Brasilien: Die Ökonomie der Proteste

Brasilien: Die Ökonomie der Proteste

Was ist das für ein Land, in dem Atomkraftwerke, Tiefseehäfen, Flugzeuge und Fußballstadien gebaut werden, in dem man riesige Erdöl- und Gasfelder ausbeutet, die Welt mit Sojabohnen, Orangen und Eisenerz überschwemmt und der durchschnittliche Quadratmeterpreis beim Kauf einer städtischen Wohnung astronomische 2450 Euro beträgt? Es ist Brasilien.

Was ist das für ein Land, in dem fast eine Million Familien in extremer Armut lebt und jedes Jahr 50000 Menschen ermordet werden? In dem der Mindestlohn für Lehrer bei 570 Euro liegt und Schwangere in den Wartezimmern der Krankenhäuser gebären, weil man sich nicht um sie kümmert? Auch Brasilien. Ein Land extremer Widersprüche.

Dass diese nun aufgebrochen seien, lautet eine gängige Erklärung für die Massenproteste der letzten Wochen. Ihr zufolge habe der Aufstieg Brasiliens zur sechstgrößten Ökonomie der Welt zwar für viele Menschen gesellschaftliches Fortkommen bedeutet, doch er habe sich nicht in sozialen und politischen Reformen niederschlagen. Wie kann es sein, fragen sich viele Brasilianer, dass unsere öffentliche Infrastruktur immer noch der eines Entwicklungslandes entspricht? Als Antwort wird meist die Korruption in Politik und Wirtschaft Genannt. Brasilien sei ein reiches Land, aber das Geld verschwinde in den falschen Taschen.

Eine andere, von Ökonomen bevorzugte Erklärung für die Proteste lautet, dass Brasiliens seit zwei Jahren stagnierende Wirtschaft die Menschen auf die Straße treibe. Präsidentin Dilma Rousseff tue nichts, um das Wachstum wieder anzukurbeln, an das die Brasilianer sich in der Dekade zuvor gewöhnt hätten. Exemplarisch für diese Sicht steht der „Economist“. Anfang 2010 titelte die britische Zeitschrift zum Bild einer fliegenden Christus-Statur: „Brasilien hebt ab“. Nun, nur dreieinhalb Jahre später, wird ein Text über „Brasiliens mediokre Wirtschaft“ mit „Sturz in die Ungnade“ überschrieben.

Abheben oder abstürzen – dazwischen scheint es nichts zu geben. Was also ist los in Brasilien, das noch vor kurzem für seine Meisterung der Finanzkrise bewundert wurde?

Zur Beantwortung muss man ein wenig zurückblicken: 2001 prägte Goldman Sachs-Chef Jim O’Neill den Begriff BRICs. Er meinte die vier aufstrebenden Wirtschaftsmächte des 21. Jahrhunderts, das „B“ stand für Brasilien. Tatsächlich lag das Wirtschaftswachstum des Landes in den folgenden acht Jahren bei durchschnittlich vier Prozent. Brasilien öffnete sich ausländischen Investitionen, hielt den Real hoch und die Inflation niedrig, versuchte die Verschuldung zu begrenzen und exportierte seine unermesslichen Rohstoffe, die vor allem in China gefragt waren, die Preise waren hoch.

Gleichzeitig legte Präsident Lula da Silva Sozialprogramme auf, um den Ärmsten ein Grundeinkommen, Bildung und Häuser zu garantieren. 30 Millionen Menschen holte man so aus dem Elend, stärkte die Mittelklasse und den Binnenkonsum. Die Brasilianer kauften Waschmaschinen, Computer, Autos und Fernseher – und verschuldeten sich dabei auch oft. Auf internationalem Parkett wandelte sich Brasilien vom Schuldner zum Gläubiger.

