Er habe sich, sagt Liniker Barros, heute nicht nach Kleid und Lippenstift und gefühlt. Heute sei einfach ein Jeans- und T-Shirt-Tag. Und außerdem sei es doch völlig egal, was er trage: Rock, Kleid oder Hosen. „Ich bin frei“, sagt Liniker. „Ich zeige mich so, wie ich mich fühle. Und ich will andere ermutigen, das auch zu tun.“
Es ist ein heißer Freitagabend in Rio de Janeiros Vergnügungsviertel Lapa. Liniker Barros kommt in das Foyer des kleinen Design-Hotels, wo er mit seiner Band abgestiegen ist. Er umarmt einen herzlich, zwei Küsschen, so gehört sich das in Brasilien. Wir setzen uns, er rückt sich die schwarze Brille zurecht, streicht sich durch seine halblangen Zöpfe und schürzt die Lippen etwas theatralisch.
Am kommenden Abend wird Liniker mit seiner sechsköfigen Band, Os Caramelows, in Rio auftreten. Der Kartenvorverkauf für das Konzert lief äußerst gut. So wie schon auf der ganzen Tournee. Dabei sind von „Liniker e os Caramelows“ bisher nur drei Songs öffentlich. Letzten Oktober stellte die Band die Videos dazu bei Youtube ein. Sinnlicher Soul, cooler Funk, entspannter Pop. Aufgenommen im Wohnzimmer eines der Bandmitglieder. Eigentlich nichts Spektakuläres. Aber die Videos verbreiteten sich rasend, wurden bis heute mehr als zwei Millionen mal angeklickt.
Nun wird Liniker als Stimme des neuen brasilianischen Soul gefeiert. Auf seinen Shows präsentiert er rund ein Dutzend weiterer Songs, alle aus seiner Feder. Ein richtiges Album soll im Herbst erscheinen, sagt Liniker. Danach plane man eine Tour durch Europa.
Doch nicht allein mit solidem Songwriting, einer druckvollen Produktion sowie der reifen Stimme ist der so unmittelbare Erfolg Linikers zu erklären, dessen Vorname übrigens auf Vorschlag eine Onkels zustande kam, der Fan des englischen Fußballers Gary Lineker war.
In seinen Videos präsentiert sich der 20-Jährige mit langem Rock, schweren Ohrringen, schwarzem Lippenstift und einem Turban, wie er von immer mehr schwarzen Brasilianerinnen getragen wird – als Ausdruck eines neuen schwarzen Selbstbewusstseins. Auf dem Konzert am nächsten Tag wird Liniker ein besticktes Kleid und Lippenstift tragen. Er sagt, dass das mittlerweile von ihm erwartet werde, es sei sein Markenzeichen geworden. Seine Vorbilder: Etta James, Nina Simone, Beyoncé. Aber als Diva tritt Liniker nicht auf, er steigt ins Publikum hinab, sucht den Kontakt, flirtet mit seinen Backgroundsängerinnen, lässt sich von ihnen die Show stehlen.
Liniker bringt die Vorzeichen durcheinander. Im Gespräch will er sich nicht festlegen, ob er ein Mann oder eine Frau sei. Als man ihm erzählt, dass es im Deutschen nicht nur weibliche und männliche Substantive, sondern auch neutrale gibt, sagt Liniker: „Das bin ich! Weder männlich noch weiblich. Man muss sich selbst zerstören, um sich neu zu erfinden.“
Liniker, der ein flaumiges Bärtchen trägt, spielt mit den Geschlechteridentitäten. Zu seine sexuellen Präferenzen sagt er: „Eu sou bicha!“ – Ich bin eine Tunte! In Brasilien ist bicha ein Schimpfwort. Aber Liniker deutet den Begriff um, bemächtigt sich seiner. „Es ist wunderbar, eine bicha zu sein!“ Außerdem sei er eine schwarze bicha. Die Hautfarbe ist in Brasilien nach wie vor ein entscheidender Faktor für die Chancen eines Menschen im Leben. Liniker nimmt es mit gleich zwei Stereotypen auf.
Es scheint, als ob der Musiker, der aus der brasilianischen Provinzstadt Araquara im Bundesstaat São Paulo stammt, einen Nerv getroffen hat. Einerseits wird Brasilien gerade von einem neuen „conservadurismo“ erfasst, wie Liniker sagt. Der Kongress ist der Konservativste seit Brasiliens Rückkehr zu Demokratie vor 30 Jahren. Viele Abgeordnete verfolgen eine autoritäre Agenda, sprechen Frauen, Homosexuellen, Transsexuellen die Rechte ab. Und auch die brasilianische Gesellschaft ist konservativer als es oft scheint. Fast 40 Prozent der Brasilianer sagen, dass sie die Homosexualität ihres Kindes nicht akzeptieren würden. Die Ablehnung übersetzt sich in Gewalt. Laut der Schwulenvereinigung Grupo Gay da Bahia (GGB) werden in Brasilien jedes Jahr mehr als 300 Schwule, Lesen und Transvestiten ermordet.
Gleichzeitig aber gibt es eine neue Generation von Brasilianern, die alte Rollenmuster nicht mehr akzeptiert. „Wir sind es leid, still zu halten“, sagt Liniker, „Wir wollen die sozialen und sexuellen Panzer durchbrechen, die uns einzwängen.“ Seine lasziv-poetischen Texte, sagt er, seien Liebesbriefe an Männer, die er sich nie getraut habe, zu schreiben.
Liniker macht mit seinem Körper Politik. Vielleicht ist er so selbstbewusst, weil er zwar ohne Vater aber von einer liebenden Mutter großgezogen wurde. „Sie unterstützt mich in allem“, sagt er. Das habe ihm geholfen, sich in einer machistischen Gesellschaft nicht zu schämen. In seiner Heimatstadt Araquara gebe es nun eine kleine Gruppe junger Männer, die sich mit Röcken und Lippenstift zeige. Liniker sagt: „Sie nehmen sich die Freiheit. Wenn ich sie dazu ermutigt habe, bin ich glücklich.“