Die Waldbauern von Amazonien

Die Waldbauern von Amazonien

Bäume produzieren mehr Reichtum als das Vieh. Ein Besuch in einem Waldbauern-Reservat in Brasilien, in dem vor allem die Frauen die Tradition verteidigen – und Morddrohungen erhalten.

In einer kleinen Senke inmitten der Viehweiden stoppt Claudia dos Santos den Wagen. Am Wegesrand steht ein großes Holzkreuz, daneben liegen die Reste einer zerborstene Steinplatte. „Sie haben auf sie geschossen“, sagt Claudia do Santos. „Die Namen von meinem Onkel und meiner Tante waren darin eingraviert. Bis heute werden wir bedroht.“

Die 20-jährige dos Santos ist die Nichte von José Cláudio Ribeiro, der hier 2011 mit seiner Frau von zwei Pistoleiros erschossen wurde. Das Ehepaar führte eine Gemeinde von Extraktivisten im Südosten des brasilianischen Bundesstaats Pará an. Extraktivisten sammeln und verarbeiten die Früchte des Waldes, man könnte auch von Waldbauern sprechen. Doch die Wälder werden in Pará mit einer Geschwindigkeit abgeholzt wie sonst kaum in Brasilien. José Claudio und Maria do Espírito Santo wehrten sich gegen die Zerstörung und zeigten illegale Holzfäller und Viehzüchter an. Bis diese brutal zurückschlugen.

Einer der Pistoleiros wurde verurteilt, ebenso zwei der Hintermänner. Doch dem Mörder gelang die Flucht aus dem Gefängnis und einer Auftraggeber, ein Viehzüchter, der es auf Land im Reservat abgesehen hatte, konnte nicht von der Polizei gestellt werden. „Wir leben in Angst“, sagt Claudia dos Santos.

Pará ist dreieinhalb mal so groß wie Deutschland und beherbergt den zweitgrößten Teil des brasilianischen Amazonaswalds. Doch illegale Holzfäller, Viehzüchter, Sojabauern und Goldsucher rücken schon seit Jahren vor und dringen in geschützte Wälder, Indigenen-Reservate und die Territorien von Kleinbauern ein. Sie sind noch aggressiver geworden, seit der ultrarechte Jair Bolsonaro Präsident ist. Nirgends in Brasilien gibt es heute mehr gewalttätige Landkonflikte als in Pará – und nirgends leben Naturschützer gefährlicher.

Der Begriff Extraktivismus beschreibt eine der ältesten Existenzformen der Menschheit: das Sammeln der Früchte, die die Natur bietet. Er gilt heute als wichtige Antwort auf die Frage, wie Menschen im Amazonasgebiet leben können ohne die Umwelt zu zerstören. „Mein Onkel und meine Tante bewiesen, dass Extraktivismus funktioniert“, sagt Claudia dos Santos. „Deswegen mussten sie sterben. Sie zeigten, dass ein intakter Wald mehr Reichtum produziert als die Viehwirtschaft.“

Die junge Frau wuchs mit ihrer Familie in der Siedlung Praia Alta-Piranheira auf, die berühmt für ihre Paranussbäume ist und 1997 vom Staat zu einem Reservat für Agro-Extraktivismus erklärt wurde. Daran hatten José Cláudio Ribeiro und seine Frau großen Anteil. Allerdings schreckte es Holzfäller und Viehzüchter nicht davon ab, weiterhin in das 22.000 Hektar große Schutzgebiet einzudringen. Der Staat ist in Amazonien oft weit weg und in vielen Gegenden gilt das Recht des Stärkeren.

Es ist auch ein Kulturkrieg, der in Pará tobt. Die Natur wird in vielen Teilen Brasiliens immer noch als etwas Lästiges betrachtet, das gezähmt und beseitigt werden sollte, um der wirtschaftlichen Entwicklung Platz zu machen. Brasiliens Präsident Bolsonaro verkörpert diese Sicht par excellence, er spricht von „scheiß Bäumen“ und verteidigt illegale Goldsucher und Holzfäller als Patrioten. Menschen, die den Wald hingegen schützen, sind für ihn Störenfriede. Es ist kein Zufall, dass die Abholzung in Amazonien unter ihm neue Rekordwertwerte erreicht hat.