Dann kam der Einbruch: 2011 wuchs die Wirtschaft nur noch um 2,7 Prozent, im Jahr darauf um magere 0,9 Prozent. Für 2013 sind nun wieder 2,7 Prozent prognostiziert. Der Dämpfer hatte vor allem damit zu tun, dass die Chinesen weniger Rohstoffe aus Brasilien kauften. Und er offenbarte ein strukturelles Problem: die Abhängigkeit des Landes vom Export unverarbeiteter Rohstoffe. Andere Schwachpunkte sind die hohen Löhne für Facharbeiter bei geringer Produktivität sowie die schlechte Infrastruktur: fehlende Transportwege, zu kleine Häfen. Auch vermeintliche Kleinigkeiten spielen einen Rolle wie die unverschämt hohen Telefongebühren eine Oligopols aus vier Telekomfirmen.

Nun kommen fast täglich neue Hiobsbotschaften. Die Börse in Sao Paulo brach im ersten Semester um 22 Prozent ein, die Industrieproduktion ging im Mai um zwei Prozent zurück. Symbolhaft für die Krise steht die börsennotierte Holding EBX von Brasiliens reichstem Mann, Eike Batista. Sie investiert unter anderem in Energie, Erdöl, Minen. Wurde Batistas Privatvermögen letztes Jahr noch mit 34,5 Milliarden Dollar angegeben, ist es nun auf 2,9 Milliarden Dollar geschrumpft. Ein Grund dafür sind die Milliardenkredite von Brasiliens staatlicher Entwicklungsbank BNDES an die in Schieflage geratene EBX. In letzter Not hat Batista nun die Kontrolle über das Energieunternehmen MPX an die deutsche E.ON abgegeben. Sofort stiegen die Aktien der MPX wieder an.

Präsidentin Rousseff reagierte auf die Krise zunächst, indem sie bestimmte Branchen mit Steuererleichterungen beglückte, etwa die Automobilbranche. Außerdem kündigte sie ein gigantisches Infrastrukturprogramm an: Sie will Lizenzen für neue Flug- und Seehäfen versteigern sowie der Bau von mehreren Tausend Kilometern neuer Straßen und Schienenwege ausschreiben. Der wirtschaftliche Effekt solcher Programme wird erst langfristig spürbar sein. Die Massenproteste wirken jetzt schon: Die Regierung wird die Konzession zum Bau und Betrieb des Schnellzugs zwischen Rio und São Paulo nicht mehr an ein einziges Konsortium vergeben, sondern die an der Strecke gelegenen Gemeinden stärker einbinden. Baukonzerne gelten in Brasilien als Inbegriff der Korruption.

Zu einem klassischen Krisenbekämpfungsmittel griff die brasilianische Zentralbank, als sie die Leitzinsen senkte. Der ebenso klassische Effekt: Inflation. Diese bekommen vor allem die ärmeren Brasilianer zu spüren: Für ein Kilo Tomaten zahlte man in Rio dieses Jahr schon unglaubliche 3,80 Euro. Die Regierung entschuldigt die gestiegenen Nahrungsmittelpreise – nicht zu Unrecht – mit Ernteausfällen. Für dieses Jahr erwartet sie sechs Prozent Inflation.

Doch haben teure Tomaten die Menschen auf die Straße getrieben? Oder der dramatische Einbruch der Börse in São Paulo? Eher sind es die astronomischen Mieten in den Ballungsräumen. Ansonsten spielte die schlechte Wirtschaftslage bei den (mittlerweile abgeflauten) Protesten keine Rolle. Es liegt daran, dass die Arbeitslosenquote stabil bei 6,5 Prozent liegt, in Brasilien gilt das als Vollbeschäftigung. Außerdem nehmen die brasilianischen Exporte seit Anfang des Jahres wieder zu. Und laut Unctad ist Brasilien 2012 zum viertgrößten Empfänger ausländischer Investitionen aufgestiegen. Für das Lamento vom brasilianischen Absturz ist es also noch verfrüht. Brasilien ist ein reiches Land, sagen viele Demonstranten. Nun verteilt ihn endlich.