Misha Glenny, 58, ist englischer Autor, Journalist, Historiker. Er arbeitete als Korrespondent für die BBC und „The Guardian“. Heute schreibt er über das organisierte Verbrechen. Zu seinen auf Deutsch publizierten Büchern zählt „CyberCrime: Kriminalität und Krieg im digitalen Zeitalter“ (DVA, 2012). Zuletzt von ihm erschienen ist „Der König der Favelas: Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption“ (Tropen, 2016). Darin schildert Glenny die Karriere eines der berühmtesten Drogenbosse Rio de Janeiros. Dieses Jahr war Glenny zu Gast auf dem Internationalen Literaturfestival in Paraty (Flip), der wichtigsten Literaturveranstaltung Brasiliens. Dort fand das Gespräch statt.
Herr Glenny, wie sehen sie die Sicherheitslage in Rio de Janeiro kurz vor den Olympischen Spielen?
Zuerst die gute Nachricht: Die Zika-Gefahr wurde stark übertrieben. Im August gibt es in Rio fast keine Moskitos. Vor Zika muss sich niemand fürchten.
Und die schlechte Nachricht?
Brasilien erlebt eine monumentale politische und wirtschaftliche Krise, die auch den Bundesstaat Rio de Janeiro trifft. Rio ist pleite und hat den finanziellen Notstand verhängt. Sollte deswegen die Metrolinie in Richtung Olympiapark nicht fertig werden, wäre ein Verkehrsinfarkt die Folge. Zweitens hat man in Rio zwar Erfahrungen mit Großereignissen gesammelt, etwa der Fußball-WM. Aber die Olympischen Spiele sind anders: Sie dauern länger, sind über die Stadt verteilt, verlangen mehr Voraussicht. Die Brasilianer sind zwar Meister der Improvisation, aber wenn nur ein Dach in einer der schnell hochgezogenen Arenen einstürzt, wäre das eine Katastrophe.
Wie sieht es mit der Kriminalität aus? Sie hat dieses Jahr stark zugenommen. Die Zeitschrift „Veja“ hat an einem ganz normalen Juli-Wochenende 27 Morde, 20 Verletzte, 19 Schießereien und sieben Massenüberfalle dokumentiert.
Es ist eine Folge der Wirtschaftskrise. Mit der Arbeitslosigkeit und den fehlenden Perspektiven kommt die Kriminalität zurück. Außerdem beobachte ich mit Schrecken, wie die UPP kollabieren. Die UPP sind die Befriedungseinheiten der Polizei, die ab 2008 in die Favelas geschickt wurden, um die Macht der Drogengangs zu brechen. Sie sind total unterfinanziert, viele Polizisten erhalten keine vollständigen Löhne mehr. Aber schlimmer noch: Den UPP ist nie etwas gefolgt, was den Menschen eine Perspektive hätte geben können: Kindergärten, Schulen, Jobs, Gesundheitsversorgung, bessere hygienische Zustände. Ich habe mit José Beltrame gesprochen…
…dem Sicherheitschef von Rio…
…er ist sehr wütend. Er weiß, dass die Favelas ein soziales Problem sind, kein Sicherheitsproblem. Aber man hat die Polizei alleine gelassen. Jetzt testen die Drogengangs die Grenzen aus. Sie hatten sich ja nur taktisch zurückgezogen. Es gibt Schusswechsel mit der Polizei, fast jeden Tag sterben Unschuldige durch die Kugeln beider Seiten. Einige UPP-Einheiten haben sich auch als korrupt erwiesen, haben Favelabewohner erpresst, misshandelt und ermordet. So hat man den Menschen das letzte Vertrauen in den Stadt geraubt. Dieses Vakuum füllen die Gangs.
Was heißt all das praktisch für die Olympischen Spiele?
Unberechenbarkeit. Vor wenigen Wochen haben Drogengangster einen ihrer Bosse aus einem Krankenhaus im Zentrum Rios befreit. Am helllichten Tag. Alles scheint derzeit möglich. Allerdings wird der Staat so viele Polizisten und Soldaten auf die Straßen schicken, dass es rund um die Spiele ruhig bleiben wird. Die Drogengangs wiederum betrachten die Spiele als Geschäftsmöglichkeit. Sie wollen Drogen verkaufen. Es geht ihnen ums Business. Sie wissen, dass viele Touristen nach Rio kommen, um Party zu machen. Ihre besten Kunden kommen ja aus der Mittel- und Oberschicht.
