Es waren die größten Demonstrationen, die Brasilien seit den Massenprotesten vom vergangenen Juni erlebte. In Rio de Janeiro gingen am Montagabend mehrere Zehntausend Menschen auf die Straße, um gegen die katastrophale Bildungspolitik von Stadt- wie Landesregierung zu demonstrieren.
In Sao Paulo fanden Solidaritätsmärsche mit den Lehrern in Rio statt. Außerdem wurde gegen die Knappheit von Wohnraum und das Recht auf Hausbesetzung demonstriert. In der Stadt Belém am Amazonas entzündeten sich die Proteste an der Forderung nach einer besseren Wasserversorgung, die dort ebenso schlecht funktioniert wie in vielen anderen Orten Brasiliens.
In allen drei Städten kam es am Ende der Märsche zu teils extrem gewalttätigen und zerstörerischen Randalen und Auseinandersetzungen mit der Polizei. In São Paulo explodierte ein von Randalierern auf ein Feuer gekipptes Auto, was mehrere Verletzte zur Folge hatte. In Belém wurden Demonstranten von Gummigeschossen der Militärpolizei verletzt. In Rio de Janeiro attackierte hingegen der mittlerweile auf eine beträchtliche Größe angewachsene Schwarze Block aus vermummten und radikalisierten Jugendlichen Rios Stadtparlament, zündete einen Bus an und schlug mehrere Bankfilialen im Zentrum der Stadt kurz und klein. Die Polizei, die sonst beim geringsten Anlass wahllos Tränengas und Lärmbomben abfeuert, war zunächst nirgends zu sehen. Erst später am Abend wurde die Schocktruppe der Polizei in den Einsatz geschickt, der wie immer mit sinnlosen Verfolgungsjagden und unrechtmäßigen Festnahmen endete.
Rios Landesregierung reagierte mit dem einstweiligen Komplettabzug der Beamten offenbar auf die skandalösen Aktionen der Militärpolizei während der vorangegangenen Bildungsdemonstration vor genau einer Woche: Da prügelten Beamte wahllos auf Lehrer ein, bewarfen diese von Dächern aus mit Gegenständen und versuchten, Protestierern Feuerwerkskörper unterzuschieben, um sie anschließend festzunehmen. Ein Beamter posierte nach der Demo mit seinem zerbrochenen Schlagstock und schrieb dazu auf Facebook: „Ich war böse, Lehrer.“ Nicht wenige Beobachter fragten sich, was das für ein Land ist, in dem schlecht bezahlte Polizisten wie blöde auf ebenso schlecht bezahlte Lehrer einprügeln.
Die Polizeigewalt hatte für die Demos nun sicherlich einen mobilisierenden Effekt. Die anschließenden Randale in Rio lieferten dann jedoch erneut den auf sensationalistische Bilder ausgerichteten Fernsehnachrichten genügend Material, um sich nicht mit den Forderungen der Lehrer auseinandersetzen zu müssen.
Diese streiken schon seit mehr als zwei Monaten, um gegen ein neues Gesetz zu protestieren, dass ihre Arbeitszeiten und Bezahlung neu regelt – dabei allerdings völlig an der Realität der Lehrkräfte vorbeigeht. Denn die drängendsten Probleme werden nicht einmal erwähnt: Schulzimmer mit zerbrochenen Fenstern und Löchern in der Decke, Klassenstärken von 40 oder mehr Schülern, fehlende Stühle, Tische und Bücher, keine Zeit für Lehrerfortbildung. Mit welchem Lehrer man sich auch immer auf der Demo unterhielt, es waren stets die gleichen Klagen. Was ihren Ärger zusätzlich befördert: Die Politik hatte vor der Verabschiedung des Gesetzes keinen Dialog mit der Lehrergewerkschaft geführt.
Die 49-jährige Geografielehrerin Emilia Giordano, die seit 25 Jahren an einer Grundschule arbeitet, sagte dem Tagesspiegel: „Wir kämpfen für eine Bildung mit der Qualität, wie sie sich für die angeblich sechstgrößte Wirtschaftsnation der Welt gehört.“ Man werde nicht aufhören, zu demonstrieren bis man die Ziele erreicht habe: „Wenn das Rathaus Krieg will: Bitteschön!“ Manche Lehrer in Rio verdienen umgerechnet gerade mal 360 Euro, was bei den immer weiter steigenden Lebenshaltungskosten ein Hungerlohn ist.
Doch nicht nur Lehrer, auch Tausende Schüler waren auf der Straße. Rund 400 von ihnen vermummt und gewaltbereit. „Wir sind hier um unsere Lehrer vor der Polizei zu schützen“, sagte ein 15-Jähriger mit einem selbstgebastelten Schutzschild aus Holz in der Hand und einer Tüte voller Magnesiumpulver gegen das Tränengas. Seinen Namen wollte er dem Tagesspiegel nicht nennen. Ob zur Verteidigung auch das Verwüsten von Bankfilialen gehöre? „Es sind kapitalistische Institutionen, die dazu dienen, die Bevölkerung zu unterdrücken.“
Die Auseinandersetzung um die Bildung in Rio zeigt, dass es in Brasilien weiter gärt. Umfragen zufolge unterstützen 90 Prozent der Brasilianer die Forderungen nach besserer Bildung, Gesundheit, Sicherheit und einem verstärkten Kampf gegen die Korruption. Der Bildungskampf in der zerrissenen und reizbaren Stadt Rio ist dabei nur das sichtbarste Zeichen für das Unwohlsein breiter Bevölkerungsschichten. „Unsere Politiker sind das Ergebnis unseres Bildungssystems“, war auf dem Transparent eines Lehrers zu lesen. Auf einem anderen hieß es: „Spart euch euer Tränengas – Wenn ich weinen will, muss ich bloß auf meinen Gehaltsscheck schauen.“ Erst dieser Tage hat die britische Economist Intelligence Unit (EIU) eine groß angelegte Bildungsstudie veröffentlicht. Brasilien rangiert darin auf dem vorletzten Platz von 40 Ländern. Nur Indonesien ist noch schlechter.
Foto: Pablo Vergara