Marina Oliveira, 25, ist eine der wichtigsten Stimme im Kampf um Gerechtigkeit für die Opfer und Betroffenen des Minendesasters von Brumadinho.
In der Nähe der Kleinstadt im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais barst am 25. Januar 2019 ein Damm der Bergbaufirma Vale, der ein riesige Becken für Rückstände aus dem Eisenerzabbau sicherte. Die austretenden Schlammmassen begruben 270 Menschen unter sich, die meisten waren Angestellte von Vale aus Brumadinho, darunter auch zwei Schwangere – weswegen Opferverbände von 272 Todesopfern sprechen. Der Schlamm verseuchte zudem den Fluss Paraopeba, der die wichtigste Trinkwasserquelle der Region war und zudem Tausende Bauern mit Wasser für ihre Pflanzungen versorgte.
Oliveira wurde von der Erzdiözese der Stadt Belo Horizonte angestellt, um den Widerstand gegen Vale zu organisieren und Gerechtigkeit zu erlangen. Sie hat es geschafft, die unterschiedlichsten Opfergruppen zu vereinen, sie bei ihren verschiedenen Problemen und Forderungen zu unterstützen und ihnen eine kräftige und laute Stimme zu verleihen.
Zurzeit ist Oliveira damit beschäftigt, die Aktivitäten zum 2. Jahrestag des „Verbrechens“, wie sie es nennt, vorzubereiten. Dazu zählen eine Wallfahrt für ganzheitliche Ökologie und Gerechtigkeit und der „Pakt der Betroffenen“, der erstmals die unterschiedlichen Opfergruppen in einer Organisation vereint. „Nur gemeinsam sind wir stark“, sagt Marina, die mehr als eine Stunde über Zoom über die derzeitige Situation in Brumadinho spricht.
Frau Oliveira, vor zwei Jahren barst das Rückhaltebecken der Mine Córrego do Feijão in der Nähre ihrer Heimatstadt Brumadinho. Wie ist die aktuelle Situation?
Es sind immer noch die Körper von elf Menschen unter den Schlammmassen begraben. Für die Angehörigen ist das fürchterlich, weil sie das Kapitel nicht schließen können. Die Feuerwehr hat die Sucharbeiten nach den Toten wegen der Corona-Pandemie ausgesetzt beziehungsweise stark eingeschränkt. Die Familien verlieren nun langsam die letzte Hoffnung, sich von ihren Liebsten verabschieden zu können. Außerdem kam es wenige Tage vor Weihnachten zu einem schweren Unfall bei Bauarbeiten von Vale. Dabei wurde ein 34-Jähriger Leiharbeiter verschüttet und getötet. Das Ereignis zeigt für mich erneut, wie rücksichtslos der Vale-Konzern, der unsere Region mit seinen Minen wirtschaftlich dominiert, mit Menschenleben verfährt. Auch unsere Natur ist nach wie vor stark beschädigt. Selbst zwei Jahre nach dem Dammbruch ist der wichtigste Fluss der Region, der Paraopeba, stark verseucht. Er fließt rotbraun durch Brumadinho. Einst war sein Wasser glasklar.
Welche Folgen hat die Corona-Pandemie für den Kampf um Gerechtigkeit?
Für unsere Bewegung bedeutete die Pandemie ein starke Einschränkung unserer Aktivitäten, weil wir nicht mehr zu den vom Desaster betroffen Gemeinden fahren konnten, beispielsweise den Siedlungen von Kleinbauern, Indigenen, Schwarzen und Landlosen. Das Problem ist, dass in vielen dieser Orte das Internet sehr schwach ist und die Menschen keinen Computer oder ein teures Smartphone haben, um beispielsweise an virtuellen Treffen teilzunehmen. So haben wir immer erst verspätet von den aktuellen Nöten und Sorgen der Menschen erfahren. Dieser ständige, auch physische Kontakt zu den Leuten ist aber ganz wichtig, und er zeichnet auch meine Arbeit aus. Der Minenkonzern Vale unterlag hingegen keinerlei Beschränkungen in der Pandemie. Der Bergbau wurde von der Regierung als essentielle wirtschaftliche Aktivität eingestuft und so schürfte Vale weiterhin jeden Tag Eisenerz. Dabei wurden zahlreiche Auflagen verletzt, wie wir erfahren haben. Viele Leiharbeiter des Konzerns wurden gemeinsam in Unterkünfte gesteckt und die Sicherheitsbestimmungen auf den Baustellen wurden verletzt. Der Konzern nutzte also die Pandemie aus, um weiterhin die Rechte von Menschen zu missachten.
