Roberto da Matta (1936) ist einer der einflussreichsten Soziologen Brasiliens. Ein Gespräch über Fußball und die Kunst der Verführung anlässlich der Fußball-WM in Deutschland.
Herr da Matta, der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk behauptet, Fußball sei ein Spiel, bei dem Männer ihre protoartilleristischen Jagderfolgsgefühle imitierten. Im Grunde ginge es nur darum, mit einem ballistischen Objekt ein Jagdgut zu treffen.
Eine typisch europäische Sicht. Sloterdijk will doch sagen, dass es ums Töten gehe. Der Gegner wird symbolisch umgebracht. Auf einem Kontinent, der so viele Kriege erlebt hat, interpretiert man den Fußball zwangsläufig als Fortsetzung des Krieges mit der Lederkugel.
Tatsächlich steckt die Fußballsprache in Deutschland voller Kriegsmetaphern. Man redet vom Schlachtenbummler…
…in Brasilien ist das der torcedor, wörtlich der Daumendrücker…
…der Gegner wird überrollt, die Abwehr errichtet ein Bollwerk, ein besonders erfolgreicher Torschütze heißt Bomber…
…ja, grauenhaft.
Die brasilianische Interpretation des Fußballspiels hat demgegenüber viel mit Sexualität zu tun. Hier beweist der Mann seine Männlichkeit nicht dadurch, dass er tötet, sondern dadurch, dass er entjungfert. Und zwar das Tor des Gegners.
Das Tornetz wird in diesem Sinne zum Jungfernhäutchen?
In der Tat nennt man es in Brasilien véu de noiva, also Hochzeitsschleier. Der Torwart wird hier nicht bezwungen, sondern vernascht. Oder er bekommt es mal so richtig besorgt.
Wie drückt sich das im Spiel des brasilianischen Teams aus?
Es versucht, seine Gegner zu verführen. Man schwänzelt mit dem Ball in deren Hälfte herum, wickelt sie ein. Beobachten Sie einmal die Wege, die der Ball nimmt, wenn unser Team angreift. Er sucht selten den direkten Weg zum Tor, sondern möchte den Gegner mit einem raffinierten Vorspiel betören. Er soll sich nicht ergeben, er soll sich hingeben. Der Höhepunkt ist erreicht, wenn die Kugel dann zwischen die Pfosten geschlenzt wird, die in Brasilien kein Jagdobjekt, sondern die Beine der Frau symbolisieren. Sigmund Freud hätte seine wahre Freude am Spiel der brasilianischen Mannschaft.
Ein Team scharfer Don Juans?
Tatsächlich tänzeln und tändeln die Spieler wie beim Balztanz. Einige von ihnen haben das Zusammenspiel von Hüfte und Beinen perfekt raus. Es kommt vom Capoeira – dem alten Kampfsport der Sklaven – und vom Samba mit ihren schnellen rhythmischen Bewegungen. Die Deutschen oder die Engländer spielen mit dem ganzen Körper, werfen sich dazwischen, suchen den Zweikampf. Brasilianer setzen die Beine viel stärker ein und versuchen, das Spiel körperlos zu gestalten.
Man hat den Stil der Brasilianer futebol-arte getauft, also Fußballkunst. Was genau bedeutet das?
Es heißt, dass dem einzelnen Spieler künstlerische Freiheit zugestanden wird. Er soll sich kreativ ausdrücken. Der ungezügelte Körper steht dem gezähmten Körper gegenüber. Europäische Teams treten als disziplinierte Kollektive auf, die brasilianische Mannschaft ist eine Ansammlung starker Individuen, die ihre Verführungskünste unter Beweis stellen wollen. Oder aber kläglich versagen.
So wie Ronaldo im Eröffnungsspiel gegen Kroatien?
Er hatte nach dem Spiel die Rolle des Sündenbocks. Die Betonung des Individuums im brasilianischen Fußball bedeutet im Umkehrschluss, dass für schlechte Spiele nie die gesamte Mannschaft verantwortlich gemacht, sondern der Spieler herausgepickt wird, der den Erwartungen am wenigsten gerecht geworden ist. Man versteht in Brasilien nicht, dass für eine miese Vorstellung auch mal der Gegner verantwortlich sein kann.
Bei dieser WM hat die brasilianische Mannschaft bisher eher enttäuscht. Sie gewinnt, aber sie zaubert nicht.
Aber sie hat das Potenzial, und jeder weiß es. Die brasilianische Mannschaft ist eine riesige Projektionsfläche. Wenn sie auf dem Platz steht, dann sieht man nicht nur elf Männer in kanarienvogelgelben Trikots, sondern vor allem die Tradition dieser Hemden. Sie versprechen uns einen besseren, einen schöneren Fußball.
