Die gute Nachricht nach 100 Tagen Präsidentschaft von Jair Bolsonaro: Brasilien ist keine Diktatur geworden. Vor dem Amtsantritt des Ex-Militärs mit rechtsextremen Ansichten war befürchtet worden, dass das Land einen totalitären Kurs einschlagen könnte.
Es wurde mit der Verfolgung von Linke und Homosexuellen gerechnet. Die Angst gründete sich auf den horrenden Aussagen Bolsonaros, etwa, dass man Schwule schlagen und Linke erschießen müsse. Von einer Verfolgung von Minderheiten oder einem offenen Autoritarismus kann bislang jedoch keine Rede sein.
Die schlechte Nachricht lautet, dass die Regierung Bolsonaro einem Chaos gleicht. Sie besitzt keine Basis im zersplitterten Kongress mit rund 30 Parteien und hat kein einziges Gesetz verabschiedet. Dementsprechend fällt das Urteil der Bevölkerung aus: Bolsonaros Zustimmungsrate beträgt nur noch 32 Prozent. Es ist zu diesem Zeitpunkt der schlechteste Wert aller gewählten Präsidenten seit der Wiedereinführung der Demokratie 1988.
Bolsonaro ficht das nicht. Er spricht von Fake News und kommuniziert mit der Öffentlichkeit über Twitter. Das hat er sich von US-Präsident Donald Trump abgeschaut. Und so wie dieser sät er dort fast täglich Zwist. Damit schadet er seiner Regierung und dem Ansehen Brasiliens. Besonders deutlich wurde das während des Karnevals, als der Präsident ein Video teilte, in dem ein Homosexueller einem anderen auf die Haare uriniert. Bolsonaro klagte darüber, was aus dem Karneval geworden sei – so als ob die Szene repräsentativ wäre. Einen Tag später twitterte er: „Was ist eine Golden Shower?“
Selbst konservative Kommentatoren fragten sich jetzt, was im Kopf von Brasiliens Staatsoberhaupt eigentlich vorgehe. Brasilien hat dringende Probleme. Die Arbeitslosigkeit stieg zuletzt auf 13 Millionen Menschen an, die Quote beträgt 12,5 Prozent. Folglich ist auch die Zahle de Armen nach Jahren des Rückgangs wieder angestiegen: laut Weltbank sind heute 44 Millionen Brasilianer arm. Derweil stagniert die Wirtschaft, der Bolsonaro Liberalisierung und Entbürokratisierung versprochen hat. Es ist jedoch nicht klar, wie Bolsonaro seine Versprechen eigentlich umsetzen will; das Vertrauen in seine Kompetenz ist enorm gesunken.
Das wichtigste Vorhaben der Regierung Bolsonaro ist die Verabschiedung einer Rentenreform. Brasiliens Pensionssystem ist von absurden Privilegien für die Reichen geprägt. Außerdem wird auch die brasilianische Gesellschaft älter. Eine Reform wäre dringend geboten. Das Problem ist, dass sie allein von Wirtschaftsminister Paulo Guedes ausgearbeitet wird, einem neoliberalen Ökonomen. Sein Vorschlag, dass die Brasilianer in Zukunft privat fürs Alter vorsorgen sollen, stößt auf erbitterten Widerstand der Gewerkschaften und sozialer Bewegungen. Sie warnen vor Altersarmut.
Erstaunlicherweise scheint aber auch Bolsonaro kein großer Fan der Reform zu sein, und er tut wenig, um im Parlament eine Mehrheit für sie zu beschaffen. Der mächtige Parlamentspräsident Rodrigo Maia hat seinem Ärger über diese Haltung zuletzt mehrfach Luft gemacht: „Bolsonaro sollte sich mehr um die Reform kümmern als um Twitter.“
Bolsonaro und seine Söhne keilten sofort zurück und beleidigten Maia persönlich. Maia sagte daraufhin, dass Bolsonaro aufhören solle, Präsident zu spielen. Der Zank erhöhte nicht die Chancen für die Rentenreform und die Börsen reagierten negativ. Die meisten Beobachter sind sich einig, dass ein Scheitern des Vorhabens bereits das Ende der Bolsonaro-Regierung bedeuten würde.
Auch konservative Medien reagieren nun erschrocken auf die fehlende Kompetenz Bolsonaros. „Er ist nicht qualifiziert, um Brasiliens Präsident zu sein“, schreibt etwa die Zeitung „O Globo“. Er wolle Radau machen.
Dementsprechend hat Bolsonaro Minister berufen, die sich durch ihren Radikalismus auszeichnen. Bestes Beispiel: Außenminister Ernesto Araújo, der behauptet der Klimawandel sei „ein kulturmarxistisches Komplott“. Den Nationalsozialismus bezeichnete Araújo als linke Bewegung – und Bolsonaro wiederholte den Unsinn ausgerechnet bei einem Besuch in Israel. Dort schlug er sich auf die Seite der Israelis und ignorierte die palästinensische Seite komplett. Damit verärgerte er die arabische Welt, die aber ein weitaus wichtiger Handelspartner ist als Israel.
Genauso stieß Bolsonaro die Chinesen vor den Kopf, als er sich Donald Trump in Washington regelrecht an den Hals schmiss. China ist der wichtigste Abnehmer von Brasiliens Agrarprodukten.
Außenpolitisch folgt Bolsonaro damit der Linie des selbsternannten Philosophen Olavo de Carvalho. Der 78-Jährige gilt als „Guru“ von Brasiliens extremer Rechter. Er wettert gegen den sogenannten Globalismus, dessen Ziel es sei, die Nationen zu zerstören.
Bolsonaros größtes Versprechen war die Bekämpfung der Kriminalität. Aber bis auf die Lockerung der Waffengesetze hat er auf diesem Gebiet nichts erreicht. Stattdessen wird nun sein Sohn Flávio der Korruption verdächtigt. Flávio hat zudem offenbar Verbindungen zu den Milizen, die hinter der Ermordung der linken Stadträtin Marielle Franco in Rio de Janeiro stecken.
Als direkte Folge von Bolsonaros radikaler Sprache gilt der Anstieg der Polizeigewalt. „Toter Bandit, guter Bandit“ gehört zu seinen Lieblingssprüchen. Menschenrechtsorganisationen verzeichnen nun neue Rekordzahlen von Toten durch Polizeikugeln in Brasiliens Armenvierteln.
Als zerstörerisch erweist sich auch die Neuausrichtung der Umweltpolitik. Die Abholzung des Amazonaswalds hat neue Höchststände erreicht, und die Angriffe auf Indio-Reservate durch Bauern und illegale Goldsucher nehmen zu. Umweltgruppen kritisieren auch die Neuzulassung von 120 Pestiziden, obwohl die Brasilianer bereits heute die größten – unfreiwilligen – Konsumenten von Agrargiften auf der Welt sind.
Zuletzt versuchte Bolsonaro seine schlechte Bilanz in einem Interview zu verteidigen. Es gelang ihm nur halb. „Ich wurde nicht dazu geboren, Präsident zu sein, sondern Militär“, sagte der Präsident.