Brasilien: Sambaland ist abgebrannt

Brasilien: Sambaland ist abgebrannt

Rio de Janeiro im Winter. Seit Tagen Wind und Regen. Der Zuckerhut grau umwölkt, die Copacabana verwaist.

Die Brasilianer sagen, das sei alles eher ungewöhnlich. Etwas ist passiert in Sambaland, über das auch die Weltmeisterschaftseuphorie nicht hinwegtäuschen kann. Die Blutwoche von São Paulo hat mehr über den Zustand Brasiliens offenbart als das Lächeln Ronaldinhos.

In dessen Ungezwungenheit wollen manche ja bereits den genuinen Ausdruck einer ganzen Nation erkannt haben. Und da ist was dran: denn völlig ungezwungen wurden die 180 Menschen in São Paulo ja umgebracht – erschossen von Verbrechern und Polizisten gleichermaßen.

Mitte Mai wurde Brasiliens größte Stadt wie auf Knopfdruck von Hunderten schwer bewaffneter junger Männer heimgesucht. Sie exekutierten Polizisten, warfen Bomben auf Polizeiwachen, Busse, Banken und staatliche Einrichtungen. Das öffentliche Leben in der Wirtschaftsmetropole kam größtenteils zum Erliegen. Nach vier Tagen stoppte die Mafia ihre Angriffe. Nun schwärmten Todeskommandos der Polizei aus und nahmen Rache.

In Europa war die Reaktion auf die kriegsähnlichen Zustände: Ungläubigkeit. Ist das Brasilien, die aufstrebende Wirtschaftsnation, der Staat, der einen Sitz im UN-Sicherheitsrat anstrebt, dasselbe Land, das in Kunst, Musik und Fußballsport Maßstäbe setzt? In Brasilien hingegen herrschte weniger Überraschung über den Gewaltausbruch als vielmehr darüber, dass er das reiche São Paulo ereilte und nicht Rio de Janeiro, wo sich Drogengangs seit Jahren blutige Territorialkämpfe liefern. Wenn man in Brasilien über etwas erschrocken war, dann allenfalls über die Qualität der Angriffe der bis dahin eher unbekannten Mafiaorganisation „Erstes Hauptstadtkommando“: perfekt orchestriert, kaltblütig ausgeführt. In den brasilianischen Medien hieß São Paulo denn auch nur „Bagdad“.

Eine Woche lang riefen die Kolumnisten nach einem starken Staat und besseren Gefängnissen, dann war Ronaldinho wieder wichtiger. Aber wahrscheinlich war das die normale Reaktion in einem Land, in dem man sich an die Gewalt genauso gewöhnt hat wie an die ständigen Staus. In Brasilien werden jeden Tag mehr als 100 Menschen erschossen – mehr als in jedem anderen Land der Erde. Kaum eine Nacht vergeht in Rio, in der nicht Schüsse aus den Favelas zu hören sind. Tagsüber kreisen schwarze Polizeihubschrauber über den Armenvierteln. Die Todesrate unter jungen Männern ist in der Stadt mittlerweile genauso hoch wie in den Kampfgebieten Afrikas. Erst vergangene Woche wurde der Gitarrist der bekannten Rockband Detonautas in Rio erschossen, als Diebe sein Auto rauben wollten. Auf der Beerdigung sprach der Sänger der Gruppe über sein „Gefühl der Ohnmacht angesichts des täglichen Irrsinns“, den es bedeute, in Brasilien zu leben. Wie zur Bestätigung wurden drei Tage später 17 Schulkinder bei einem Gefecht zwischen Polizei und Drogenmafia angeschossen, das vor dem Klassenzimmer tobte.

Nicht Karneval oder Fußball bestimmen heute das Leben der Mehrheit der Brasilianer, sondern Gewalt oder die Angst vor ihr. Sie sei symptomatisch für eine soziale Ordnung, die auf Ungleichheit basiert, stellt die liberale Zeitschrift „Carta Capital“ fest und benennt die eigentliche Ursache: die frappierenden sozialen Unterschiede zwischen einer reichen Minderheit und der armen Mehrheit der Brasilianer. „In Brasilien haben diese Herren die ‚unzivilisierte Gesellschaft’ geschaffen und den demokratischen Staat zerstört“, empört sich der Wirtschaftsprofessor Luiz Gonzaga Belluzzo: „Die Reichen leisten sich private Sicherheitsdienste und schicken ihre Kinder auf Privatschulen. Wenn ihnen die Situation zu heiß wird, nehmen sie den Jet nach Miami. An den Peripherien der Städte leben die Ausgestoßenen wie Fliegen, ohne medizinische Versorgung, ohne Essen.“ Der große alte Theatermann Augusto Boal konstatiert: „Es gibt keine brasilianische Gesellschaft. Es gibt Reiche und es gibt Arme. Die Armen leben in Gefängnissen der Hoffnungslosigkeit.“

Ein Prozent der reichsten Brasilianer hat das gleiche Einkommen wie 50 Prozent der ärmsten Einwohner dieses Riesenreichs. Nur in Sierra Leone geht es noch ungerechter zu. Während die Schönen und Reichen São Paulos die zweitgrößte Helikopterflotte der Welt unterhalten, leiden 72 Millionen der 170 Millionen Brasilianer Hunger oder sind unzureichend ernährt.

Auch Amnesty International stellt Brasilien im gerade veröffentlichten Jahresbericht wieder ein verheerendes Zeugnis aus. Die Menschenrechte der sozial Marginalisierten würden systematisch verletzt, heißt es da lapidar. „Wenn sie könnte, dann würde die brasilianische Mittelschicht die Favelas samt Bewohnern einfach abfackeln“, erklärte Chico Buarque, einer der bekanntesten Musiker des Landes. Und der Gouverneur des Bundesstaats São Paulo wütete: „Die weiße Elite dieses Landes ist pervers. Brasilien ist ein zynisches Land. Ein Land, in dem die Sklavenhalter nach der Abschaffung der Sklaverei entschädigt wurden, nicht die Sklaven. Das Einzige, woran die Brasilianer heute noch glauben, ist das Trikot der Nationalmannschaft.“