Gabriel Pavi hat wieder eine Morddrohung erhalten. „Fette Ratte“ und „dreifacher Hurensohn“ wird er in dem Schreiben genannt. „Dein Leben ist in unseren Händen!“ Unterzeichnet ist die Drohung von den Aguilas Negras – Schwarze Adler.
So nennt sich eine rechte paramilitärische Organisation, die in Kolumbien für ihre Brutalität berüchtigt ist. Rund 70 Menschen haben Gruppen wie die Aguilas Negras in diesem Jahr in Kolumbien schon umgebracht. Die Opfer: Menschenrechtler, Umweltaktivisten, Bauernführer. Menschen wie Gabriel Pavi.
Pavi heftet das Schreiben zu den anderen Morddrohungen, die dieses Jahr im Sitz der indigenen Selbstverwaltung im kolumbianischen Bergdorf Toribío eingetroffen sind. Zwei stammen von den Aguilas Negras, die vor der Besetzung von Zuckerrohrplantage warnen. Eine andere, per Hand verfasste Drohung kommt von Anhängern der linken Farc-Guerilla. Sie besagt, dass am Dorfplatz Explosivstoffe in die Luft fliegen könnten – warum wird nicht ganz klar. Ein weiteres Schreiben stammt von der „Sechsten Front“ der Farc-Guerilla selbst. Eine Kollegin von Pavi wird darin zum „militärischen Ziel“ erklärt, weil sie mit dem Staat kooperiere.
Zwei Drohungen von rechen Paramilitärs, zwei von linken Guerilleros. „Wir standen schon immer zwischen allen Fronten“, sagt Pavi. „Sogar jetzt noch, da der Frieden an die Tür klopft.“
Gabriel Pavi, ein kompakter Mann von 48 Jahren, trägt einen dürren Schnauzer und ein weißes Leinenhemd mit buntem Kragen. Er ist Koordinator der Guardia Indigena, der Indio-Wache von Toribío, einer Art Lokalpolizei – mit einer Besonderheit: Sie wurde von Indios des Nasa-Volks gegründet und ist einzig mit Holzstöcken ausgerüstet. Die traditionellen Stöcke sind weniger Waffen als vielmehr Symbole für den Anspruch der Nasa, Herren über ihr Land zu sein. „Wir wehrten uns gegen die Farc und das Militär gleichermaßen. „Wir wollten keine bewaffneten Gruppen in Toribío“, sagt Pavi. „Wir wollten den Krieg hier nicht!“
Vor Pavi auf dem Schreibtisch liegt solch ein Knüppel aus rötlich braunem Chonta-Hartholz. Er ist mit grünen und roten Bändern verziert. „Dank der Stöcke hat Toribío den Krieg überlebt“, sagt Pavi. „Sie gaben uns Legitimität und Autorität. Aber jetzt beginnt die Zeit danach. Die Zeit des Post-Konflikts.“ Es scheint, als ob sie schwieriger werden könnte als der Krieg selbst. Denn Frieden kann eine unübersichtliche Angelegenheit sein. Besonders in einem Land wie Kolumbien, in dem es nach einem halben Jahrhundert Bürgerkrieg keine Eindeutigkeiten, kein Gut und kein Böse mehr gibt.
Kolumbien befindet sich in einer Zwischen-Ära. Das Land steht vor einem historischen Friedensschluss zwischen dem Staat und der Farc-Guerilla. Zwar lehnte die kolumbianische Bevölkerung im Oktober einen ersten Friedensvertrag knapp und völlig überraschend per Plebiszit ab. Doch die Regierung unter Präsident Juan Manuel Santos und die Farc-Führung setzten sich schnell wieder zusammen, um einen neuen Kontrakt aufzusetzen. Diesmal unter Berücksichtigung einiger Forderungen der rechtspopulistischen Opposition: etwa, dass das Vermögen der Farc zur Entschädigung von Opfern herangezogen wird.
Farc und Regierung haben den neuen Vertrag unterzeichnet, und er wurde bereits vom Parlament in Bogotá ratifiziert. So wollte es Präsident Santos – gegen den Willen der Opposition, die auch die neue Vereinbarung ablehnt, die Abstimmung boykottierte und nun Verrat schreit. Sie will nicht, dass die Farc zehn Sitze (ohne Stimmrecht) im Parlament bekommt und ihre Anführer sich zur Wahl stellen dürfen. Dennoch deutet viel daraufhin, dass der Friedensschluss unumkehrbar ist.
