Brasiliens kaputte Demokratie

Brasiliens kaputte Demokratie

Szene 1: Das Pfeifkonzert beginnt nach dem Abspielen der Nationalhymnen. Es gilt Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff auf der Ehrentribüne. Sie ist zum Eröffnungsspiel zur Fußball-Weltmeisterschaft 2014 erschienen.

(Text mit Constantin Wissmann)

Austragungsort ist São Paulo, die größte Stadt Brasiliens. Deren hellhäutige Oberschicht steht Rousseffs Arbeiterpartei (PT) ablehnend bis feindselig gegenüber. Aus dieser Oberschicht setzt sich das Publikum am heutigen Abend zusammen (die Eintrittskarten sind für die Ärmeren zu teuer). Und aus ihren Reihen stammen auch die Besucher der VIP-Logen, die Präsidentin Rousseff als „Hurentochter“ beschimpfen.

Viele Brasilianer an den Fernsehschirmen trauen ihren Ohren nicht, denn dieser aggressive Ton ist neu in der politischen Auseinandersetzung. Die Zeitschrift „Carta Capital“ kommentiert: „Es zeigt sich die brutale Gleichgültigkeit der brasilianischen Elite gegenüber den Institutionen.“ Es handle sich um eine präpotente, vulgäre und arrogante Gruppe, die sich noch in den Herrenhäusern der Kolonialismus wähne und jede Form von Sozialpolitik ablehne.

Dass sich nach dem Vorkommnis zudem die beiden wichtigsten Gegenkandidaten zu Dilma Rousseff bei den Präsidentschaftswahlen am 5. Oktober nicht zu den Beleidigungen positionieren wollen, besorgt besonnenere Beobachter. Aécio Neves von der Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB) und Eduardo Campos von der Sozialistischen Partei Brasiliens (PSB) meinen, dass die Ausfälle nur bewiesen, wie unpopulär die Präsidentin sei. Rousseff liegt in Umfragen derzeit bei 40 Prozent, Neves bei 20 Prozent, Campos bei zehn Prozent. Für beide wäre es ein Erfolg, Rousseff in die Stichwahl zu zwingen.

Szene 2: Rund 5000 Menschen ziehen durch das Zentrum von Rio de Janeiro. Es ist der Morgen vor dem WM-Auftaktspiel, die Demonstration steht unter dem Motto: „Unsere WM ist auf der Straße“. Mit dabei: Musikgruppen, Feministinnen, streikende Lehrer, Kommunisten, vermummte Jugendliche, Favelabewohner. Auf einem Transparent steht: „Brasilien ist schon Weltmeister – der Korruption.“

Zufrieden überschaut Gustavo Mehl den Protestzug: „Ich bin Realist“, sagt er zur geringen Zahl der Demonstranten, „die Leute haben Angst vor der Polizei“. Der 31-jährige Stadtforscher ist Sprecher des „Volkskomitee zur WM“, dem wichtigsten WM-kritischen Sammelbecken in Rio. Jährlich erstellt es ein Dossier über die Folgen der WM-Vorbereitungen: Darin werden Menschenrechtsverletzungen aufgelistet, Korruptionsfälle beschrieben, Militarisierung und Privatisierung der Spielorte angeprangert.

Als der bunte Zug den Stadtteil Lapa erreicht, warten dort schon Militärpolizisten mit gezückten Knüppeln. Es dauert nicht lange, bis sie losschlagen. Man sieht Polizisten, die Demonstranten Tränengas in die Augen sprühen, andere schlagen Festgenommene mit Fäusten ins Gesicht. Waren das nicht die Bilder, die man vermeiden wollte?

Die beiden Episoden zeigen, wie sehr sich Brasilien vor der Fußball-Weltmeisterschaft polarisiert hat. Als „politisierteste WM aller Zeiten“ bezeichnet die Zeitung „Folha de S. Paulo“ das Event.

