Nichts ist dort echt, niemand lebt dort, es gibt bloß Touristenshops. Die Touristen laufen also da rum und sagen: „Oh wie wunderbar“, und nach vier Tagen fahren sie wieder ab, sie hatten Spaß und fanden es toll. Aber das hat genauso wenig mit Barcelona zu tun wie der Hackesche Markt mit Berlin.
Dank Ihnen suchen die Besucher nun marode Villen am Stadtrand, die Buchhandlung „Sempere“ und den geheimnisvollen „Friedhof der vergessenen Bücher“.
Nun ja, der Friedhof der vergessenen Bücher ist eine Erfindung, und die Buchhandlung „Sempere“ ist ein Kompositum aus amerikanischen Second-Hand-Buchläden. Aber viele andere Schauplätze sind original.
Sie leben seit über zehn Jahren in Los Angeles. Recherchieren Sie in Barcelona, bevor Sie mit dem Schreiben anfangen?
Nein, Los Angeles ist doch der perfekte Ort, um sich alles Mögliche vorzustellen! Außerdem habe ich ein DVD-Gedächtnis, in dem die Stadt abgespeichert ist, ich kenne sie auswendig. Ich war als Kind in den 60er und 70er Jahren viel für meinen Vater unterwegs. Er war Versicherungsvertreter und verkaufte Policen in ganz Barcelona. Ich musste nun seinen Kunden den Papierkram zustellen. So lernte ich jeden Winkel der Stadt kennen: Ich sah die riesigen Anwesen von Industriellen und die winzigen Wohnungen armer Schlucker. Ich besuchte Anwälte, Banker, Künstler, Ärzte, Immobilien verwalter und Krankenschwestern. Und weil ich ein Kind war, ließ mich jeder hinein, und ich sah, wie alles ausgestattet war, wie die Leute miteinander um gingen, worüber sie redeten. Ich war ein quasi unsichtbarer Zeuge.
Wie lebte man im Barcelona der 70er Jahre?
Ich besuchte zum Beispiel alte Aristokraten, die in verfallenden Herrenhäusern lebten. Aber sie taten so, als ob die vergangene Pracht noch da wäre. Sie stellten sich als Graf oder Gräfin vor. Und behandelten mich, als ob ich ihr Untergebener wäre. „Du wartest hier!“, sagten sie und gingen dann die Treppen hoch, und ich hatte Zeit, mich über die Risse in den Wänden zu wundern und die alten Ahnenporträts zu studieren. Dann ging ich zu Leuten, die in der Altstadt in düsteren Wohnungen ohne elektrisches Licht hausten. Ich sah das ganze Kompositum des Lebens in Barcelona.
Was hat Sie besonders beeindruckt?
Es gab da dieses Kloster, an das mein Vater eine Feuerpolice verkauft hatte. Die Nonnen durften den Konvent nicht verlassen – bis auf eine. Die anderen lebten dort fast wie im Gefängnis, jede Art von Besuch war also höchst spannend. Neben der Tür gab es in der Mauer einen kleinen Schlitz, wo man herausschauen konnte. Wenn ich kam, presste manchmal eine der jungen Nonnen ihr Gesicht dagegen. Ich klopfte, wartete, und dann ging die Tür mit einem Knarren auf wie bei Edgar Allan Poe, und eine winzige Figur kam heraus. Die Schwester, die mit der Außenwelt verkehren durfte, war eine Zwergin.
Sie haben auch an einem kleinen Buch mitgewirkt, das Ihr literarisches Barcelona vorstellt. Besonders Ihr altes Schul gebäude hat Sie zum Schreiben inspiriert.
Meine Schule war in einem kolossalen Backsteingebäude aus dem 19. Jahrhundert untergebracht. Eine Privatschule, die von Jesuiten geleitet wurde, ich war elf Jahre dort, fast meine gesamte Schulzeit. Das Hauptgebäude sah aus wie ein gotisches Schloss, mit Türmen, Tunneln, geheimen Gängen und Kapellen. Zu einigen Bereichen war für uns Schüler der Zugang verwehrt, zum Beispiel der Trakt, in dem die Pater lebten – das waren natürlich die spannendsten Orte. Und die biologische Sammlung: aus gestopfte und konservierte Tiere, ein Ziegenbock mit zwei Köpfen war dabei und Schlangen in Gläsern.
