Und dann überholt er schon wieder. In weißer Tunika und weißen Hosen nimmt der Kogi leichtfüßig die Steigung, die Beine stecken in Gummistiefeln, die langen schwarzen Haare wehen im Wind. Auf der Stirn des kleingewachsenen Indios: kein Schweißtropfen.
Und so, als ob er die kleine Wanderschar verhöhnen wollte, bleibt er oben stehen und holt aus seiner Umhängetasche seinen Poporo: einen kleinen ausgehöhlten Kürbis mit langem Hals. Das Ding ist mit Muschelkalk gefüllt, der Kogi führt einen Stab hinein, leckt daran und reibt die Spucke an der Außenhaut des Kürbisses ab.
Der Effekt ist verblüffend. Denn mit den Monaten wird der Poporo durch die Kalkablagerungen immer größer – bis er schließlich zu voluminös ist, um im Beutel der Kogis mitgeführt zu werden. Dann wird ein neue Poporo in Angriff genommen.
Dem Kogi-Glauben zufolge stellt so eine gewachsene Kalabasse die Materialisierung der Gedanken ihres Besitzers dar. Je besser die Gedanken, umso schöner der Poporo. Aber der Poporo dieses Kogi ist noch klein und so muss sein Wachstum stetig befördert werden. Das heißt: alle fünf Minuten. Die Poporo-Pflege hindert den Kogi aber nicht daran, wie ein Wiesel durch den Dschungel zu flitzen. Der Mann ist nämlich auch Koch und will vor der Wandergruppe im Camp sein, um das Abendessen vorzubereiten. Nicht in seiner Funktion als Koch ist er allerdings komplett in weiß gekleidet. Die Kogis tragen immer und überall weiß.
Als auch die Wanderer die Anhöhe erklommen haben, ist der Kogi schon weiter geflitzt und die Gruppe hat es während des Aufstiegs auseinandergerissen. Denn in so einer bunt zusammengewürfelten Schar gibt es immer ein paar Bergziegen und solche, die in der Zivilisation keinen Fahrstuhl auslassen.
Hier aber gibt es nur einen schmalen Pfad, der sich durch den Dschungel der Sierra Nevada de Santa Marta windet. Das Gebirge am nordöstlichsten Zipfel Kolumbiens ist das letzte Aufbäumen der Anden, bevor der südamerikanische Kontinent in der Karibik abfällt. Ihre beiden höchsten Gipfel sind 5700 Meter hoch und machen die Sierra Nevada zum zweithöchsten Küstengebirge der Welt. Küstengebirge, das ist hier ganz wörtlich zu nehmen. Nur einige Kilometer weiter unten kann man am Strand liegen, Cocktails trinken und sich vorstellen, wie der Wind über die schroffen Berge pfeift, die schneebedeckt am Horizont aufragen.
Ob dieser Strandperspektive ergibt sich natürlich die Frage, was die Wanderer hier machen, verschwitzt, verschlammt, von Moskitos attackiert und von Kogis verhöhnt. Die Antwort lautet: Sie sind auf dem Weg zur Ciudad Perdida – die Verlorene Stadt. Ein von Mythen umrankter Ort tief in der Sierra Nevada zwei Tagesmärsche vom nächsten Dorf entfernt. Jahrhundertelang lag Ciudad Perdida vergessen im Urwald, bis Grabräuber 1972 auf eine steinerne Treppe im Dschungel stießen, deren Ende sie nur erahnen konnten, so weit führte sie einen Berg hinauf. Oben fanden die Männer die Mauern Hunderter runder Gebäude.
Die Anlage, so glaubt man heute zu wissen, war einst das religiöse und politische Zentrum der prä-kolumbischen Tayrona-Kultur. Errichtet um das Jahr 800 wurde sie schon im 16. Jahrhundert wieder verlassen und vom Urwald verschluckt. Nur die Nachkommen der Tayronas – die Kogis, Arhuaco und Wiwas – besuchten die Ruinenstätte weiterhin sporadisch, hielten ihre Existenz aber geheim.
Ab 1976 legte die kolumbianische Regierung Ciudad Perdida frei und stellte sie unter Denkmalschutz. Dennoch war der Besuch lange nur unter großen Risiken möglich. Der kolumbianische Bürgerkrieg beherrschte auch die Sierra Nevada: In den Bergen patrouillierte die linke Guerillatruppe ELN, die 2003 acht Ausländer in Ciudad Perdida entführte. Weiter unten trieben rechte Paramilitärs ihr Unwesen.