Womit hat dies zu tun? In Brasilien sind in den letzten Jahren zahlreiche Widersprüche aufgebrochen, die von der Politik ignoriert werden. Die Massenproteste vom Juni 2013 mit mehreren Millionen Teilnehmern waren Ausdruck dieser Entwicklung. Die Menschen kamen spontan, folgten weder den Aufrufen von Parteien oder Gewerkschaften und hatten eine Vielzahl an Forderungen: mehr Demokratie, Gerechtigkeit, Bildung, Gesundheit, Sicherheit. Die erste Reaktion auf die Proteste im In- und Ausland: Erstaunen.

Ein Jahrzehnt lang – seit der Wahl von Inácio Lula da Silva zum Präsidenten 2002 – war Brasilien als neue Großmacht gefeiert worden. Lula hatte die Menschen mit dem Versprechen für sich gewonnen, eine gerechtere Nation zu schaffen. Der immense Reichtum Brasiliens sollte endlich allen zugute kommen. Die Politik transparenter werden.

Schon bald rief die Regierung groß angelegte Sozialprogramme ins Leben – etwa „Bolsa Família“, eine Art Grundsicherung für die Armen. Gleichzeitig wuchs die Wirtschaft des Landes jedes Jahr um durchschnittlich vier Prozent, Brasilien eliminierte seine Schulden beim IWF, und der Mindestlohn wurde kontinuierlich angehoben. Er liegt heute bei umgerechnet 240 Euro. Die Mittelklasse wuchs auf mehr als 50 Prozent der Bevölkerung – sie wurde allerdings großzügig definiert: ab einem Einkommen von 575 Euro im Monat.

2010 wählten die Brasilianer dann Lulas Parteikollegin Dilma Rousseff zur Präsidentin. Sie setzte seinen Kurs fort: Exporte, Sozialprogramme, große Infrastrukturprojekte. International wurde Brasilien jetzt als das „Land der Zukunft“ betrachtet, als das es schon so lange gegolten hatte. Der britische „Economist“ titelte 2010 zum Bild einer fliegenden Christus-Statur: „Brasilien hebt ab“.

Aber die Euphorie täuschte über Brasiliens strukturellen Defizite in Bildung, Sicherheit, Gesundheit und Rechtswesen hinweg. Bei der jüngsten Pisa-Bildungsstudie etwa erreichte das Land nur Platz 58 von 65 Nationen. Das verwundert wenig, werden Brasiliens Lehrer doch miserabel bezahlt, erreichen ihre Löhne oft nicht einmal 1000 Euro. Gleichzeitig gönnt sich das Land die zweitteuerste Hauptstadt der Welt: mit 39 Ministerien und Abgeordnetendiäten von umgerechnet 9000 Euro.

Weiterhin gilt Brasiliens öffentliches Gesundheitswesen als katastrophal. Schwangere, die im Wartesaal gebären, sind keine Seltenheit. Brasilien zählt mit 29 Morden pro 100.000 Einwohnern zu den gewalttätigsten Ländern der Welt. Auch die Polizei ist mörderisch: Fünf Brasilianer werden Im Durchschnitt jeden Tag von Polizisten getötet. Die Sicherheitskräfte wurden seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 nie reformiert, ein Verständnis von Bürgerrechten ist dort nicht vorhanden.

Die Liste ließe sich fortsetzen: Brasilien hat ein veraltetes öffentliches Transportsystem, innovative Lösungsansätze sucht man vergeblich. Unregelmäßigkeiten bei öffentlichen Ausschreibungen werden täglich von der Presse berichtet – oft ohne Konsequenzen. Das Steuersystem ist zwar einfach, bevorzugt aber überproportional die Wohlhabenden.