Klingt nach dem perfekten Schauplatz für einen Ihrer Romane.
Stimmt. Der Unterricht langweilte mich meistens, und ich verbrachte die Stunden mit Tagträumereien, in denen das Gebäude die Hauptrolle spielte.
In was für einem Viertel wuchsen Sie auf?
Ich wuchs nur einen Block von der Kathedrale „Sagrada Familia“ entfernt auf. Das war damals eine ganz gewöhnliche Wohngegend für die Mittelklasse, ein lebhaftes Viertel mit kleinen Geschäften. Heute ist es dort sehr teuer, wie ja ohnehin die Mieten in der Stadt in die Höhe geschossen sind.
War die „Sagrada Familia“ des Archi tekten Antonio Gaudí damals schon eine Touristenattraktion?
Nein, überhaupt nicht. Die Barceloner beachteten sie selbst erst, als immer mehr Ausländer kamen, die sagten: Hoppla, was haben wir denn hier?! Viele der alten Gebäude des Modernismus wurden von den Einheimischen gehasst, es gab immer wieder Anträge, sie zu zerstören. Es musste erst jemand von außen kommen, der ihren Wert entdeckte.
Man wollte Gaudís Gebäude abreißen?
Es gibt Dokumente aus den 20er und 30er Jahren, in denen selbst ernannte Richter des guten Geschmacks verlangten, dass die Jugendstilgebäude zerstört würden: der Palau de la Música, die Sagrada Familia, alle Wohnhäuser von Gaudí und seinen Kollegen. Das ging allerdings nicht, weil Leute darin wohnten. In einigen Fällen wies die Stadt die Eigentümer aber an, die Fassaden zu verändern. Und nach dem Bürgerkrieg 1939 wurde der Abriss nur dadurch verhindert, dass einfach kein Geld da war. Das Barcelona, das heute alle so lieben, hat nur durch Zufall überlebt.
Wie war es, im Schatten dieser bizarren Kirche aufzuwachsen?
Weil damals nur wenige Touristen kamen, gab es noch viele Wege in die Kirche hinein. Ich kannte sie alle, ich wusste, wie man in die Skulpturenwerkstatt kam und in die Tunnel und auf die Türme. Vor einiger Zeit hatte ich Besuch von einem schwedischen Fernsehteam, ich schickte sie in die Sagrada Familia. Als sie zurückkamen, waren sie richtig erschrocken: Sie sei so morbide, fast satanisch, mit all diesen Steinen, die herunterzufließen scheinen. Und die seltsamen Viecher, die aus den Tunneln und Bögen und Brücken kriechen! Ich finde diese ganzen Details unterhaltsam. Bei jedem Besuch versuche ich, mich in Antonio Gaudís Gehirn zu versetzen. Die Sagrada Familia war ja ein wahnsinniges Unterfangen, Gaudí hatte beschlossen, eine Kathedrale für Gott zu bauen.
Sie reden mit Begeisterung von Barcelona – trotzdem haben Sie sich dort nie zu Hause gefühlt. Sie wollten immer weg.
Ich mag all diese Dinge, über die ich gesprochen habe. Aber sie sind 100 Jahre alt, sie wurden gebaut, bevor ich geboren wurde. Ich fragte mich als Jugendlicher: Was passiert heute, was ich spannend finde? Ich konnte nichts finden.
Aber die 70er waren doch eine Zeit des Wandels in Spanien: Franco starb, das Land brach in eine neue Zeit auf.
Spanien war 40 Jahre lang wie eingefroren. Alles, was in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen war, musste das Land nachholen. Ich wollte damals nicht 15 Jahre warten, ich wollte neue Dinge finden. Ich wurde in Barcelona geboren und wuchs dort auf, und es ist ein Teil von mir. Aber die Welt ist größer.
Gibt es im heutigen Barcelona noch Plätze, wo man die Atmosphäre Ihrer Bücher spüren kann?
