Renato Cosentino, 31, ist Stadtwissenschaftler und Dozent. Er hat drei Jahre lang die Auswirkungen der Olympischen Spiele auf Rio de Janeiro untersucht. Er ist Mitglied im “Volkskomitee zur WM und den Olympischen Spielen” (Comitê Popular Rio Copa e Olimpíadas), der größten und wichtigsten olympiakritischen Plattform der Stadt.
Herr Cosentino, als 2009 die Entscheidung fiel, die Olympischen Spiele 2016 nach Rio de Janeiro zu vergeben, war die Euphorie groß.
Die Entscheidung verstärkte die gute Stimmung im Land. Brasilien verstand sich als neue globale Macht, wirtschaftlich wie politisch. Die Spiele – die ersten in Südamerika – unterstrichen diesen Anspruch. Lula da Silva, damals Präsident, verlieh der Entscheidung Pathos. Brasilien würde nun endlich Teil der Ersten Welt. Den Bewohnern von Rio de Janeiro sagte man, dass die Spiele den gleichen modernisierenden Effekt haben würden wie 1992 in Barcelona.
Die positive Stimmung kippte – bis sich der Unmut 2013 in Massenprotesten entlud, die auch gegen das Sportereignis gerichtet waren. Warum?
Es wurden zu viele Versprechen gebrochen. Schon die Fußball-WM 2014 war mit zwei Zusagen verkauft worden. Erstens würden Infrastrukturprojekte die Lebensqualität in den Spielorten verbessern. Zweitens werde kein Real öffentlicher Gelder in die neuen Stadien fließen. Doch dann wurden rund drei Milliarden Euro Steuergelder für die Stadien ausgegeben, viel Geld verschwand in dunklen Kanälen. Die Summe der privaten Investitionen lag hingegen bei null – obwohl einige Stadien nach der WM unter Wert privatisiert wurden, etwa das Maracanã-Stadion in Rio. Sechs Stadien sind heute Weiße Elefanten: Sie tragen sich nicht und werden vom Steuerzahler teuer unterhalten.
Und die Infrastrukturprojekte?
Viele wurden nie begonnen: In Brasília strich man einen S-Bahnbau, in Salvador den Buskorridor zum Flughafen, in Manaus ein Hochbahnprojekt. Die angestrebte Schnellzugtrasse zwischen Rio de Janeiro und São Paulo wurde aufgegeben. Unterm Strich blieben Schulden für die Öffentlichkeit übrig, während die Fifa einen neuen Rekordgewinn einstrich. Gleichzeitig wurde und wird alles teurer: Immobilien, Lebensmittel, Serviceleistungen. In Rio de Janeiro hat sich dieser Effekt durch die Olympischen Spiele verstärkt. Es ist heute die teuerste Stadt Brasiliens – ohne dass die Qualität der Produkte und Dienstleistungen die Preise rechtfertigen würde. Besonders deutlich ist dies beim öffentlichen Nahverkehr: langsam, gefährlich, unzuverlässig, vielfach veraltet.
Welche Auswirkungen werden die Spiele Ihrer Meinung nach haben?
Wenn man die Geldströme verfolgt, erkennt man, dass die Spiele genutzt werden, um die Stadt umzustrukturieren. 85 Prozent der Investitionen fließen in die Barra da Tijuca, ein relativ junges und modernes Viertel im Westen, das auch „Miami von Rio“ genannt wird. Dort entsteht das Herzstück der Spiele: der Olympische Park, wo 20 Wettkämpfe ausgetragen werden und das Olympische Dorf für 10.500 Athleten; weiterhin das Medienzentrum sowie ein Golfplatz, der unter skandalösen Umständen zustande kam. Um Anschluss zu schaffen, hat man zwei Schnellbustrassen durch die Stadt gebaut, außerdem wird die Metro um sechs Stationen verlängert.
Der Ausbau des Nahverkehrs ist doch positiv.
Sie müssen sehen, dass hier ein bereits privilegiertes Viertel mit 300.000 bessergestellten Einwohnern extrem von den Spielen profitiert, während der Großraum Rio mit seinen zwölf Millionen Menschen weiterhin völlig vernachlässigt bleibt. Dort wären Investitionen viel nötiger gewesen, wenn man wirklich etwas für die Lebensqualität hätte tun wollen. Eigentlich müssten die Spiele heißen: ‘Barra da Tijuca 2016’. All diese Entscheidungen wurden ohne öffentliche Beteiligung oder Debatten getroffen, sondern hinter verschlossen Türen.
Man sagt, dass die Interessen der Immobilienwirtschaft eine große Rolle spielten.
Natürlich, darum geht es. Politik und Immobilienkonzerne sind in Rio eng verquickt. Wenn letztere etwas wollen, bekommen sie es – ohne Rücksicht auf Stadthistorie oder ärmere Bevölkerungsgruppen. Das Olympische Dorf – 31 Apartmentblocks á 17 Stockwerke – wird bereits jetzt vom Carvalho Hosken-Konzern für die Zeit nach den Spielen vermarktet. Der Olympische Park, eine Fläche von einer Million Quadratmeter, geht an Carvalho Hosken und den Baukonzern Odebrecht, die dort Wohnviertel und Hotels errichten. Carvalho Hosken besitzt weiterhin das Land rund um den Olympischen Park, das extrem aufgewertet wird. Dies wird auch durch die zwangsweise und oft illegale Umsiedlung von Favelabewohnern erreicht. Es ist eine autoritäre Politik, welche die soziale Segregation der Stadt weiter vorantreibt.
Rios Bürgermeister schwärmt von den Public Private Partnerships (PPP), die man für die Olympiabauten erreicht habe, um den Haushalt zu schonen.
Das ist eine Täuschung. Die Olympia-Arbeiten werden hauptsächlich mit öffentlichen Geldern finanziert. Wo der Privatsektor sich beteiligt, wird er mit großzügigen Landschenkungen belohnt. Man kann sehen, dass überall dort, wo keine Profitinteressen existieren, kein Geld vorhanden ist. Beispielsweise wurde die angestrebte Säuberung der vermüllten und verseuchten Guanabara-Bucht, auf der die Segelwettbewerbe stattfinden sollen, jetzt schon aufgegeben.