Wenn es nur ums Geschäft geht, warum machen die Gangs dann überhaupt Ärger, provozieren Schießereien, zünden Busse an?
Es gibt immer einen rationalen Grund dahinter. Sie wollen von einer Drogenlieferung ablenken oder die Verlegung eines inhaftierten Chefs verhindern, Territorien markieren. Was von Außen wie Chaos wirkt, ist Strategie.
Manchmal scheint es, als ob es in Rio eine Kultur der Gewalt gäbe?
Ich glaube sehr stark, dass die sozio-ökonomischen Umstände entscheidend sind. Vor allem die soziale Ungleichheit. Und natürlich der sinnlose Krieg gegen die Drogen. Ein Beispiel: 1982 war die Mordrate von New York genau so hoch wie die von Rio. Sieben Jahre später war Rios Mordrate um das Dreifache angestiegen. Die Erklärung: Das Kokain hatte Rios Favelas überschwemmt, weil Brasilien zum Transitland für den Stoff auf dem Weg nach Europa geworden war. Mit dem Geld kauften die Drogengangs Waffen, um sich gegen die korrupte Polizei zu wehren.
Wie viele Drogenkommandos gibt es in Rio?
Das älteste ist das „Rote Kommando“ (CV). Es konkurriert mit „Reines Drittes Kommando“ (TCP) und „Freunde der Freunde“ (ADA). Jede Gang beherrscht unterschiedliche Favelas, die meist auf Hügeln liegen. Um diese Hügel führen sie Krieg. In São Paulo ist das ganz anders. Dort hat sich mit „Erstes Kommando der Hauptstadt“ (PCC) eine mächtige Mafiagruppe durchgesetzt, die heute in ganz Brasilien agiert und den Kokainhandel nach Europa beherrscht. Aber in Rio wird weiterhin sehr kleinteilig um Territorien gekämpft. Jede Drogengang betrachtet sich als Herrscher ihrer jeweiligen Hügel. Sie ersetzen dort praktisch den Staat, das macht sie so stark. Als weitere Fraktion gibt es in Rio die Milizen aus ehemaligen Polizisten, Soldaten und Feuerwehrleuten, die sich auf Schutzgelderpressung spezialisiert haben. Sie beherrschen die Peripherie.
Und die Militärpolizei Rios? Sie hat allein letztes Jahr 645 Menschen getötet.
Die Militärpolizei ist neben Drogengangs und Milizen die dritte kriminelle Fraktion in Rio. Ich beobachte, dass die Beamten in der Krise korrupter, erpresserischer und gewalttätiger werden. Sie wollen ihre niedrigen Löhne aufbessern. Darunter leiden besonders die Menschen in den Favelas, die so gut wie keinen Schutz haben. Die Morde durch Polizisten haben zugenommen. Die Opfer sind fast immer junge Schwarze. Es sind viel mehr als in den USA. Die Gesellschaft akzeptiert das.
Wie geht es nach den Spielen weiter?
Das kann niemand sagen. Ich halte es für möglich, dass Rio wieder in Gewalt versinkt wie in den Neunzigerjahren. José Beltrame, der Sicherheitsminister, wird wohl seinen Job hinschmeißen, weil er frustriert und erschöpft ist. Das wäre schlimm. Er ist der kompetenteste Politiker, der dieses Amt je inne hatte. Wenn ich mir das Niveau der restlichen Politiker in Rio und Brasília anschaue, verzweifle ich.
Favelas werden oft als Orte von Elend und Schrecken beschrieben. Gleichzeitig bieten Reiseanbieter „Favela-Touren“ an, machen eine Art Armensafari. Sie haben mehrere Monate in Rocinha gelebt, eine der größten Favelas Brasiliens. Was ist eine Favela?