Besonders glücklich wird man darüber in Toribío sein. Hier hatten 80 Prozent der Wähler bereits für die Annahme des ersten Vertrags gestimmt. „Für uns war der Sieg des ‘Nein’ ein Schock“, sagt Gabriel Pavi. „Viele weinten. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass Menschen gegen den Frieden stimmen. Wir dachten, jetzt geht alles wieder von vorne los.“
Im kolumbianischen Bürgerkrieg kamen rund 200000 Menschen ums Leben. Vier Millionen Menschen wurden vertrieben – kein Land der Welt hat mehr interne Flüchtlinge zu verzeichnen, ganze Ortschaften verschwanden.
Besonders die kolumbianischen Ureinwohner litten unter dem Konflikt, weil sie von allen Seiten als potentielle Feinde angesehen wurden. Der Staat und die Paramilitärs betrachteten sie wegen ihrer kollektiven Strukturen und ihrer Armut als potentielle Rekruten der marxistischen Farc-Guerilla und Bedrohung für die Großgrundbesitzer. Der Guerilla aber widersetzten sich die Indios, weil sie deren strenge Hierarchie und marxistische Doktrin ablehnten. Viele Dörfer wurden zwischen beiden Seiten regelrecht aufgerieben. Ihre Bewohner flüchteten in die Städte und leben dort bis heute in Armenvierteln.
Im Grunde war auch Toribío ein typischer Kandidat, um zu verschwinden. „Dies ist das meist geschundene Dorf Kolumbiens“, sagt Alcebíades Escué. „Um keinen Ort wurde mehr gekämpft.“ Escué, ein kleiner Mann mit lustigem rundlichen Gesicht, ist der Bürgermeister von Toribío. Er hat am Marktplatz gewartet, um einen Spaziergang zu machen. Toribío, erklärt er, liege an einer strategisch wichtigen Position zwischen den Anden und der Pazifikregion. Das Dorf auf knapp 2000 Metern sei ein Transitpunkt. Auch für den Drogenschmuggel.
Umgeben ist Toribío von mächtigen Bergen, die mit paradiesisch fruchtbaren Böden gesegnet sind: Bananen wachsen hier, Mangos, Maracujas, Kartoffeln und Tomaten. Das meiste wird von Kleinbauern angebaut, die sich selbst versorgen und denen nur wenig Geld übrig bleibt. Beim Durchwandern der Berge stößt man auch auf Coca-Felder und Cannabisplantagen, deren süßlicher Duft die Luft schwängert. Sogar Schlafmohn, der Grundstoff für Heroin, gedeiht in diesem Teil der Anden. Die Hänge schimmern in allen erdenklichen Grüntönen. Rund 34000 Menschen verteilen sich über die Region, fast alle sind Angehörige des Nasa-Volks. „Wir haben eine lange Geschichte von Widerstand und Krieg“, sagt Bürgermeister Escué. „Nicht einmal die Inkas konnten uns unterwerfen.“
Für die Farc-Guerilla war Toribío auch ein Symbol. Das Dorf liegt im Departement Cauca, einem ihrer Geburtsorte. Hier eroberte die Guerilla 1965 die erste Ortschaft und baute eine beachtliche Präsenz auf. In weiten Teilen der Anden war sie jahrzehntelang die einzige Ordnungsmacht. „Es war Ehrensache, einen Sohn oder eine Tochter bei den Farc zu haben“, sagt Escué. Man fürchtete nicht die Guerilla, sondern den Staat, der die Interessen der Großgrundbesitzer durchsetzte.
Lange Zeit stritten die Farc für die Kleinbauern und für eine gerechte Verteilung des Bodens. Aber irgendwann griffen sie zu Mitteln, die die Zwecke nicht mehr rechtfertigten: Entführungen Unschuldiger, Zwangsrekrutierung, Drogenhandel. Die Nasa-Indios wollten sich der Gewaltherrschaft nicht unterwerfen. „Die Farc sind autoritär. Sie haben keine Beziehung zur Mutter Natur“, sagt Escué. „Bei den Marxisten kommt alles vom Kopf, bei uns von Herzen.“ Der Klassenkampf der Guerilla prallte auf die jahrtausendealte Kosmologie der Ureinwohner.