Vielleicht auf dem Montjuic. Dort gibt es einen spektakulären Friedhof, wo Modernismus auf das katholische Konzept des Todes aus dem 19. Jahrhundert trifft. Im ältesten Teil sind riesige Mausoleen gebaut, für die Wohlhabenden. Man sieht Symbole für Schuld, Horror und die Hölle; Sühneengel, Geister, Drachen. Es ist fantastisch, angsteinflößend und unheimlich.
Barcelona wird auch „Die Stadt der Drachen“ genannt.
Sie finden tonnenweise Drachen in Barcelona: an Fassaden, Türen, Gittern und in den Parks.
Tragen Sie da etwa einen Drachenanstecker auf Ihrem Sweatshirt?
Ja, der Anstecker ist die Kopie eines Drachens auf einem Tor von Gaudí, das sich in Pedralbes befindet, einem piekfeinen Viertel. Mein spanischer Verleger hat ihn zum Symbol meiner Bücher gemacht.
In Ihrem Haus in L. A. soll eine ganze Sammlung von Drachenfiguren stehen. Welche ist die größte?
Ein Stoffdrachen aus Stockholm, er ist ungefähr einen Meter hoch. Sein Hintern ist ziemlich dick, im Flugzeug war es nicht leicht mit ihm. Er hätte eigentlich einen Platz in der Business-Klasse gebraucht. Insgesamt habe ich über 400 Drachen – in allen Größen.
Barcelona hat ja nicht den Ruf, so düster zu sein wie in Ihren Romanen. Man denkt vielmehr an eine helle, lebhafte Stadt – so wie in Woody Allens Film „Vicky Christina Barcelona“.
Das ist die irrige Meinung, die in den vergangenen 15 Jahren entstanden ist. Barcelona ist überhaupt nicht sonnig, und es hat auch keinen sonnigen Charakter.
In „Das Spiel des Engels“ sagt der mysteriöse Verleger Corelli: „Sporadische Besucher meinen naiverweise, in dieser Stadt sei es immer sonnig und heiß. Aber ich sage immer, über kurz oder lang wird sich Barcelonas alte, trübe, dunkle Seele am Himmel widerspiegeln.“
Ich will sagen, dass die Geschichte und die Seele Barcelonas traurig, kompliziert und dunkel sind. So ist das in den meisten großen Städten, die erst dann interessant werden, wenn man sich mit ihrer Geschichte beschäftigt und tief gräbt.
Ihr aktuelles Buch spielt in den 20er Jahren. Damals war Barcelona eine Hochburg des Anarchismus.
Es war eine chaotische Zeit, voller Konflikte zwischen Gewerkschaften, Polizei und Rechten. Barcelona hieß „Stadt der Bomben“ oder „La rosa del fuego“, die Feuerrose, wegen der vielen Schießereien. Der spanische Bürgerkrieg bahnte sich an, sein Ausbruch lag bereits in der Luft. Die Diktatur von Miguel Primo de Rivera versuchte zwar, den Deckel auf dem Dampfkochtopf Barcelona fest zu schließen, aber darunter brodelte es weiter. Und irgendwann explodierte das Ding eben.
Ihr Roman endet 1929, dem Jahr der zweiten Weltausstellung in Barcelona. Ist das ein Zufall?
Zwischen der ersten Weltausstellung 1888 und der zweiten wuchs die Stadt enorm, in dieser Zeit wurde ihre Seele geformt. Alle Städte habe eine Periode, in der sie zu dem werden, was sie sind. Ich versuche, zum Kern der Stadt vor zudringen und ihn wieder sichtbar zu machen.
Sie haben einmal gesagt, sie wollten in Ihren Romanen das „ewige Barcelona“ festhalten.
Ich destilliere die Essenz der Stadt heraus, ich zeige ihre Seele. Und wenn man lange genug in Barcelona gelebt hat, sieht man die Dunkelheit. Sie ist vielleicht mit einem Benetton-Superstore zugedeckt, aber sie ist trotzdem da. Man muss nur ein bisschen an der Oberfläche kratzen.
– Interview mit Anna Kemper.