ins Subtile gewendet, wie die Retrospektive besonders im zweiten Teil verdeutlicht. Unter den Künstlern der „Neuen Frankfurter Schule“ ist Waechter technisch vielleicht der brillanteste. Er aquarelliert, nutzt verschiedene Collagetechniken, die Pointen werden immer unergründlicher: „Ich schlage die Klappstulle auf und lese die wunderbaren Verse, die Mutter mir in die Mettwurst geritzt hat.“ Was für ein Familiendrama!
Und damit zu „Geschlecht“. 1948, „hinter der Scheune zeichne ich mit Ilse Bork Vermutungen in den Sand, wie es beim anderen zwischen den Beinen aussieht. Ilses Formulierung ist neu für mich und sehr beeindruckend.“ An Fräulein Borks Vorgabe hat Waechter sich gehalten. „Am Abend hilft die Jägerin dem Jäger in die Negerin“ oder „Adele zeigt ihren Brüsten die Männer“ sind heute verstörende Klassiker der erotischen Literatur. Erneut steckt der Gestus der Aufklärung im Unverschämten. Der frontale Blick auf Schnippel und Schnecke reißt sie aus dem Reich der Verklärung. Sexualität ist Alltag, sagt Waechter, genauso wie schicke Eulen, fiebernde Hühner, staunende Schweine, Wurst und Gott.