Dazwischen lebten rund 30.000 Indigene, die ihre Traditionen verteidigten und Fremden den Zutritt zu großen Teilen der Sierra Nevada verweigerten. Sie tun dies bis heute. Nur eine einzige Route zur Verlorenen Stadt haben sie freigegeben. Dafür erhalten sie einen Anteil der umgerechnet 250 Euro, die man für die viertägige Wanderung samt Unterkunft und Verpflegung zahlt.
Und für Sicherheit sorgt jetzt der Staat. Als die Wanderung am Vormittag in dem Dorf Machete Pelado beginnt, patrouillieren Soldaten. Zwei Tage später trifft man in Ciudad Perdida auf einen Militärposten. Die Botschaft ist klar: Hier wird niemand mehr entführt. Und so hat das Ende des Bürgerkriegs zu einer regelrechten Explosion des Tourismus in Kolumbien geführt. Auch die Trekkingtouren zur Ciudad Perdida haben zugenommen. Allein ist man bei diesem Abenteuer jedenfalls nicht mehr.
Nach längerem Anstieg kommt die Gruppe an einem Holzverschlag vorbei, in der ein fröhlicher Bauer isotonische Getränke sowie Kokablätter aus eigenem Anbau anpreist. Letzteres wird in einem Subprodukt auch als bolivianisches Marschierpulver bezeichnet, und so sagen ein paar Wanderer: Her damit, guter Mann!
Eine handvoll Blätter in die Backe geschoben, und schon geht alles viel einfacher. Die Landschaft wird nun immer majestätischer: Schluchten tun sich auf, aus denen gewaltiges Flussrauschen aufsteigt, die Berghänge ziehen sich immer schwindelerregender in den Himmel, intensiver wird auch das Schreien, Warnen und Singen der Vögel, das Klopfen der Spechte und das Schnarren der Zikaden – und in vielen Momenten: die plötzliche Stille. Hier ist man dann wirklich mal weg, keine Straßen, kein Strom, kein Internet.
Die Sierra Nevada ist seit 1964 kolumbianischer Nationalpark, gilt heute sogar als eins der weltweit wichtigsten Schutzgebiete für bedrohte Tierarten, etwa den Jaguar und den Kondor. Die Zivilisation erscheint weit weg, und nach der Wanderung ist die Gruppe sich einig, dass die Abwesenheit jeglicher Internetverbindung zu den schönsten Erfahrungen des Trips zählte.
Pünktlich mit dem Sonnenuntergang ist das erste Camp erreicht. Das Camp Alfredo besteht aus drei Dutzend robusten Doppelstockbetten sowie Hängematten unter einem Wellblechdach. Die Betten sind mit Gummimatratzen, Polyesterdecken und Moskitonetzen ausgestattet. In einem Betonbau gibt es ein paar rudimentäre Klos und Duschen. Aber man kann auch in einem nahe gelegen Bach baden. Allerdings nur vor Einbruch der Dunkelheit. Danach, so warnt der Wanderführer, kämen die Schlangen aus dem Unterholz.
Es kommen dann noch zwei weitere Wandergruppen im Camp an, und man sitzt mit Holländern, Schweizern, Amerikanern, Franzosen, Italienern, Argentiniern und Kolumbianern an einer langen Holztafel, schaufelt Rindfleisch, Reis, Yucca und Gurkensalat in sich hinein, der Kogi-Koch hat ganze Arbeit geleistet. Transportiert wird die Verpflegung von scheinbar unzerstörbaren Mulis, die mit riesigen Säcken die Pfade entlang getrieben werden. Nach dem Essen fällt die kleine UN-Versammlung geschlossen in die Kojen begleitet vom Quaken mehrerer Legionen Frösche.
Um 5 Uhr 30 heißt es: Aufgestanden! Der Wald erwacht mit einem Sinfoniekonzert aus Vogelgesängen. Es gibt Frühstück: Eier, Bananen und der dünne Kaffee, der in Kolumbien tinto heißt. Eine 14 Kilometer lange Etappe steht an, die eigentliche Herausforderung der ganzen Unternehmung.
Es geht auch gleich gut los. Der Pfad ist so verschlammt, dass man sich seitlich an ihm vorbei durchschlagen muss. Es folgen atemraubende Steigungen; und Abhänge, welche die Knie Belastungsproben unterziehen. Es geht mehrfach barfuß durch Flüsse, an gespannten Seilen entlang. An einer besonders bukolischen Stelle ragt auf einer Lichtung eine Kogi-Siedlung aus dem hohen Gras auf: Rundhütten aus Holz, deren Dächer spitz zulaufen. Sie symbolisieren die höchsten Berge der Sierra Nevada, die den Kogi heilig sind.
