Um das kleine Wunder zu begreifen, das Brasiliens Nationaltrainer Adenor Bachi alias Tite vollbracht hat, muss man noch einmal vier Jahre zurückzublicken.
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Für Brasilien schien an jenem 9. Juli 2014 die Welt untergegangen zu sein. Die Zeitungen erschienen ganz in schwarz, schrieben in riesigen Lettern von „Schande“ und „Scham“. Das Blatt „O Dia“ titelte sogar: „Fahr zur Hölle, Felipão!”
Gemeint war Brasiliens Fußballnationaltrainer Felipe Scolari, der das 1-7 seiner Mannschaft gegen Deutschland im WM-Halbfinale ohne jede Reaktion erduldet hatte. Seine Team war unter der Last der Erwartungen einer ganzen Nation zusammengebrochen, die nicht weniger als den WM-Titel gefordert hatte. Statt des Finaleinzugs erlebte der brasilianische Fußball damals in Belo Horizonte seinen Super-GAU.
Viele wollten in der Niederlage sogar ein Abbild für den Zustand Brasiliens sehen: die Wirtschaft in der Rezession, die Politik korrumpiert, die Moral am Boden. Die Seleção wurde zum Sinnbild für die Misere des Landes. Ein geflügeltes Wort kam damals in Gebrauch. Mais um gol da Alemanha („Wieder ein Tor für Deutschland“) sagt man bis heute, wenn wieder mal etwas richtig schief gelaufen ist.
Und dennoch, trotz allem, wäre Brasilien auch nicht Brasilien, wenn man sich hier lange mit der Vergangenheit quälen würde. Was dieses Land antreibt, ist der ständige Blick nach vorn und das Vertrauen auf bessere Tage. So auch nach dem 1-7.
Die Brasilianer verließen sich also auf ihr schier unendliche Reservoir an hungrigen Talenten – und schicken nun, nur vier Jahre nach der Katastrophe, ein Team ins Rennen, das viele Beobachter bei der Russland-WM mindestens im Halbfinale sehen.
Natürlich ist Neymar der Fixpunkt des Teams. Doch im Gegensatz zu 2014 ruhen nicht mehr alle Hoffnungen auf ihm. Denn Brasiliens Trainer Tite (gesprochen Tschitsch) ist scheinbar kinderleicht die Aufstellung eines Wahnsinnskaders gelungen. Er selbst sagt, er hätte auch problemlos 40 Spieler nominieren können, so groß sei die Auswahl gewesen.
Zunächst einmal fällt da die rein individuelle Klasse der Spieler auf. Auf den Außen der vor Energie nur so sprühende Marcelo von Real Madrid (dem das 1-7 nie etwas ausgemacht zu haben schien) sowie Danilo von ManCity. In der Innenverteidigung die robusten Miranda (Inter Mailand) und Thiago Silva (Paris St.-Germain), davor auf der Sechs Casemiro (Real Madrid). Im Mittelfeld wie erwartet auf zentraler Position Coutinho sowie Paulinho (beide Barcelona) und der pfeilschnelle Willian (Chelsea). Schließlich im Sturm Gabriel Jesus, der einen maßgeblichen Anteil am englischen Meistertitel für Manchester City hat. Sie alle gelten als für die erste Elf gesetzt. Für Neymar wiederum gilt: zu wahrer Größe muss er einen WM-Titel nach Brasilien holen. Russland ist seine Chance.
Nun heißt es ja, dass jedes Team letztendlich nur so gut ist wie seine Reservebank. Genau hier liegt eine der großen Stärken der brasilianischen Auswahl. In den meisten anderen Teams gehörten ihre Ersatzleute zur festen Auswahl: die Mittelfeldleute Fernandinho (ManCity) und Fred (Schachtar Donezk – und nicht zu verwechseln ist mit dem Pech-Fred). Hinzukommen die dribbelstarken Angreifer Douglas Costa (Juventus Turin) und Roberto Firmino von Liverpool.
Die einzigen Spieler, die übrigens ihr Geld in Brasilien verdienen, sind Abwehrspieler Pedro Geromel (Grêmio Porto Alegre), Verteidiger Fagner und Ersatztorwart Cássio (beide Corinthians). Apropos Torwart: Ein weiteres Merkmal für die neue Klasse der Seleção sind die Torhüter. Keine Wackelkandidaten mehr, sondern mit Alisson (Roma) und Ederson (ManCity) zwei Championsleague-erfahrene Spieler.
Brasiliens Sportmedien sind nun voll des Lobs für Trainer Tite. Als der 56-Jährige Mitte 2016 die Seleção übernahm, stand sie auf Platz 6 der südamerikanischen WM-Qualifikation. Es folgten zehn Siege, zwei Unentschieden und ein erschreckend dominantes Auftreten. Tite schaffte es, binnen kurzer Zeit, ein Team zu formen, anstatt eine bloße Ansammlung von einem Star und vielen Sternchen. Das Ergebnis: Mit 41 Toren und elf Gegentoren hat Brasilien den mit Abstand besten Sturm und die beste Abwehr Südamerikas.
Soll Tites Vorgänger Dunga die Spieler enorm unter Druck gesetzt haben, so hat Tite ihnen Selbstvertrauen und Spaß zurückgegeben. Er gilt als seriöser, konzentriert arbeitender Typ ohne Extravaganzen. Seine Aufstellung, so hat Tite immer wieder klar gemacht, folge einzig den Bedürfnissen des Teams. Namen spielten keine Rolle. Diese Fairness sichert ihm den Respekt und die Zuneigung der Spieler. Tites Konstanz zeigt sich auch darin, dass er lediglich zwei taktische Systeme variiert. Entweder lässt er ein 4-1-4-1 spielen oder ein 4-2-3-1. Er wollte offenbar nicht den Fehler begehen, in seiner relativ kurzen Amtszeit zu vielen Varianten auszuprobieren. Auffällig dabei ist vor allem, dass Tite in beiden Systemen Wert auf eine solide Abwehr und schnelle, vertikale Vorstöße legt. Dass er gleich vier Angreifer nominiert hat (rechnet man noch Douglas Costa dazu, wären es sogar fünf), lässt ein selbstbewusst attackierendes Team erwarten.
Gibt es nun für die Brasilianer so etwas wie Wiedergutmachung für die „Schande“ von Belo Horizonte? Viele antworten darauf: ein Sieg bei der WM 2018. Die Latte für die Seleção hängt also enorm hoch. Sie hat nicht nur schönen Fußball zu spielen, sondern quasi eine patriotische Pflicht zu erfüllen. Sie soll Brasilien, dieser so tief in arm und reich, rechts und links gespaltenen Nation etwas schenken, worauf man gemeinsam stolz sein kann. Die Chancen, dass sie bei dieser Aufgabe weit kommen wird, stehen nicht schlecht.