Die Maschine, die alles änderte, wirkt auf den ersten Blick wie ein gefräßiges riesiges Insekt: ein Raupenfahrzeug, an dessen Front vier leicht angewinkelte Förderschrauben ein metallenes Maul bilden. Darüber erhebt sich bedrohlich ein Ausleger.
In der Mitte thront die Führerkabine, dahinter ragt ein Förderarm in die Höhe. Was ungewohnt ausschaut, entpuppt sich als Zuckerrohrschneider. Er steht in der Maschinenhalle von Antônio Cury, dem Besitzer des Agrarbetriebs Estiva. Der 62-Jährige sagt über das Erntefahrzeug: „Mit ihm begann in Brasilien eine neue Zeitrechnung.“
Die Fazenda Estiva liegt in der Nähe des Städtchens Ituverava im brasilianischen Bundesstaat São Paulo. Ituverava ist das Zentrum einer agrarisch dominierten Region. Rund um den Ort breitet sich eine sanfte Hügellandschaft mit fruchtbaren roten Böden aus, das Klima ist subtropisch warm. „Es sind ideale Bedingungen für den großflächigen Anbau verschiedener Nutzpflanzen“, sagt Antônio Cury. Nicht umsonst werde die Region auch „Kalifornien Brasiliens“ genannt.
In den vergangenen Dekaden hat sich hier ein erstaunlicher Wandel vollzogen. Wurde rund um Ituverava bis Ende der Achtzigerjahre noch Baumwolle angepflanzt, spezialisierten sich die Bauern danach auf Mais und Soja. Um die Jahrtausendwende begann dann ein Zuckerrohrboom, ausgelöst von der Nachfrage nach Bio-Treibstoff. Dieser dauert an. Bis zum Horizont reichen heute die Felder mit den hellgrün schimmernden Zuckerrohrstauden.
Einer der größten Bauern in Ituverava ist Antônio Cury. Seine Fazenda umfasst 3000 Hektar Land, und er beschäftigt 40 Angestellte. Curys Jahresernte beläuft sich auf 230.000 Tonnen Zuckerrohr, die er an drei Fabriken verkauft, die daraus Zucker, Ethanol und Elektrizität durch die Verbrennung der Bagasse gewinnen. Sein jährlicher Umsatz schwankt zwischen umgerechnet 3,2 und vier Millionen Euro.
Großbetriebe wie der von Cury tragen dazu bei, dass Brasilien heute der größte Zuckerrohrproduzent der Welt ist. Das Land erntet so viel wie seine sechs nächsten Konkurrenten auf dem Weltmarkt zusammen. Es ist ein Trend, der die brasilianische Landwirtschaft insgesamt charakterisiert. Ob Kaffee, Soja, Mais, Orangen oder Rindfleisch: Brasilien gehört heute zu den größten Herstellern der Welt. Ohne den Einsatz spezialisierter Maschinen wäre das unmöglich. Beim Zuckerrohr hat das Land geradezu eine technische Revolution erlebt.
Die schädliche Seite des massiven Anbaus von Monokulturen ist bekannnt: ausgelaugte Böden, enormer Einsatz von Düngern und anderen Agrarchemikalien sowie Schädlinge, die Resistenzen entwickeln, was noch größere Mengen an Pestiziden erfordert.
„Ich war ein Pionier“, sagt Antônio Cury. „Ich baute in Ituverava als erster Zuckerrohr an. Mit den Jahren steigerte ich meine Erträge um 20 Prozent.“ Das sei der Mechanisierung zu verdanken. Moderne Maschinen brächten Schnelligkeit und Genauigkeit.
Curys Maschinenpark umfasst 40 Fahrzeuge, darunter ein neuer Zwölf-Tonnen Traktor mit GPS und 225 PS, den er für das Ziehen schwerer Pflüge einsetzt. Seine jüngste Anschaffung aber ist ein mit Bordcomputer ausgestattetes Sprühfahrzeug, das Pestizide abschnittsgenau in zuvor programmierten Mengen auf einem Feld ausbringt. Weitere Besonderheiten der circa 200.000 Dollar teuren Maschine: die Bodenfreiheit von 1,35 Metern; Sprüharme mit einer Spannweite von 24 Metern; eine isolierte Fahrerkabine, in die keine Pestizide eindringen können; die hohe Geschwindigkeit von 50 Km/h. „Dieses Fahrzeug erledigt die Arbeit zehn herkömmlicher Traktoren“, schwärmt Cury – und man versteht, warum Betriebe wie seiner als Präzisionslandwirtschaft bezeichnet werden.
Die Stars aber seien die Zuckerrohrschneider, sagt Cury. „Sie veränderten alles“. Noch vor wenigen Jahren wurde Zuckerrohr in Brasilien von Saisonarbeitern mit Macheten geschlagen. Dazu zündete man vorher die Felder an, um die Stauden von den Blättern zu befreien. Diese Zeiten sind vorbei. 2014 wurde die 95-prozentige Mechanisierung der Zuckerrohrernte in Brasilien erreicht.
Wie diese ausschaut, kann man einige Kilometer von Curys Fazenda entfernt beobachten. Dort fräst sich eine Erntemaschinen mit 20 Km/h regelrecht durch ein Feld. Mit einem vorgelagerten Arm schneidet sie die Blätter über der Staude ab, welche sie dann etwas oberhalb des Bodens abtrennt und aufnimmt. Im Innern der Maschine werden die Stauden zerteilt, bevor sie in einen neben der Erntemaschine fahrenden Truck ausgeworfen werden.