Nach dem Doppelmord zog Claudia dos Santos mit ihrer Mutter, die ebenfalls Morddrohungen erhielt, in die zweieinhalb Autostunden entfernte Stadt Marabá. Dort studiert Claudia heute und arbeitet im „Institut Zé Claudio und Maria“, einer von ihrer Mutter geführten NGO.

An diesem Nachmittag ist sie unterwegs ins Reservat. Sie will zu ihrer Tante, Claudecir dos Santos, die die Tradition des Extraktivismus fortführt. Nach langer Fahrt über Staubstraßen und entlang der Zäune von Rinderweiden, erreicht sie die Grenze des Reservats, leicht zu erkennen am dichten Wald. Zum Empfang hat Claudecir ein Huhn geschlachtet, das sie über einem Holzfeuerherd zubereitet. „Ich führe ein einfaches aber zufriedenes Leben“, sagt die 57-jährige Witwe.

Am nächsten Morgen betritt sie mit einer Machete und einem Korb den Wald, rund 30 Hektar Dschungel gehören zu ihrem Hof. Es seien vier, fünf Früchte, die ihr helfen würden ein Auskommen zu finden, sagt die kleine drahtige Frau. Da ist an erster Stelle die Paranuss. Sie wächst an hoch aufragenden Kastanien mit ausladenden Kronen. In Hülsen, die an Kanonenkugeln erinnern, reifen die Nüsse, von der jede noch einmal von einer harten Schale umgeben ist. In Plantagen lassen sie sich nicht anbauen, sie gedeihen nur im Wald. Auch deswegen erzielen die nahrhaften Paranüsse auf dem Markt hohe Preise. Sie weisen einen hohen Eiweiß- und Fettgehalt und viele Mineralstoffe auf.

Jeder der Dutzenden Kastanienbäume im Wald produziere pro Saison Nüsse im Wert von rund 500 Reais, sagt Claudecir, circa 100 Euro. Über die Jahre gesehen sei das wesentlich mehr als wenn sie die Bäume fällen und ihr Holz verkaufen würde. Zwar verbietet es das brasilianische Gesetz ohnehin, die Kastanien zu fällen – das hindert die Holzmafia jedoch nicht daran. Sie deklariert das Holz einfach um.

Ebenso wichtig für Claudecirs Einkommen ist der Andiroba-Baum, aus dessen Samen ein wertvolles Öl gewonnen wird, das eine antiseptische Wirkung hat und in Seifen verwendet wird. Sie hat sich mit anderen Frauen aus dem Reservat in einer Kooperative zusammengeschlossen, um das Öl gemeinsam zu vermarkten.

Andere Früchte, die von den Extraktivisten vermarktet werden, sind die Açaí-Beere, die mittlerweile in Europa als Superfood gilt; ebenso Kakaobohnen oder die Cupuaçu-Frucht. Auch Honig macht Claudecir, mehrere Bienenstöcke stehen rund um ihren Hof. Eher für den Eigenbedarf bestimmt sind Papayas, Mangos und Orangen. Außerdem baut Claudecir Maniok und Bohnen an. Ihr Hof wirkt wie ein kleines Selbstversorgerparadies.

Natürlich wächst aber nicht alles, was man zum Leben braucht, im Wald. Claudecir kauft Salz, Reis, Kaffee und Öl in der Stadt. „Aber ich mag die Stadt nicht“, sagt sie, „Der Wald gibt mir alles, was ich brauche. Wenn ich sehe, wie lebendig er ist, macht mir das Mut. Trotz allem!“

Es ist rund zwei Jahre her, dass Claudecirs demente Mutter, die in Marabá gepflegt wird, einen Brief erhielt. Darin waren ausgeschnittene Buchstaben zu einem Satz zusammengefügt: „Wir erledigen auch den Rest der Familie.“ Es blieb nicht die einzige Drohung.

