Andere Städte haben weißen Sand und Kathedralen. Tijuana hat den längsten Schrotthaufen der Welt.
Kaum dass man aus dem Flughafen tritt, da steht sie schon, protzig und bedrohlich: die Mauer von Tijuana, die die Landschaft auseinander reißt, wo Amerika 1848 mit dem Lineal die Grenze zog. Vor sieben Jahren von den USA für Millionen von Dollars gebaut und seitdem ständig aufgerüstet, ist sie zum Symbol des Scheiterns geworden: einer gescheiterten Beziehung, einer gescheiterten Drogenpolitik und einer gescheiterten Globalisierung, die vor allem eins geschaffen hat: Emigranten. Und Städte wie Tijuana.
“Irakis, Philippinos, Togesen, Gualtemalteken, alle habe ich schon rüber gebracht. Auch ein Deutscher war mal dabei.” Der Stolz in Ivans Stimme ist nicht zu überhören. Er ist 28 Jahre alt und arbeitet seit 16 Jahren in einer Schmugglerbande, Ware Mensch. Es ist ein einträglicher Beruf, wie seine blank polierten Lederschuhe und sein neuer Sweater (Aufschrift: “Born in the USA”) zeigen. “Seit es die Mauer gibt, brummt das Geschäft. Wir haben Schnellboote und Trucks und bringen die Leute garantiert bis nach Los Angeles. Wie es früher war? Da stand ein Maschendrahtzaun, den haben wir einfach mit der Kneifzange aufgeknipst.”
Irgendwie kann man nachvollziehen, warum Amerika ihr die Türe vor der Nase zuschlug. Tijuana ist eine Stadt der Superlative und deshalb anstrengend und aufdringlich. Mit gut 100 Jahren ist sie eine der jüngsten Töchter Mexikos. Und wie alle jüngsten Töchter ist sie auch eine der wildesten. Sie hat Drogenprobleme und neigt zur Gewalttätigkeit. Von Amerika hat sie nur die schlechten Angewohnheiten übernommen. Einkaufszentren bauen, Auto fahren, Cola trinken. Auf ihren Straßen stehen als Touristenattraktion Esel, die wie Zebras angemalt sind und mit denen sich die Gringos fotografieren lassen, die Tijuana am Tag besuchen. Säckeweise tragen sie Medikamente nach Hause, ohne Rezept und für wenig Dollars. Deshalb hat Tijuana die höchste Apothekendichte auf dem Planeten. Nach Sonnenuntergang fällt dann eine andere Sorte Gringos ein. Der Alkohol ist billig, die Nutten sind jung und schön. “Komm rein, Sir! Willst du Titten sehen? Kein Eintritt! Bier ein Dollar”, krakeelen die Türsteher auf der “Avenida de la Revolucion”, der berüchtigsten Vergnügungsmeile zwischen Alaska und Feuerland.
Billiges Vergnügen ist es, was Amerika von Tijuana will. Verachtend (und voller Neid auf ihre Freizügigkeit) nennt es sie “Sin City”. Wer an einem Sonntagmorgen in die Staaten will, wird von den US-Grenzern dreckig angelacht: “Na, Spaß gehabt in Tijuana, he, he?” “Nein, ich wohne da.” Überheblichkeit wird zu Erstaunen: “Du lebst da?” In Tijuana kann man doch nicht leben. In Tijuana überlebt man.
Das Einzige, was Amerika Tijuana jemals geschenkt hat, sind Fabriken ohne Fenster. Hier schrauben junge Frauen für wenig Lohn die meisten Fernseher auf dem Globus zusammen. Die letzte Schraube freilich darf Amerika bei sich zu Hause reindrehen, weshalb dann auf dem Apparat steht: “Made in USA”. In Tijuana grüßt dafür am Ortseingang ein Schild: “Welcome to Tijuana – La capital del televisor”. Weil es Arbeit gibt in Tijuana, ist sie eine der am schnellsten wachsenden Städte der Welt. Ihre Einwohnerzahl liegt irgendwo zwischen 800 000 und zwei Millionen. Jeden Tag spuckt der Busbahnhof die Neuankömmlinge aus, die in den USA ihr Glück zu machen hoffen. Doch Amerika sagt’s mit einer Mauer: Ich brauche euch nicht!
Also bleiben die Männer und Frauen in Tijuana, um sich in Fabriken und Bordellen Geld für einen wie Ivan zu verdienen. Der bringt sie für 1500 Dollar rüber. Oder sie versuchen es auf eigene Faust durch die Wüsten und Berge im Landesinneren – und gehen das Risiko ein zu sterben wie die 1500 Menschen, die hier seit Mauerbau verdurstet oder erfroren sind. Kürzlich kam Tijuana zu ungeahnten Ehren. In dem Film “Traffic”, der nun auch in Deutschland angelaufen ist, taucht die Stadt in einer Nebenrolle auf. Michael Douglas steht als Drogenbeauftragter seiner Regierung am Grenzübergang und blickt irritiert auf die 40 000 Grenzgänger, die hier täglich die Welten wechseln. Womit Tijuana – wie könnte es anders sein – den meist überquerten Grenzübergang auf Erden hat.
Im Film herrscht das “Tijuana-Kartell” über die Stadt. Im wirklichen Leben sind es die Gebrüder Arellano Felix. Sie schmuggeln die Drogen, die in Amerika reißenden Absatz finden. Sie regieren Tijuana wie einen Hofstaat, bestechen Polizisten, Richter und Politiker. Und sie sind nicht dumm. Seit einem Jahr “vermieten” sie die Stadt an die Drogenkartelle, die sie vorher aus Tijuana vertrieben hatten. Die Mieten sind horrend, das Jahreseinkommen der Arellanos auch. Das Volk indessen verehrt die Drogenhändler. Sie bieten den korrupten Eliten Mexikos die Stirn. Und sie zeigen es den arroganten Amerikanern. Im Taxi schunkelt man mit den “Tucanes de Tijuana”, die die Vorzüge des Kokainschmuggels und die “Heldentaten” der Drogenbosse besingen. Ihre Polkas sind Auftragsarbeiten, bestellt von den Schmugglerfürsten höchstselbst. Jeder weiß das, keinen stört es. Nur Amerika macht Zicken.
Erst schlug man den Mexikanern ein Freihandelsabkommen vor – was die Schmuggler diebisch freute. Dann reihten US-Soldaten drei Meter hohe Metallplatten aneinander. Amerika stellte Tausende neuer Grenzer ein, installierte Kameras, Flutlichter, Mikrofone und Bewegungsmelder. Hubschrauber kreisen darüber. Tijuana derweil erträgt die Demütigung mit Gelassenheit. Die Stadt holt sich woanders Anerkennung. Bei Anthropologen wie Ernesto Garcia Canclini, der sie als eines der “größten Laboratorien der Postmoderne” bezeichnet oder bei Schriftstellern, die sie als Geschöpf der Gegensätze, voller Geschichten und Geheimnisse feiern.
Doch trotz der Aufmerksamkeiten seufzt Tijuana immer öfter in einem Anflug aus Selbstmitleid und Erkenntnis: So weit entfernt von Gott und so nah an den Vereinigten Staaten.