Vor diesem Hintergrund wird die Unzufriedenheit der Brasilianer plausibel: Der Aufstieg zur sechstgrößten Ökonomie der Welt hat für viele Persönliches Fortkommen bedeutet – übersetzt sich aber nicht in eine angemessene öffentliche Infrastruktur. „Viele Brasilianer fühlen sich heute als Konsumenten, aber nicht als Bürger ernst genommen“, sagt die Politologin Sonia Fleury vom Instituto Getúlio Vargas.

Kristallisationspunkt für die Unzufriedenheit war und ist die Fußball-WM, deren Kosten für die Allgemeinheit zurecht als pervers empfunden werden. Es steht außer Frage, dass große Summen in private Taschen umgeleitet wurden.

Brasiliens Opposition und die mit ihr verbündeten großen Medienhäuser versuchen nun, die Unzufriedenheit auf ihre Mühlen umzuleiten. Sie beschwören nicht nur das vermeintliche „Chaos auf den Straßen“, sondern bauschen auch den Stimmenkauf der Arbeiterpartei PT aus den Jahren 2003/2004 zum größten Korruptionsskandal Brasiliens auf. Das Betrugsschema, das unter dem Begriff „Mensalão“ bekannt wurde (fettes Monatsgehalt), involvierte Parteien, Unternehmer und Banker. Tatsächlich bedeutete es die Entzauberung der PT, die angetreten war, um eine andere Politik zu machen. Der Skandal beschleunigt den Parteienverdruss.

Als Reaktion auf die Proteste hat Präsidentin Rousseff eine Volksabstimmung über eine Reform des politischen Systems vorgeschlagen. Ihr Vorstoß wird jedoch vom Kongress blockiert, der von unzähligen Partikularinteressen dominiert wird. Es zeigt sich einmal mehr, dass die Behebung grundlegender demokratischer Defizite in Brasilien so gut wie unmöglich ist.

Dies hat mit den Geburtsfehlern der Präsidialdemokratie zu tun. Nach außen hin präsentieren die Politiker das System als Checks-and-Balances, das eine Rückkehr autokratischer Kräfte verhindere. Viele Bürger empfinden es jedoch mittlerweile als Mechanismus, der einzig dazu dient der politischen Kaste ein ständiges Auskommen zu sichern.

Da ist zum einen die Verfassung von 1988 selbst: ein Dokument, so dick wie ein Telefonbuch und ebenso schwierig zu lesen. Mit den Jahren wurden immer mehr Zusatzartikel angefügt, die sich oft widersprechen und als Argument für und gegen jede Entscheidung dienen können. Widersprüchlich ist schon die Regierungsform selbst. Zwar wird der Präsident direkt vom Volk gewählt, aber er verfügt über viel weniger Macht als etwa der in den USA. Er ist ein „zahnloser Diktator“ auf Zeit, der sich seine Mehrheiten im Kongress suchen muss. Dieser verhält sich aber oft als Fallensteller.

Er besteht aus zwei Kammern, Senat und Abgeordnetenhaus. Deren Handeln wird von einer regionalen Unwucht dominiert. Da jeder der 26 Bundesstaaten unabhängig von seiner Einwohnerzahl drei Senatoren stellt, werden der Norden und Nordosten gegenüber dem dicht besiedelten Südosten stark bevorteilt. Bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus herrscht ein ähnliche Ungleichgewichtung von Wählerstimmen.

Eine Hinterlassenschaft der Kolonialzeit erschwert dabei gerade in den armen Regionen des Nordostens den demokratischen Prozess. Die Mehrheit der Bevölkerung bleibt dort wegen ihrer geringen Bildung von ihm ausgeschlossen. Stattdessen haben wenige reiche Familien das Sagen. Der Bundesstaat Maranhão etwa wird seit 50 Jahren von der Familie des früheren Präsidenten José Sarney beherrscht. Maranhãos Repräsentanten in Brasilia sind kaum mehr als seine Marionetten.

