Percy Fawcett ahnte er nicht, wie falsch er lag, als er dem Boten seinen Brief in die Hand drückte. „Du brauchst keinen Misserfolg zu fürchten“, schrieb der Entdecker darin an seine Frau Nina.
Dann stieß er mit seinem 22-jährigen Sohn Jack und dessen Freund Raleigh Rimmel zum Oberlauf des Rio Xingu vor. Es war Ende Mai 1925, und die Nachricht blieb das letzte Lebenszeichen der drei. Fawcett verschwand im brasilianischen Amazonasdschungel – und der berühmteste Forschungsreisende seiner Zeit war für immer verschollen.
Bis heute ranken sich die Legenden um Fawcett: Verhungerte der Forscher? Oder ertrank er beim Überqueren eines Flusses, attackiert von Piranhas? Raffte den damals schon 57-Jährigen die Malaria hinweg? Oder wurde er von einer giftigen Grubenotter gebissen? Ermordeten ihn die Kalapalo-Indianer, oder adoptierten sie den 1,80 Meter großen Engländer mit den funkelnden Augen, und wurde er ein weißer Indianer? Oder aber fand der zähe Fawcett am Ende doch, wonach er unermüdlich das Amazonasbecken durchkämmt hatte: die verborgene Dschungelstadt Z.
Der mysteriöse Ort hatte sein Denken und Fühlen seit Jahren wie eine Krankheit beherrscht. Hunderte von Kilometern war er auf verschiedenen Expeditionen durch den Urwald marschiert. In der Hand eine Machete, die er wie ein Schwert trug. Auf dem Rücken einen 30 Kilo schweren Rucksack. Unter der Haut dutzende Maden. Außerdem plagten ihn Myriaden von Moskitos, offene Wunden und ein nagender Hunger. Viele Begleiter Fawcetts überstanden diese Strapazen nicht oder nur knapp. Was Fawcett vor allem ärgerte, weil er seine Expeditionen durch ihre fehlende Ausdauer gefährdet sah. Denn was den verarmenden Forscher wirklich beschäftigte, war, dass seine Kollegen von der Royal Geographical Society seinen Glauben an Z nicht teilten. Man hielt Fawcett für einen „Visionär, der zuweilen Unsinn redet“.
Tatsächlich wirkte Fawcett wie übrig geblieben aus dem 19. Jahrhundert: der letzte Entdecker, der sich nur mit einem Kompass durch die Wildnis schlug und auf verborgene Zivilisationen und Naturwunder stieß. Nun jedoch gaben wissenschaftlich ausgebildete Spezialisten den Ton an. Und sie glaubten zu wissen, dass es am Amazonas nie eine Stadt gegeben haben konnte, weil der menschenfeindliche Urwald den Aufbau einer Zivilisation unmöglich machte. Der beste Beweis war, dass man im Amazonasbecken nie Ruinen gefunden hatte.
Doch die vorherrschende Meinung interessierte Fawcett nicht. Er war 1906 zum ersten Mal als Landvermesser im brasilianischen Dschungel gewesen und hatte dort selbst Orte gesehen, wo mehrere tausend Menschen lebten. Z, so war er überzeugt, musste existieren. Er würde die Stadt dem Vergessen entreißen und so ein noch viel größeres Geheimnis enthüllen: eine Hochkultur im Herzen des Amazonasbeckens, die einst so bedeutend war wie die der Mayas, Inkas und Azteken.
13 verschiedene Expeditionen versuchten in den Jahrzehnten nach Fawcetts Verschwinden den Forscher oder das, was von ihm übrig geblieben war, zu finden. Rund 100 Menschen kamen dabei ums Leben, darunter sogar ein abenteuerlustiger Hollywoodschauspieler, der im Dschungel wahnsinnig geworden war. Doch Fawcett blieb wie vom Erdboden verschluckt.
Den jüngsten Versuch, das Geheimnis zu lüften, hat der amerikanische Reporter David Grann unternommen. Er hat alle Briefe und Berichte Fawcetts ausgewertet, mit dessen Angehörigen sowie Mitgliedern vorhergehender Suchtrupps geredet, sich durch Zeitungsarchive und Dokumentensammlungen gewühlt. Zuletzt ist er zum Rio Xingu gereist, wo sich die Spur Fawcetts verliert. In dem gerade erschienenen Buch „Die versunkene Stadt Z“ (Verlag Kiepenheuer & Witsch, 19,95 Euro) kann auch Grann nicht mit Sicherheit sagen, was mit Fawcett geschah. Aber er stellt fest, dass Z existierte. Allerdings nicht so, wie Fawcett sich die Stadt ausgemalt hatte.