Umso mehr, weil die Nasa eine Philosophie entwickelt haben, die sie „Lebensplan“ nennen. „Sie vereint Werte wie Gegenseitigkeit, Prinzipien wie Spiritualität und Träume wie intakte Familien, sagt Escué. „Für Kalaschnikows ist darin kein Platz“.
So wuchs rund um Toribío die Rivalität zwischen der Farc und den Nasa. Bis die Guerilla die indigene Verwaltung zum Feind erklärte. Die Nasa wiederum gründeten die Guardia Indigena, die Checkpoints errichtete und mit ihren traditionellen Chonta-Stöcken patrouillierte. Das Ziel war es, bewaffnete Gruppe fernzuhalten. Der Traum: eine Gemeinde ohne Krieg.
„Der Krieg war meist stärker“ sagt Bürgermeister Escué. Bei seinem Gang durchs Dorf zeigt er zuerst stolz auf die vielen Häuser, die renoviert werden, weil mit dem Waffenstillstand so etwas wie Zuversicht eingekehrt ist. Dann gelangt er zur Polizeikaserne von Toribío. Sie ist von Stellungen aus Sandsäcken umgeben, Fässer voller Steine blockieren die Zufahrt. Mit ihren fensterlosen Betonmauern gleicht sie einem Bunker. In der Fassade erzählen Hunderte Einschusslöcher von heftigen Kämpfen. Das Viertel um die Station herum besteht nur noch aus Mauerresten.
Jahrelang hatten die Farc es auf die Polizeistation abgesehen. „Sie schossen aus den Bergen. Fast jeden Tag schlugen Kugeln und Ganaten im Dorf ein“, erinnert sich Escué. „Nicht mal die Hunde trauten sich auf die Straße.“ Der heftigste Angriff kam 2011. Die Farc beluden einen Bus mit Sprengstoff und ließen ihn auf die Polizeistation zufahren. Die Ladung explodierte in einer Menschenmenge, es war Markttag, drei Menschen starben, mehr als Hundert wurden verletzt. Es war ein PR-Desaster für die Farc.
Dennoch gelang es der Guerilla rund ein Dutzendmal, Toribío in den letzten Jahren einzunehmen. Die Armee schlug jedes Mal zurück – ohne jede Rücksicht auf die Dorfbewohner. „Die Soldaten behandelten uns wie Feinde. Sie behaupteten, wir würden mit den Farc gemeinsame Sache machen“, sagt Escué. Er zeigt auf eine Bergspitze hoch über Toribío. Dort errichtete das Militär eine Basis, von der die Soldaten auf einfache Bauern schossen. Sie steckten sie in Farc-Uniformen und meldeten neue Erfolge im Kampf gegen die Guerilla. Damals mussten die Soldaten die „Abschussquoten“ erfüllen, die der ehemalige Präsident Àlvaro Uribe ausgegeben hatte. In Kolumbien nannte man die Opfer „falsos positivos“.
Mit Ex-Präsident Uribe, der das Friedensabkommen bis heute erbittert bekämpft, hat Escué seine eigenen Erfahrungen gemacht. Er behauptete einmal, Escué hätte den Farc Geld gegeben. „Es war wie ein Todesurteil für mich“, sagt der Bürgermeister. Dank der Lüge geriet Escué ins Visier rechter Paramilitärs, die von Großgrundbesitzern finanziert werden und Jagd auf jeden machen, den sie für einen Kommunisten halten und das Land ihrer Auftraggeber bedrohen könnte. Bis heute terrorisieren sie die Ebenen Caucas mit ihren ausgedehnten Zuckerrohrplantagen. „Wenn ich ins Tal fahre“, sagt Escué, „muss ich fürchten, von den Paras entführt zu werden.“ Er zückt drei Handys. Mit einem davon teilt er der Indio-Wache jede seiner Bewegungen mit.