Während Senatoren auf acht Jahre direkt gewählt werden, ziehen die Abgeordneten durch ein sogenanntes „personalisiertes Verhältniswahlrecht“ für vier Jahre ins Parlament ein. Das heißt: Abgeordnete kandidieren auf der Liste einer Partei, und die Zahl der gewählten Abgeordneten richtet sich nach den kumulierten Stimmen für die jeweilige Liste. Doch werden die Parlamentssitze nicht wie etwa in Deutschland in der Listenreihenfolge an die Abgeordneten vergeben, sondern nach ihrer jeweiligen persönlichen Stimmenzahl. Ein Kandidat wirbt also im Wahlkampf primär für sich selbst. Stimmenkauf, etwa mit Kühlschränken, gehört zur Strategie.

Das hat zur Folge, dass man im Parlament vergeblich nach programmatischen Ideen sucht. Über eine klare Ideologie verfügt unter den großen Parteien nur die 1980 gegründete Arbeiterpartei PT. Sie ist mit 1,5 Millionen Mitgliedern Brasiliens zweitgrößte Partei und verfolgt ein altes sozialdemokratisches Modell, etwa staatliche Sozialprogramme.

Wichtigster Partner der PT ist Brasiliens größte Partei: die PMDB (Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens). Während der Militärdiktatur war sie die einzige zugelassene Opposition und stellte von 1985 bis 1990 mit José Sarney den Präsidenten. Klar definierte Ziele hat die PMDB nicht, ist aber als wirtschaftsliberaler einzuschätzen als die PT.

Deren größter Gegenspieler ist die PSDB (Sozialdemokratische Partei Brasiliens). In ihr sammeln sich seit der Gründung 1988 rechte Sozialdemokraten, Sozialliberale und Christdemokraten. Sie werden „Tucanos“ genannt, wegen des im Wappen abgebildeten Vogels. PSDB-Mitglied Fernando Henrique Cardoso war von 1994 bis 2002 Präsident.

Neben diesen drei sind derzeit 20 weitere Parteien im Parlament vertreten. Die meisten kann man zugespitzt als Vehikel zum Machterhalt von Einzelpersonen bezeichnen. So ist es üblich, dass Politiker kurz vor Wahlen noch die Partei wechseln oder eine neue gründen, wenn es ihre Chancen erhöhen sollte. Dabei hilft ihnen das Fehlen einer Fünf-Prozent-Hürde. Eine Zusammenarbeit über Fraktionsgrenzen hinweg ist üblich, und permanent werden neue Netzwerke geknüpft, meist unter Ausschluss der Öffentlichkeit: in Industriellenklubs, Wirtschaftsverbänden, religiösen wie militärischen Kreisen.

Auch eine Begrenzung von Parteispenden gibt es nicht. So stammen etwa drei Viertel der Einnahmen der PMDB vom Baukonzern Odebrecht. Das Resultat ist ein undurchsichtiges Biotop mit verschlungenen Nahrungsketten, das von der Öffentlichkeit nicht nachvollzogen werden kann. „Im Parlament geht es zu wie auf dem Pferdemarkt“, klagte Ex-Präsident Henrique Cardoso.

Präsidentin Dilma Rousseff verfügt zurzeit über eine Koalition mit stabiler Mehrheit: 402 von 513 Abgeordneten im Parlament; 49 von 81 Senatoren im Senat. Doch zu der Allianz gehören zehn Parteien, die sich sehr stimmungsabhängig verhalten, weswegen Rousseff sich immer wieder neue Mehrheiten suchen muss.

Selbst wenn Dilma Rousseff also die Wahl am 5. Oktober gewinnen sollte, ist zweifelhaft, ob sie, wie versprochen, das politische System transparenter gestalten kann. Der Politologe Carlos Melo von der Hochschule Insper in São Paulo meint zu politischen Reformen: „Diejenigen, die das Spiel gewinnen, werden die Spielregeln nicht ändern.“ Ebenso unwahrscheinlich ist es deswegen, dass Brasiliens Widersprüche in absehbarer Zeit gelöst werden.