Denn tatsächlich war Fawcetts Suche nach Z nur die Fortsetzung einer viel älteren europäischen Obsession: der Jagd nach El Dorado, dem fabelhaften Goldland. Fawcett wurde zwar nicht von Goldgier getrieben. Aber auch er verklärte Z zu einem wundersamen Ort voller Reichtümer und einem Fluchtpunkt vor der abendländischen Verderbtheit. Fawcetts Story reiht sich damit ein in die Geschichte der europäischen Entdeckung Amerikas, die von Chimären, Ruhmsucht und Wunschdenken vorangetrieben wurde.
Alles begann mit dem Genueser Seefahrer Christoph Kolumbus, der bis zu seinem Tod davon überzeugt war, den Seeweg nach Indien gefunden zu haben. Die so zu ihrem Namen gekommenen Indianer hielt man entweder für edle Wilde, Menschenfresser oder nichtmenschliche Wesen. Was aufs Gleiche herauskam. Sie wurden versklavt oder ermordet. Erobern, Missionieren, Reichwerden – das war der Dreisatz der spanischen Konquistadoren, wobei die ersten beiden Motive nur Mittel zum Zweck des dritten waren.
Überall, wo sie landeten, sahen die Spanier zuerst Gold. Selbst dann, wenn es keins gab. Denn zur Rechtfertigung ihrer Unternehmungen, die von der Krone oder privaten Geldgebern finanziert wurden, waren sie auf Goldfunde angewiesen. Also fantasierten sie die in ihren Berichten herbei. Und schufen so ein Amerika, das ihren Hoffnungen, aber nicht der Wirklichkeit entsprach. „Wo ist das Gold?“, soll Kolumbus die Eingeborenen der Bahamas gefragt haben, als er dort am 12. Oktober 1492 erstmalig amerikanischen Boden betrat. Nur einen Tag später schrieb er in sein Bordbuch: „Mithilfe der Zeichensprache erfuhr ich, dass man gegen Süden fahren müsse, um zu einem König zu gelangen, der große goldene Gefäße und viele Goldstücke besaß.“ Wie Kolumbus die Eingeborenen so genau verstand, ist bis heute ein Rätsel. Aber der Ton des Zusammentreffens zwischen Europa und der „Neuen Welt“ war gesetzt.
Als der Eroberer Hernán Cortés 1519 an der Ostküste Mexikos landete, ließ er seine Schiffe verbrennen, damit keiner seiner 550 Soldaten auf die Idee käme, es gäbe ein Zurück. „Ich bin gekommen, um mir Gold zu verschaffen, nicht um wie ein Bauer den Acker zu pflügen“, verkündete der Konquistador. Nur zwei Jahre später hatte sein Haufen das riesige Reich der Azteken unterworfen und dessen Hauptstadt Tenochtitlan eingenommen, das heutige Mexiko-Stadt.
Die Spanier brachen die Schatzkammer der Azteken auf und Cortés schloss geblendet die Augen. Einer seiner Begleiter schrieb später: „Es schien mir, als wenn alle Reichtümer der Welt sich in diesem Raum befänden!“ Es gab also Unmengen von Gold in Amerika. Und es musste noch mehr geben.
Gut zehn Jahre später drang Francisco Pizarro mit einer kleinen Heerschar in das Imperium der Inkas ein und lockte deren Herrscher Atahualpa in eine Falle. Um ihn freizukaufen, gaben die Inkas den spanischen Erpressern 6000 Kilo Gold und 12 000 Kilo Silber. Dennoch erdrosselten die Spanier Atahualpa und zogen ein Jahr später kampflos in Cusco ein, der Hauptstadt der Inkas. Die Ausbeutung der Gold- und der sehr viel größeren Silbervorkommen der Anden begann.
Doch die Gier der Eindringlinge war nicht befriedigt. Und so herrschte helle Aufregung, als 1540 ein fantastisches Gerücht in Ekuador umging: Hinter den Anden, so hieß es, liege ein Land, wo es so viel Gold gäbe, dass sich sein Herrscher in Goldstaub kleide. Die Legende von „El Dorado“ – dem Vergoldeten – war geboren. Heute vermutet man, dass hinter der Geschichte die Krönungszeremonie der kolumbianischen Muisca-Indianer steckte. Die Muisca bestrichen ihre Könige mit Gold, die es in der Lagune von Guatavita wieder abwuschen.
Überzeugt davon, El Dorado zu finden, brach Francisco Pizarros jüngerer Bruder Gonzalo 1541 aus Peru auf. Ihm folgten 200 berittene Spanier, die 2000 abgerichtete Bluthunde mit sich führten. Außerdem im Gefolge: 4000 indianische Sklaven, hunderte Lamas und 2000 Schweine. Doch schon die Überquerung der Anden überlebten zahlreiche Indianer nicht. Und auf der Ostseite des Gebirges, wo der Dschungel beginnt, endeten die Strapazen nicht. Hitze, Insekten, Fieber und Hunger setzten den Männern zu. Monatelang. Aber von El Dorado: keine Spur. Die Indianer, die Pizarro unterwegs befragte, wussten von nichts. Wütend ließ er sie von den Hunden zerfleischen. Nach fast einem Jahr saß man fest. Die Indianer waren tot, die Tiere verendet oder aufgegessen, man litt unter Entkräftung, Krankheit und Wahnsinn.
