Die vier Polizisten hatten sich einen Hinterhalt ausgedacht, wollten eine Gruppe Drogendealer in der Favela Lagartixa stellen.
Als ein weißer Fiat Palio vorfuhr, feuerten sie aus Gewehren und Pistolen, durchsiebten das Auto mit mehr als fünfzig Kugeln. Alle fünf Insassen des Wagens starben im Kugelhagel: fünf Junge Männer, der älteste 25 Jahre alt, zwei erst 16 Jahre jung, Freunde seit der Kindheit. Keiner von ihnen war kriminell, sie hatten das erste Gehalt eines von ihnen gefeiert. Die Polizisten fälschten anschließend den Tatort, platzierten eine Pistole und behaupteten sie seien beschossen worden. Eine Lüge, die aufflog.
Die brasilianischen Medien bezeichnen den Vorfall, der sich vergangenes Wochenende ereignete, als „Exekution“. Weniger als ein Jahr vor den olympischen Spielen zeigt er einmal mehr die verbrecherische Inkompetenz von Rio de Janeiros Polizeikräften. Laut der NGO Brasilianisches Forum für Öffentliche Sicherheit tötete die Polizei des Bundesstaats allein vergangenes Jahr 965 Menschen. In ganz Brasilien waren es 3022, also rund acht pro Tag. Die Zahlen belegen einen erneuten Anstieg der Polizeigewalt, die über mehrere Jahre lang zurückgegangen war. Es ist kein Geheimnis, dass viele brasilianische Polizisten lieber schießen als Fragen stellen. Auch Hinrichtungen von Festgenommenen sind kein Seltenheit, nur die wenigsten Fälle werden untersucht. Viele Polizisten haben gelernt, wie man Taten vertuscht und agieren nach dem Motto: „Toter Bandit, guter Bandit“. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nennt Brasiliens Polizei die „mörderischte der Welt“.
Die Gewalttätigkeit hat mehrere Ursachen: Seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 wurde die hiesige Polizei nie reformiert, sie ist immer noch eine Militärpolizei, die einen Corpsgeist pflegt, in dem es nur Freunde und Feinde gibt, aber keine Bürger. Die Polizisten sind schlecht ausgebildet und werden chronisch unterbezahlt. Zur Wahrheit gehört auch die hohe Zahl von ermordeten Beamten: 2014 waren es 98 in Rio de Janeiro und 398 in ganz Brasilien. Es ist also kein Wunder, dass viele Polizisten ihren Job als Kriegseinsatz verstehen.
Die Politik zieht es derweil vor, die strukturellen Probleme zu ignorieren. Rio de Janeiros Sicherheitschef José Beltrame erklärte nach dem Tod der fünf Jugendlichen, dass die von seinen Beamten verübten Morde auf „charakterliche Schwächen“ zurückzuführen sein, man aber nicht verallgemeinern dürfe.
Doch nicht um traurige Ausnahmen handelt es sich, wie Beltrame suggeriert, sondern um Fälle, die sich Woche für Woche, Monat um Monat wiederholen. Mitte des Jahres bewegte der Tod eines Zehnjährigen Rio de Janeiro. Er wurde von einem Polizisten in einer Favela vor seiner Haustür mit einem Kopfschuss getötet. Im September filmte die Bewohnerin einer Favela im Zentrum Rios, wie fünf Polizisten einem erschossenen Jugendlichen eine Pistole in die Hände legten. Wäre der Handyfilm nicht an die Öffentlichkeit gelangt, wäre der Tote in der Rubrik polizeilicher Notwehr registriert worden. Rechtfertigt ein Polizist seine Taten derart, wird in Brasilien so gut wie nie ermittelt. Die Favelabewohnerin, die den Handyfilm machte, wird nun anonym bedroht.
Trotz solcher schockierender Taten regt sich nur langsam Protest. Auf der Beerdigung der fünf Jugendlichen war ein Pappschild zu lesen: „Syrien ist hier“. Eine durchlöcherte brasilianische Fahne wurde getragen. In den sozialen Medien werden die Polizeimorde mit dem Terrorismus in Paris verglichen. Manche fragen, welchen Aufschrei es wohl geben würde, wenn die Toten weiß und wohlhabend gewesen wären. Tatsächlich hat sich die brasilianische Gesellschaft an den Anblick getöteter schwarzer junger Männer gewöhnt. Der Leiter der brasilianischen Sektion von Amnesty International, Átila Roque, spricht sogar von einem „Genozid“. Er belegt das mit Daten: Die große Mehrheit der Opfer der Polizeigewalt ist zwischen 15 und 29 Jahre alt, fast alles sind Männer und mehr als Dreiviertel sind schwarz, ein Äquivalent für Armut.
Erschreckend ist, dass sich in bestimmten Kreisen nun ein Diskurs ausbreitet, der die Morde auf perverse Weise als soziale Hygiene versteht. Der Leser eines Artikels über die fünf Morde in der Favela Lagartixa kommentierte in Rios Zeitung „O Globo“: „Dafür dass die Favelas voller Vagabunden stecken, tötet die Polizei noch zu wenig. Man sollte die Favelas säubern, die nichts anderes als Brutstätten nichtsnutziger Personen sind.“ Die Zeitung sah keinen Anlass den Kommentar zu zensieren.