In der Abenddämmerung überquert Claudia dos Santos in Jeans und Flipflops einen Bach, aus dem das Wasser für den Hof kommt. Die Zikaden haben bereits mit ihrem ohrenbetäubenden Knattern begonnen und in der Ferne schreien Brüllaffen. Dos Santos setzt sich unter einen imposanten Paranussbaum, der auf einer Lichtung in den Himmel ragt. Sein Alter werde auf 350 bis 400 Jahre geschätzt, sagt sie, ihre Familie habe ihn auf den Namen „Majestät“ getauft. „Ich komme hierher, um Ruhe zu finden.“

Dos Santos erzählt, wie sie vor zwei Jahren mit einer Cousine im Reservat zu Besuch war, als ihnen auf dem Rückweg ein weißer Pickup-Truck mit aufgeblendeten Scheinwerfern folgte. „Er fuhr immer dichter auf, wir bekamen Panik und beschleunigten, bis sich unser Wagen in einer Kurve fast überschlug.“ Claudia glaubt, dass ein Viehzüchter dahinter steckte, der am Rande des Reservats lebe, sie habe seinen Pickup wiedererkannt.

Der Extraktivismus wie ihn Claudecir und ihre Familie betreiben, ist eine Provokation. Die vorherrschende Wirtschaftsform in der Region ist die Viehzucht. Sie hat sich auch im Extraktivisten-Reservat breitgemacht. Von den rund 400 Familien, die dort Land haben, betreiben nur noch 20 Waldwirtschaft. Die anderen halten Vieh, was der Bestimmung des Reservats widerspricht. „Sie wollen schnellen Profit machen“, sagt Suena Nascimento. „Sie denken, nur wer Rinder hat, zählt etwas.“

Die 28-jährige Schwarze ist Lehrerin in einer kleinen Landschule und Präsidentin des Exktraktivisten-Kollektivs, in dem rund 15 Frauen mitmachen. „Wir Frauen denken langfristiger“, sagt sie nach dem Unterricht in winzigen Lehrerzimmer. Für ihre Ansichten wird Nascimento oft von Schülern kritisiert, meist sind es die Söhne von Viehzüchtern. Dennoch versucht sie, den Schülern beizubringen, wie wertvoll der Wald ist. „Einige Familien, die begonnen haben, Vieh zu halten, bereuen es schon”, sagt sie. Sie hätten die Kosten für den Weidedünger, für Futtermittel, Impfungen und so weiter nicht einkalkuliert. „Die ersten, die umdenken, sind die Frauen. Die Männer brauchen etwas länger. Aber spätestens, wenn das Wasser knapp wird und die Böden ausgelaugt sind, merken sie, dass etwas nicht stimmt. Man muss sich die Natur zum Verbündeten machen, wenn man in Amazonien überleben will.“

Das ist nicht nur ein Spruch, das weiß Francisco Alves. Der Landwirtschaftstechniker berät Bauern dabei, ihre Höfe umzustellen. Er ist der Experte für Extraktivismus in der Region. In seinem Haus am Stadtrand von Marabá kocht der bärtige 45-Jährige einige Tage später Reis, Bohnen und Inhame, eine Knollenfrucht. Er sagt, dass die Waldwirtschaft tatsächlich eine Alternative zur Viehwirtschaft und den Monokulturen sein könne. Man verdiene mit einem Hektar Açai das zehnfache eines Hektars Soja.

Das Problem sei häufig die Zeit. „Eine neu gepflanzte Kastanie braucht zwölf bis 15 Jahre, bis sie die ersten Paranüsse abwirft. So weit denken die meisten Bauern nicht.“ Wenn ein Landwirt trotzdem seinen Viehhof umstellen möchte, rät Alves zunächst zum Anbau von Salat, Gemüse, Maniok und Bananen. Man habe dann schon nach wenigen Monaten ein erstes Einkommen.

Auch Alves hat beobachtet, dass vor allem die Frauen anders denken. „Sie sind sensibler“, glaubt er. Dennoch, gibt er zu, erscheine ihm der Kampf oft aussichtslos. „Selbst meine Nachbarn fragen mich, warum ich mir nicht Vieh anschaffe. Es herrscht ein sozialer Druck, der unter Bolsonaro noch gewachsen ist. Wer den Wald erhält, gilt als Querulant.“

Hoffnung schöpft Alves, weil es überall ein oder zwei Familien gebe, die sich weigerten, dem Trend zu folgen. Alves nennt sie „Inseln des Erfolgs“. Es seien Leute, die verstanden hätten, dass es in Amazonien nur mit der Natur gehe, nicht gegen sie.

ENDE