Yvonne Bezerra de Mello hatte an jenem Abend eine Vorahnung. „Ich gab drei Jungs eine Münze, damit sie mich anrufen, falls irgendetwas ist.“
Dann verließ sie die Gruppe aus 70 Straßenkindern, die vor der Candelária-Kirche in Rio de Janeiros Zentrum schliefen. Es war der 23. Juli 1993. Damals kümmerte Bezerra sich um die Kinder, die der Staat völlig ihrem Schicksal überlassen hatte. Die Jüngsten waren sechs Jahre alt, die Ältesten Anfang 20.
„In der Nacht kamen dann die Anrufe“, sagt Bezerra. „Die Jungs riefen: ‘Sie bringen uns um’.“
Yvonne Bezerra ist heute, ein Vierteljahrhundert später, eine international renommierte Pädagogin. Aber die Geschichte jenes Freitagabends hat ihr Leben geprägt. Es ist die Geschichte des Candelária-Massakers, das im Juli 1993 weltweit für Aufsehen sorgte. Auch deshalb, weil es ein ganz anderes Brasilien als das der Postkarten zeigte. Ein erbarmungsloses, brutales und sozial zerrissenes Brasilien. „Ein Land“, sagt Yvonne Bezerra, „wie es bis heute existiert.“
Yvonne Bezerra, 61, erzählt die Geschichte des Massakers in ihrem großen Apartment in Rios Stadtteil Flamengo. Ein paar Mal holt sie dabei alte Fotos hervor.
„Als ich damals eine halbe Stunde später an der Candelária ankam, lagen vor der Kirche Leichen“, erinnert sie sich. Die Kinder seien völlig verängstigt gewesen.
Insgesamt acht Kinder und Jugendliche zwischen elf und 19 Jahren wurden in jener Nacht erschossen. Wie schon bald herauskam, waren Polizisten die Täter. Sie stammten aus dem 5. Bataillon von Rios Militärpolizei, in dem es eine Art Todesschwadron gab, dessen Mitglieder auch mit Drogen handelten.
Es existieren verschieden Versionen darüber, was genau die Polizisten zu den Morden veranlasste. Offenbar waren sie aufgestachelt, weil Jugendliche einen Stein auf einen Streifenwagen geworfen hatte. Darüber hinaus aber, so ist Yvonne Bezerra überzeugt, habe es sich um eine Abrechnung gehandelt. „Die Polizisten dealten mit Kokain und einige ältere Jugendliche halfen ihnen“, sagt sie. Weil eine Rechnung offen war, wollten die Polizisten sich rächen.
Im anschließenden Prozess gegen sieben Beschuldigte wurden drei Polizisten verurteilt. Ein Angeklagter wurde während der Ermittlungen umgebracht, offenbar um Spuren zu verwischen. Alle drei Verurteilten sind jedoch heute auf freiem Fuß. Zwei kamen vor Ablauf ihrer Haftstrafen frei. Der Hauptschuldige, Marcus Vinícius Emmanuel Borges, ist hingegen flüchtig. Er war zu 300 Jahren Gefängnis verurteilt worden. 18 saß er ab.
„Für diese Gesellschaft zählen die Armen und Schwarzen nicht“, sagt Yvonne Bezerra. Sie wurde damals als Komplizin der Vagabunden beschimpft. Damit waren die Straßenkinder gemeint, an denen sich viele Menschen störten. Das Massaker sei von vielen als notwendige soziale Säuberung betrachtet worden, sagt sie.
Für Bezerra war der 23. Juli entscheidend, weil sie ihr Leben fortan der Arbeit mit Kindern widmete. Sie gründete das renommierte Bildungsprojekt Uerê, das heute eine Schule im Favelakomplex Maré betreibt. Aber wegen ihres Engagements erhält Bezerra bis heute Drohungen.
Bezerra glaubt, dass heute alle Straßenkinder von der Candelária-Kirche tot sind. Jahrelang hielt sie Kontakt zu einigen von ihnen. Aber der letzte Betroffene, den sie kannte, wurde kürzlich im Favelakomplex Maré von einem Querschläger tödlich getroffen. „Keins der Kinder erreichte das 50. Lebensjahr“, sagt sie. „Ihre Leben waren immer von Gewalt geprägt.“ Bekannt wurde der traumatisierte Sandro Barbosa, der im Jahr 2000 mit einem Revolver einen Bus entführte und von Polizisten anschließend erstickt wurde. Der Film „ônibus 174“ des Regisseurs José Padilha handelt davon.
Einen Überlebenden aus jener Nacht gibt es allerdings. Wagner dos Santos geriet eher durch Zufall in das Massaker. Nachdem die Polizisten sechs Kinder an der Candélaria-Kirche erschossen hatten, suchten sie in der Umgebung nach weiteren Opfern. Dos Santos befand sich eher zufällig in der Nähe von zwei Straßenkindern, und die Polizisten wollten ihn ebenfalls erschießen. Vier Kugeln trafen ihn, eine ins Gesicht. Aber er überlebte und wurde der wichtigste Zeuge im Prozess. Daher wurde später ein erneutes Attentat auf ihn verübt: wieder vier Kugeln, wieder überlebte er.
Dos Santos ist heute 45 Jahre alt und lebt zur Sicherheit in der Schweiz. „Er ist auf einer Gesichthälfte blind und taub und von schweren Traumata geplagt“, erzählt seine Schwester Patrícia Oliveira. Sie sitzt auf einem Sofa im Büro der Organisation „Rede de Comunidades e Movimentos contra Violência“ in Rios Zentrum. Sie selbst gründete die Organisation.
Dass ihr Bruder nicht an die Gerechtigkeit in Brasilien glaube, berichtet sie. An den Bedingungen, die zum Massaker führten, habe sich nichts geändert. Die Polizei töte immer noch schwarze junge Männer ohne Konsequenzen. Wagner dos Santos erhält heute umgerechnet 420 Euro Rente vom brasilianischen Staat. „Er will das Massaker endlich hinter sich lassen“, sagt Oliveira. „Aber wie soll er diese Gewalt vergessen?“
Auch Yvonne Bezerra glaubt, dass sich seit 1993 in Brasilien nichts geändert habe. „Staat und Gesellschaft tolerieren die Massaker an den Armen“, sagt sie. Tatsächlich ermordete ein Todesschwadron der Polizei nur einen Monat nach dem Verbrechen von Candelária 21 Menschen in der Favela Vigário Geral. Von 52 Angeklagten wurden sieben verurteilt, zuletzt war noch einer in Haft.
Bis heute verübt die brasilianische Polizei vor allem in Rio immer wieder Massaker an schwarzen und armen Jugendlichen. Hinzu kommt die Drogengewalt in den Favelas, die der Staat hinnimmt. Yvonne Bezerra hat eine Zahl parat: 1993 kamen rund 11000 Jugendliche in Brasilien gewaltsam ums Leben. Heute seien es jährlich etwa 28000. Es sei ein schleichender Genozid.