Als der ausgezehrte Trupp an einen großen Fluss kam, ließ Gonzalo Pizarro ein Boot zimmern und schickte seinen stellvertretenden Kommandeur Francisco de Orellana mit 57 Spaniern flussabwärts. Sie sollten Essbares auftreiben. Was als Versorgungsauftrag begann, wurde zu einer der abenteuerlichsten Reisen der Geschichte. Sie begann damit, dass die starke Strömung die Männer so schnell vom Lager forttrieb, dass sie beschlossen, nicht mehr umzukehren. Sie ahnten, dass der mächtige Strom in den Atlantik münden würde. Sie ahnten nicht, dass sie dazu noch 6400 Kilometer fahren müssten. Die Männer trieben auf dem Amazonas, den sie als erste Europäer in voller Länge erkundeten.
Zunächst trafen die Spanier auf freundliche Indianer. Doch mit den Monaten, in denen die Abenteurer vor Hunger ihre Schuhe aßen, wurden die Indianer immer kriegerischer. Der mitreisende Dominikanermönch Gaspar de Carvajal beschrieb in seinem Tagebuch große Frauen, die fast ganz nackt gingen: „In den Händen tragen sie Pfeile und Bogen und leisten im Kampf so viel wie zehn männliche Indianer.“ Der Mönch hatte die antike Sage vom Amazonenvolk reproduziert. Und dem Amazonas seinen Namen gegeben.
Etwas viel Erstaunlicheres geriet darüber in den Hintergrund. Denn Carvajal beschrieb auch ausführlich große indianische Siedlungen mit Gärten und Häusern, die sich über Hunderte von Kilometern am Flussufer entlangzogen und von fruchtbarem Land umgeben waren.
Nach neun Monaten Fahrt erreichten Orellana und seine Männer die Amazonasmündung. Auch sie hatten El Dorado nicht gefunden, das in der Folge an immer entlegeneren Orten gesucht wurde. Aber Carvajal hatte eine Zivilisation am Amazonas skizziert. Lange Zeit tat man seine Beschreibungen als Auswüchse einer barocken Fantasie ab. Heute glaubt man, dass er richtig beobachtete. Jüngste Funde belegen, dass es im Amazonasbecken große, von Dämmen und Kanälen umgebene Stadtanlagen gab. Sie hatten Tausende von Einwohnern und waren über befestigte Straßen miteinander verbunden. Zu ihrem Bau mussten die Indianer über ein hohes Maß an Ingenieurskunst und Mathematikwissen verfügt haben, allerdings fand man nie steinerne Überreste dieser Städte, weil sie aus schnell verrottenden Materialien gebaut waren. Einzig hunderttausende Tonscherben lassen sich auch heute noch ausgraben.
Percy Fawcett konnte die Existenz von Z nie beweisen. Doch er war so überzeugt von ihr, dass er sogar in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs seinen Kameraden von nichts anderem erzählte. Er kannte sowohl Carvajals Bericht, wie auch eine mysteriöse Karte, die Goldsucher 1753 angefertigt und darin eine “verborgene und sehr alte Stadt” eingezeichnet hatten. Ebenso hatten ihm die Indiander, deren Sprachen er ansatzweise verstand, von großen Städten im Urwald berichtet. Er wollte also die größte Entdeckung des Jahrhunderts machen, schreibt David Grann. Dafür opferte Fawcett sich und seinen Sohn. Und gab der Menschheit ein großes Entdecker-Rätsel auf. Bei der Suche nach Fawcett fand man Knochen, Schrumpfköpfe und alte weiße Männer, die bei den Indianern lebten. Fawcett fand man nicht.
Er tauchte in einem Tim-und-Struppi-Comic als verschollener Forscher wieder auf und wurde in einem Indiana-Jones-Roman als Archäologe porträtiert. Kürzlich hat sich Brad Pitt die Filmrechte an David Granns Buch über Fawcett gesichert.
Der größte Triumph Percy Fawcetts bleibt jedoch, dass er gegen die wissenschaftliche Erkenntnis seiner Zeit recht behielt. Es gab eine Zivilisation im Dschungel und die Vorstellung vom Amazonas als Wildnis, wo sich nur primitive Gemeinwesen entwickelten, ist falsch. In einem seiner letzten Berichte schrieb Fawcett: „Wenn diese Depesche gedruckt wird, werden wir schon längst im Unbekannten verschwunden sein.“ Er ahnte nicht, wie richtig er damit liegen sollte.