Ein paar Kogi-Frauen sitzen im Freien, erwidern aber das Grüßen der Wanderer nicht. Die Kogis sind gespalten, was den Umgang mit den Touristen angeht. Einige Gruppen lehnen den Kontakt mit der Außenwelt ab und haben sich in die Berge zurückgezogen. Andere haben einen Kompromiss gefunden und kooperieren mit den Tourveranstaltern. Beeindruckend ist wie sie an ihrer Kosmologie und Spiritualität festhalten. Die Kogi betrachten sich als Hüter von Mutter Erde. Die Sierra Nevada ist ihr Herz, das sie beschützen müssen. Ohne ihr Herz stirbt die Welt, sagen sie.
So richtig das sein mag, so archaisch wirken viele Traditionen der Kogi. Nur Männern ist es gestattet, Schuhe zu tragen, Frauen und Kinder laufen barfuß. Und während die Frauen Holz sammeln oder auf dem Feld arbeiten, sieht man die Kogi-Männer nur allzu oft an ihren Poporos spachteln, deren Handhabung den Frauen untersagt ist. Auch Kokablätter kauen dürfen nur die Herren der Schöpfung. Mädchen werden hingegen mit der ersten Periode vermählt, ihre Kinder stehen entlang des Wege und betteln um Süßigkeiten. An einem Rastpunkt sitzt eine Gruppe von Kogis wie hypnotisiert vor einem Fernseher, der per Generator betrieben wird. Das Bild ist von brutaler Widersprüchlichkeit.
Als die Sonne am Mittag ihren Zenit erreicht, wird Rast an einem Flussufer gemacht. Die Sonne brennt, der Himmel ist blau. Aber nur kurz darauf beginnt es, aus Kübeln zu schütten. Völlig durchnässt erreichen die Wanderer einige Stunden später das Camp für die heutige Nacht. Es heißt Camp Paraiso, liegt im schmalen Tal des rauschenden Rio Buritaca, dem Hauptfluss der Region. Doch mit Paraiso ist nichts, das Camp ist rappelvoll, eine Schulklasse aus Bogotá hat es in Beschlag genommen. Einer ihrer Begleiter erzählt, dass die Kids lernen sollten, ohne Internet klar zukommen.
Am nächsten Morgen heißt es noch vor Sonnenaufgang: hoch die müden Knochen. Ciudad Perdida liegt nur noch wenige Kilometer entfernt. Man watet nun durch den Rio Buritaca und findet die legendäre Treppe zur Verlorenen Stadt. Sie besteht aus Steinplatten, ist steil, schmal und rutschig. 1200 Stufen geht es nun vorsichtig hinauf. Und dann ist sie da: die Lost City.
Übrig geblieben sind runde und ovale Mauerreste, die sich in Terrassen den Berg hinaufziehen. Viel ist es nicht, und man braucht etwas an Fantasie, um sich das Leben der 8000 Menschen vorzustellen, die hier gelebt haben sollen. Es ist die mysteriöse Atmosphäre, die den größten Reiz ausübt. Aber warum errichteten die Tayrona ihre Hauptstadt an diesem schwer zugänglichen Ort. Die mögliche Antwort: Sie wähnten sich auf 1200 Metern näher bei den Göttern. Die runden Strukturen der Gebäude symbolisierten die Gestirne. Die Steine, aus denen die Tayrona ihre Häuser bauten, sprengten sie hier oben von Felsen ab, die sie erhitzten und mit kaltem Wasser übergossen.
Am höchsten Punkt der Anlage nähert sich ein alter Kogi. Es sagt, er sei der Schamane Mamo Romualdo, einer der höchsten Würdenträger der Kogi. Er bewache die heilige Stätte.
Romualdo ist so etwas wie das Maskottchen der Verlorenen Stadt. Die Touristengruppen, die im Laufe des Vormittags eintreffen, fotografieren ihn ausgiebig, stellen ihn hier und dorthin. Eine seiner Frauen (Schamanen sind Polygamisten) verteilt Armbänder, die Glück bringen sollen. Immer auch in der Hoffnung auf ein paar Pesos.
Und irgendwann greift der Schamane dann in seinen Umhängebeutel und holt einen Poporo heraus. Zeit, mit dem Abstieg zu beginnen. Zwei Tage dauert der Rückweg. Unten warten die Strände der Karibik.