Cury selbst besitzt nur eine Erntemaschine. Es sei üblich, sagt er, sich diese bei den Zuckerrohrfabriken zu leihen. Das sei günstiger und es gehe schneller.
Allerdings, gibt Cury zum Abschied zu bedenken, seien auch die besten Maschinen nutzlos, wenn es nicht regne. Leider verzeichne man seit einigen Jahren zunehmende Trockenheit. Experten vermuten, dass der ausbleibende Niederschlag mit der Abholzung des Regenwalds in der Amazonasregion 2000 Kilometer weiter nördlich zu tun habe. Denn weniger Wald führt zu weniger Wolkenbildung. Gerodet wird der Amazonzaswald für riesige Sojafelder und Rinderweiden. Es ist die Kehrseite der industriellen Landwirtschaft, wie sie auch Antônio Cury betreibt.
600 Kilometer südöstlich von Ituverava kämpft man ebenfalls mit der Trockenheit. Auf der Fazenda St. Rita spannt ein Vorarbeiter gerade einen Flug hinter einen der beiden Traktoren des Betriebs. Ein kleines Feld soll für die Aussaat von Mais vorbereitet werden – obwohl es eigentlich noch nicht ausreichend geregnet habe, sagt Fazenda-Chef Amauri Almeida.
Die Fazenda St. Rita liegt in einem schmalen Hochtal im Bergland des Bundesstaats Rio de Janeiro. Auf rund 90 Hektar baut Almeida mit zehn Angestellten Mais, Kaffee und Gemüse an: Bohnen, Maniok, Tomaten, Zucchini, Auberginen. Auf 254 Hektar halten sie 392 Rinder. Außerdem gehört eine kleine Hühnerfarm dazu.
Zwar ist Almeida nicht der Besitzer der Fazenda St. Rita – dieser lebt in der vier Stunden entfernten Millionenmetropole Rio de Janeiro – aber er ist seit 27 Jahren ihr Manager. Einmal pro Woche lässt er die Erzeugnisse mit einem alten Truck zu einem Großmarkt nach Rio ins Tal transportieren. Insgesamt erzielt die Fazenda so einen Umsatz von umgerechnet 170.000 Euro.
Die Fazenda St. Rita unterscheidet sich – nicht nur, was die Zahlen angeht – grundlegend von der Fazenda Estiva in Ituverava. Sie ist die andere Seite des brasilianischen Agrarmodells. Wird dort auf riesigen, monokulturell bepflanzten Flächen Präzisionslandwirtschaft mit computergesteuerten Maschinen betrieben, wirtschaftet man hier fast noch wie zu Großvaters Zeiten. So ernten Almeidas Angestellte etwa den Großteil des Gemüses mit der Hand. Auch den Mais pflücken sie manuell. „Wir sind klein, aber ich bin stolz darauf, dass wir Essen für die Bevölkerung produzieren“, sagt Almeida. Da ist etwas dran. Während die Großbetriebe vor allem für den Export produzieren, werden 70 Prozent der Lebensmittel, die die Brasilianer konsumieren, von kleinen bis mittleren Betrieben wie dem von Almeida hergestellt.
Die Kleinbetriebe schaffen das über ihre bloße Anzahl: 4,4 Millionen von ihnen sind in Brasilien registriert, sie beschäftigen 14 Millionen Menschen. Maschinen können sie sich kaum leisten. Vier Jahre ist es her, dass Almeida die letzte große Anschaffung gemacht hat: ein Traktor mit 75 PS für umgerechnet 29.000 Euro. Bis dahin hatte man mit einem einzigen Traktor gearbeitet. Er stammte von 1982.
Die neue Maschine sei ein Kompromiss zwischen Leistung und Gewicht gewesen, erklärt Almeida. Denn wenn der Traktor zu schwer sei, verdichte er den Boden. Genutzt werde die Maschine für alles Mögliche: zum Pflügen, für die Aussaat, das Ausbringen von Pestiziden. Aber auch um Anhänger mit Gemüsekisten zu ziehen. „Er ist unser Allround-Gaul“, sagt Almeida.
Als größte Herausforderung neben der Trockenheit beschreibt der 54-Jährige das unebene Terrain. Er würde sich daher zusätzlich einen kleinen Traktor wünschen, mit dem er an abschüssigen Hängen, zwischen den Gemüsefeldern und Kaffeehainen fahren kann. Aber den habe er bisher auf dem Markt nicht gefunden. „Wir sind ein kleiner Betrieb“, sagt er, „aber wir möchten wachsen.“ Genau das ist in Zukunft wohl nur mit geeigneten Maschinen zu erreichen. Aus einem einfachen Grund: Almeida gehen die Arbeiter aus. Seine zehn Angestellten sind im Durchschnitt 45 Jahre alt, und ihre Söhne und Töchter suchen sich lieber Jobs in der Stadt, als sich die Hände auf dem Feld schmutzig zu machen.
Almeida kann das nicht verstehen. Er arbeitet seit 27 Jahren auf der Fazenda St. Rita, und er hat noch kein einziges mal Urlaub gemacht. „Ich sehne mich auch nicht danach“, sagt er. „Die Arbeit auf dem Land erfüllt mich.“