Das brasilianische Spiel als ständige Suche nach Ästhetik?
Sowie nach Moral und Ethik. Nur der kreative Spieler beweist, dass er gebildet und anständig ist. Weil diese Eigenschaften in Brasilien traditionell den Weißen zugeschrieben wurden, versuchten insbesondere die schwarzen Spieler, ihre Ballkontrolle zu perfektionieren. Das Resultat ist heute bei Spielern wie Ronaldinho oder Robinho zu besichtigen.
Fußball ist demnach in Brasilien nicht Opium für ein armes Volk, sondern ein Vehikel der sozialen Integration?
Der Fußball hat enorm dabei geholfen, den Rassismus in Brasilien zu besiegen. Das Spiel wurde hier erst später als in anderen lateinamerikanischen Ländern entdeckt. Anfang des 20. Jahrhunderts kam es aus England nach Rio de Janeiro, wurde aber zunächst nur von der weißen Oberschicht gespielt. Schwarze waren nicht zugelassen. Doch weil die Reichen zu wenige waren, um Teams zu bilden und sie außerdem das Talent der Schwarzen erkannten, öffneten sie ihre Klubs. Erst ab diesem Moment wurde Fußball in Brasilien zu einer nationalen Leidenschaft.
Sie schreiben, der Fußball versöhne die Brasilianer mit Brasilien.
Mehr noch. Er löst die unerfüllten Versprechen dieses Landes ein. Erst durch den Fußball hat das Volk die nationalen Symbole und Farben lieben gelernt, die es vorher mit einer kleinen, ausbeuterischen Elite assoziierte. Denn im Fußball gilt, was sonst in Brasilien nicht gilt: Es geht transparent zu, weil alle die Regeln nachvollziehen können. Der Markt funktioniert, weil der Fähigste gewinnt und nicht der Korrupte. Und es herrscht Gleichberechtigung zwischen Schwarz und Weiß. Es ist die authentischste Erfahrung der Demokratie, die der Brasilianer machen kann.
Und deswegen rasten 180 Millionen Brasilianer bei Spielen ihrer Mannschaft aus? Das Land steht still und feiert grün-gelben Karneval.
Der Fußball ist der einzige Beweis dafür, dass wir etwas können, das auch in Europa anerkannt wird. Er stellt die wahren Kräfteverhältnisse auf den Kopf und ist in diesem Sinne karnevalesk. Für viele Brasilianer ist die Nationalmannschaft das Beste, was dieses Land je hervorgebracht hat. Ronaldinho und Kaka verschaffen dem erniedrigten Volk eine Erfahrung von Sieg, die ihm sonst vorenthalten wird. Wenn wir ein Spiel unserer Selecao sehen, dann ahnen wir, was dieses Land sein könnte. Einmal alle vier Jahre sind wir die Größten und Brasilien ist eine Weltmacht.
Man bekommt aber auch den Eindruck, dass die Brasilianer während der Weltmeisterschaft ihren Verstand verlieren. Ansonsten vernünftige Menschen erzählen einem, dass Deutschland nur Weltmeister werden könne, wenn die Fifa nachhelfe.
Das ist die Wiederkehr der Verschwörungstheorie von 1998, als es hieß, Frankreich habe das Endspiel gekauft. Viele Brasilianer können sich nicht vorstellen, dass jemand besser Fußball spielt als sie. Wenn Brasilien nicht Weltmeister wird, stehen wir nackt da. Man nimmt uns alles.
Daher ist das nationale Trauma eine WM-Endspielniederlage?
Zweifellos: 1950, das 1:2 gegen Uruguay im Maracanã-Stadion – wer damals gelebt hat, erinnert sich mit Trauer daran. Der Sieg sollte zum Symbol für den Aufbruch Brasiliens in eine neue Ära werden. Viele Menschen stürzten nach der Niederlage in tiefe Depressionen.
Im Anschluss schaffte der brasilianische Fußballverband die weißen Trikots ab und schrieb einen Ideenwettbewerb für neue Uniformen aus. Seitdem läuft die Seleção in gelben Hemden auf. Sie nennen sie die leichtesten und schwersten Trikots der Welt.
Sie sind wie aus Gold. Es ist nicht nur eine große Ehre, die Trikots zu tragen, sondern vor allem eine Last. Es sind die Trikots derjenigen, die ganz oben stehen. Und es gibt nur einen Weg von hier aus. Er führt nach unten. Oder man verteidigt den Gipfel.