Favelas sind Armenviertel, die als Reservoirs für billige Arbeitskräfte dienen. Sie beliefern den Servicesektor und die Fertigungsindustrie. Die Oberschicht bezieht ihre Hausangestellten von dort. Gleichzeitig herrscht in den Favelas selbst eine enorme ökonomische Aktivität. Die größeren gleichen Kleinstädten, es gibt Restaurants, Bankfilialen, Supermärkte, Geschäfte aller Art. Ein weiteres Charakteristikum ist die Abwesenheit des Staats.
Warum ignoriert der Staat die Favelas?
Es ist das Erbe des portugiesischen Kolonialismus. Die brasilianische Elite wollte nie begreifen, dass der Staat Verantwortung für alle Bürger hat. Die Sklaverei wurde in Brasilien erst 1888 abgeschafft. Aber die Mentalität und der Rassismus der Sklavenhaltergesellschaft existieren bis heute. Favelabewohner haben praktisch nicht die gleichen Rechte wie andere. Ein Beispiel: In den Siebzigerjahren lebten 30.000 Menschen in Rocinha, aber die Stadt hatte nur zwei Wasseranschlüsse gelegt. Sicherheitsminister Beltrame hat mir gesagt, dass die Befriedungspolizei auch der Versuch gewesen sei, diese Versäumnisse wieder gut zu machen. Er wollte die Favelas in die Stadt integrieren. Aber die restlichen Politiker hatten Interesse daran.
In ihrem Buch „Nemesis“ haben Sie die Geschichte des berühmten Drogenbosses Antônio Francisco Bonfim, alias Nem, aufgeschrieben. Er gehörte zu ADA und war Statthalter in der Favela Rocinha. Sie scheinen Sympathie für ihn zu empfinden.
Ich habe lange mit ihm geredet – er sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis –, aber auch mit Favelbewohnern, Staatsanwälten, Polizisten. Alle waren sich einig: Nem versuchte, Gewalt zu vermeiden. Die Säulen seiner Macht waren Geld und die Bestechung der Polizei. Er war ein Geschäftsmann, der Wert darauf legte, dass die Bücher stimmten. Für viele in Rocinha ist er ein Held, weil er für Ruhe und Stabilität sorgte. Die Menschen sagen: ‘Ja, er hat Falsches gemacht, aber die Wirtschaft brummte.’ Heute ist die Angst nach Rocinha zurückgekehrt. Die neue Generation der Drogenbosse ist gewalttätiger. Nem war eine Art aufgeklärter Diktator.
Sehen Sie einen Weg, um die Macht der Drogenmafia zu brechen?
Die einzige Lösung ist die staatliche Regulierung des Drogenhandels. Es wird immer Menschen geben, die Drogen nehmen. Anstatt das zu akzeptieren, führt die Politik seit 40 Jahren einen teuren und sinnlosen „Krieg gegen die Drogen“. Er ist ein einziges Desaster. Allein in Brasilien sterben heute jährlich 55.000 Menschen. Die Hälfte davon als Folge des Drogenkriegs. Dazu kommen all die Toten in Mexiko, Zentralamerika, Kolumbien. Der „Krieg gegen die Drogen“ hat Staaten destabilisiert und bindet enorme Ressourcen. Wie sieht die Alternative aus? In einigen US-Bundesstaaten hat man Marihuana legalisiert und die Zivilisation ist nicht untergegangen. Im Gegenteil: Der Staat nimmt doppelt so hohe Steuern ein, wie aus dem Verkauf von Alkohol.
Das größere Problem ist doch das Kokain.
Jetzt atmen wir einmal tief durch und fragen uns, was besser wäre: dass mein Sohn, mein Bruder oder mein Freund Kokain schnupft, das in Dschungellabors hergestellt und mit Glas und Rattengift gestreckt wurde. Oder dass er welches nähme, das der Staat zertifiziert hat? Seien wir realistisch. Entweder man überlässt der Mafia das Geschäft oder man entreißt es ihr. Es wäre ein Politikwechsel mit so vielen positiven Effekten für die ganze Welt. Es würde viel Geld frei, um die wirklichen Bedrohungen unserer Gesellschaften zu bekämpfen.