Vor der Polizeistation von Toribío wacht ein junger Uniformierter hinter Sandsäcken. Er trägt eine nagelneue Montur: schusssichere Weste, Helm, israelisches Gewehr. Andrés, der seinen Nachnamen nicht nennen will, ist 21 Jahre alt und als Polizist in Toribío stationiert. „Wir halten uns zurück“, sagt er. Seine 80 Kameraden lassen sich im Ort so gut wie nie blicken, bleiben in ihrem Bunkerbau. Nur Vormittags stehen vier Polizisten unsicher vor der kleinen Bank. Als der Kommandant später einen Brief zur Post bringt, wird er von drei seiner Leute begleitet, die mit ihren Waffen im Anschlag durch den Ort schleichen, als ob sie Feindesland erkunden.
Jahrelang herrschten Spannungen zwischen den Bewohnern Toribíos und der Polizei. „Sie misshandelten Dorfbewohner, die sie für Farc-Leute hielten“, erzählt Escué. „Wir zerstörten ihre Sandsackstellungen.“ Die Vergangenheit ist in Toribío noch nicht vergangen. Aber wenigstens redet man wieder miteinander.
Der junge Polizist sagt, und Bürgermeister Escué steht daneben, dass zurzeit Warnstufe Orange herrsche. Nicht mehr rot, noch nicht grün. „Solange der Friedensvertrag nicht in Kraft ist, kann die Situation jederzeit eskalieren.“
So wie vor zwei Jahren, als ein Farc-Kämpfer zwei Indio-Wachen erschoss. Damals nahmen Hunderte Nasa mit ihren Chonta-Stöcken die Verfolgung auf. Sie stellten die Farc-Männer in den Bergen auf 3000 Metern und brachten sie vor ein Gericht. Der Vorfall belastete die Friedensverhandlungen zwischen der Guerilla und der Regierung schwer.
Um Mitternacht stellen sich die Männer und Frauen am Checkpoint Belén im Schein ihrer Taschenlampen zum Halbkreis auf. Wegen der Kälte verschränken sie die Arme vor dem Körper, ziehen die Schultern hoch, wickeln sich enger in ihre Ponchos ein. Der Stützpunkt befindet sich an einer staubigen Zufahrt nach Toribío, der Schlagbaum ist hochgeklappt.
In der Dunkelheit erstattet einer der Männer Lagebericht. Er sagt, dass an einer anderen Kontrollstelle Motorraddiebe gefasst worden seien. Außerdem hätten vier Vermummte ein Mitglied der Nasa-Verwaltung überfallen und sein Handy geraubt. Darauf: die Nummern sämtlicher Nasa-Führungskräfte. Es gelte erhöhte Wachsamkeit, man vermute Paramilitärs hinter der Aktion, die versuchten, sich in der Region breit zu machen.
Die rund zwölf Wachen fassen ihre Chonta-Stöcke fester – als mit einem Schlag auf den Hängen runderhum die Lichter angehen. Tausende LED-Lampen erhellen die über die Berge verteilten Cannabis-Felder. Sechs Stunden zuvor war das Licht in der gesamten Region abgeschaltet worden. So wie jeden Abend. Da viele Cannabisbauern den Strom illegal abzweigen, kappt ihnen das zuständige Energieunternehmen die Zufuhr – und bestraft die Nasa kollektiv mit Dunkelheit.
Der Cannabis-Anbau zu medizinischen Zwecken ist in Kolumbien zwar erlaubt. Aber das meiste Cannabis rund um Toribio ist für den Drogenkonsum bestimmt. Es kommen Zwischenhändler aus der Ebene, die ganze Ernten aufkaufen. Von der Indioverwaltung wird der Cannabis-Anbau nicht gern gesehen. Aber was solle man machen, sagen die Nasa-Wachen, wenn für ein Kilo Marihuana umgerechnet 15 Euro gezahlt werde, während das Kilo Bohnen eben nur zwei Euro bringe. Es sind die alten Widersprüche Kolumbiens, die alten Ungerechtigkeiten, die auch mit dem Friedensabkommen nicht verschwinden werden. Dass sie mit Waffen nicht lösbar sind, hat der kolumbianische Bürgerkrieg bewiesen.
Als der erste Friedensvertrag gescheitert war, startete Alcebíades Escué mit vierzig anderen Bürgermeistern in Kolumbien eine Initiative. Sie wollten ihr eigenes Friedensabkommen schließen, hatten die Nase voll von 50 Jahren Konflikt. „Wenn der Krieg wiederkommen sollte, hole ich den Plan aus der Schublade“, sagt Escúe. „Dann machen wir unseren eigenen Frieden.“