Wie stellt sich denn die rechtliche Situation zurzeit dar. Es laufen ja verschiedene Klagen gegen Vale?
Der Konzern verfährt weiterhin nach der Taktik: teile und herrschen. Er versucht unsere Bewegung zu spalten und kollektive Klagen von Opfergruppen abzuwehren, die in der Zukunft als Präzedenzfälle für Verbrechen der Minenindustrie dienen könnten. Stattdessen beginnt er individuelle Verhandlungen mit Einzelpersonen und Familien über Entschädigungen. Dadurch will Vale diese Mensche abhalten, kollektiven Klagen beizutreten. So erhält dann ein Bauer eine Entschädigung aber sein Nachbar nicht. Damit sorgt Vale für Zwietracht. Der Konzern verhandelt zweitens mit der Landesregierung des Bundesstaats Minas Gerais über Entschädigungszahlungen aber unter Ausschluss von Opferangehörigen und anderer Betroffener. Vale will hinterher sagen können: Schaut her, was wir dem Bundesstaat alles bezahlen! Wozu noch diese ganzen Klagen gegen uns? Drittens hat Vale Aufträge an Firmen verteilt, die nun feststellen sollen, wo etwa Boden und Wasser verseucht sind und somit Menschen geschädigt werden. Aber die Kriterien dieser Firmen sind undurchsichtig, unverständlich und entsprechen nicht den Standards. Diese Firmen wurden von Vale engagiert, um positive Gutachten für Vale zu erstellen.
Wie konnten Sie und die katholische Kirche in der Pandemie helfen?
Wir haben beispielsweise fast 1000 Lebensmittelpaket verteilt, die wir aus Spenden finanzierten. Die Lebensmittel kauften wir bei Kleinbauern aus der Region, um die lokale Ökonomie zu stärken. Wir haben auch Kampagnen zur Wasserversorgung bestimmter Bauernfamilien gestartet, die Vale völlig willkürlich nicht als Betroffene des Desasters anerkennt. Man muss immer wieder Druck auf Vale ausüben, sonst macht der Konzern, was er will. Wir dürfen nicht ausruhen, denn Vale ruht nicht aus. Durch unsere Arbeit haben wir es auch geschafft, dass unabhängige Psychologen, Anwälte und Berater in Umweltfragen den verschiedenen Betroffenen des Verbrechens zur Seite standen. Eigentlich sind diese vom Gesetz vorgesehen, aber der brasilianische Staat macht nichts, wenn man keinen Druck ausübt.
Was ist der „Pakt der Betroffenen“, der als ein Höhepunkt der Wallfahrt ins Leben gerufen wird?
Wir haben eine große Gemeinde aller Betroffenen gegründet, in der Familien sind, die ihre Angehörigen verloren haben, Kleinbauern, Indigene, Landlose, schwarze Gemeinden. Denn nur als Einheit sind wir stark, alleine hast du keine Chance. Zu dem Pakt zählen 29 Projekte in der Region, die zur Stärkung der lokalen Wirtschaft und des sozialen Zusammenhalts der Gemeinden beitragen sollen, etwa Fortbildungskurse über Landwirtschaft, Installation von Solarenergie oder Kulturaktivitäten für Jugendliche.
Was ist Ihre persönliche Motivation, fast Ihre gesamte Zeit und Energie in den Kampf für Gerechtigkeit in Brumadinho zu stecken?
Für mich gilt das Jesus-Wort: „Ich bin gekommen, damit ihr das Leben in Fülle habt.“ Dazu gehören eine intakte Umwelt, gesunde Lebensmittel, eine würdige Unterkunft, sauberes Wasser, würdevolle Arbeit. Es ist unsere Rolle als Kirche, das immer wieder zu betonen und zu verteidigen. Nachdem, was Vale in Brumadinho angerichtet hat, konnte ich also nicht still sitzen. Ich hatte als Christin keine Wahl, es ist meine Aufgabe, etwas für Gerechtigkeit und den Frieden zu tun. Und erst dann, wenn sie uns unser Lachen, unsere Freude und unsere Solidarität nehmen, haben sie gewonnen.