Als die Forscher ihre Rangliste veröffentlichten, da war Helmut Rieche richtig sauer. Auch wenn man sich das nur schwer vorstellen kann.
Der 63-Jährige züchtet Orchideen und spricht leise und gemächlich im Singsang Sachsen-Anhalts, der leicht ins Sächsische spielt. Doch dass seine Stadt, sein Bernburg an der Saale, dessen Bürgermeister er schon seit 16 Jahren ist, dass dieses Bernburg also der schlechteste Ort Deutschlands sein sollte, das hat ihn um den Schlaf gebracht.
Eingerahmt von hochgewachsenen Topfpflanzen steht er an seinem massiven Schreibtisch im wuchtigen hundertjährigen Rathaus aus grauem Stein. Das Parkett knarrt, vor den Fenstern rankt der Wein. “Wie kann man uns nur mit München oder Heidelberg vergleichen?”, fragt er fassungslos. “Diese Rangliste ist wissenschaftlicher Unfug!”.
Was ist geschehen, dass Helmut Rieche so aus der Fassung gerät? Forscher des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung haben alle 439 deutschen Kreise und kreisfreien Städte miteinander verglichen. Die Studie soll eine Entscheidungshilfe für die Kommunen einer “schrumpfenden Republik” sein. Dann haben sie Noten von 1 bis 6 vergeben und eine Liste erstellt. Ganz unten, auf Platz 439, landete der Kreis Bernburg samt seiner gleichnamigen Kreisstadt. Endnote: 4,77. Mit anderen Worten: nicht fit für die Zukunft. Helmut Rieche geht zum Fenster und schaut hinaus auf den Platz vor dem Rathaus mit dem fast zweihundertjährigen Theater. Er sagt: “Wir fühlen uns nicht so.”
Laut Wissenschaft stirbt Bernburg. Aber es stirbt schön. Wie ein Postkartenpanorama erhebt sich die Stadt über die dunkle Saale. Mit ihren Fachwerkhäusern an steilen Gassen erinnert sie an die Studentenstädte Tübingen und Marburg. In Erwartung blühender Landschaften hat man nach der Wende die Altbauten saniert und sich eine Tiefgarage gegönnt. Hat eine Fußgängerzone mit Buchläden, Cafés und Bäckereien eingerichtet und den Tierpark mit den Kamelen am Leben erhalten. Das Renaissanceschloss, in dem Till Eulenspiegel Turmwächter gewesen sein soll, wird renoviert. Hellgrau thront es auf einem Kreidefelsen und leuchtet in das von Windrädern übersäte Land hinein. Mittendurch rauscht die A14. Nach Magdeburg und Halle sind es je 25 Minuten.
Aber die Berliner Demografen haben sich nicht für diese sogenannten weichen Standortfaktoren interessiert, sondern für Zahlen. 22 Indikatoren haben sie verglichen: darunter die Geburtenrate, die Arbeitslosenquote, die Zahl der jungen Leute, die abwandern, und die der erfolgreichen Schulabgänger. Den Orten ganz vorne im Notenspiegel – unter den ersten 20 befinden sich 19 in Bayern und Baden-Württemberg – gehöre die Zukunft, schlussfolgerten sie. Die ganz hinten aber würden sich “kaum am Leben erhalten lassen”. Zehn der letzten 20 liegen in Sachsen-Anhalt, weshalb es die Forscher “Land der Leere” tauften. Sie empfehlen, der Mensch solle sich aus den schwachen Regionen “zurückziehen” und sie der Natur zurückgeben. “Entleerung zulassen”, lautet das Verdikt.
Nicht auszudenken, was wäre, wenn die Bernburger der Empfehlung folgten. Rieche und sein Rathaus-Team ergreifen die Gelegenheit, die sie in dem Besucher aus Berlin sehen. Ein Referent stellt ein Programm zusammen, als ob man nach Nordkorea reisen würde. Unbedingt zu treffen sei: Joachim Coors, der Pionier, der Macher, der Überflieger. Er stammt aus Minden in Westfalen. Und er sagt: “Ich will nicht mehr von hier weg.” Coors, der Wessi, ist zum Vorzeigebernburger geworden.
1990, gleich nach der Wende, machte er rüber. “Trostlos sah es damals aus, die Stadt verfiel.” Aber wo alles am Boden liegt, sagte er sich, da kann es ja nur aufwärts gehen. Der Versicherungsmakler witterte das große Geschäft. Heute ist er einer der bekanntesten Bernburger, sogar im kleinen Bioladen weiß man, wo sein Büro ist.
Dort sitzt Coors an seinem Schreibtisch, lehnt sich im Sessel zurück, aus dem Nebenzimmer hört man seine beiden Sekretärinnen lachen. Als nach der Wende im Osten die KfZ-Versicherung von staatlich auf privat umgestellt wurde, war Coors zur Stelle und vermittelte massenhaft Policen. Dann kaufte er Häuser, sanierte und vermietete sie. “Man erzielt hier eine Rentabilität, von der man im Westen nur träumt.” Ein Dauerlächeln steht dem 50-Jährigen im glatt rasierten Gesicht.
Für die Sanierung eines Hauses aus der Gründerzeit hat Coors einen Preis von der Stadt erhalten. Er wohnt selbst darin, ganz oben: Penthouse mit Garten und Dachterrasse. Nur leider muss er die Aussicht alleine genießen. Eine Freundin ist in Bernburg schwer zu finden. Auf 100 Männer zwischen 18 und 29 Jahren kommen nur noch 80 Frauen. Besonders die jungen unter ihnen zieht es fort. Sie gehen dorthin, wo es Bildung und Arbeit gibt. Das ist einer der Punkte, der den Demografen zufolge gegen Bernburg spricht. Und daran kann auch Helmut Rieche nichts ändern.
Der Bürgermeister steht hilflos vor einer Entwicklung, an der er keine Schuld hat: Sachsen-Anhalt leert sich. Schon zu DDR-Zeiten wollten die Menschen wegen der Umweltzerstörung aus dem Schwerindustriestandort weg. Als dann in den 90er Jahren die Arbeitsplätze wegbrachen, gab es kein Halten mehr.
In Bernburg leben heute 31579 Menschen: 8321 weniger als 1990 und 15000 weniger als 1965. 16 Kindergärten und drei Grundschulen sind geschlossen worden. 2500 Wohnungen stehen verlassen, die Plattenbauten am Stadtrand werden abgerissen. Bedarf gibt es in Bernburg lediglich bei Wohnanlangen für Senioren: Die größte Altersgruppe bilden die Über-75-Jährigen.
Auf den Straßen fällt einen die Einsamkeit geradezu an. Morgens um zehn sind die Gehwege genauso verlassen wie mittags um zwei und abends um sechs. Sollte die Entwicklung sich nicht umkehren, dann ist Bernburg in 50 Jahren ein “Raum ohne Volk”, wie das Berlin-Institut schreibt. Tatsächlich haben sich ein paar Landkreise weiter schon die ersten Luchse niedergelassen.
Einen anderen Eindruck vermittelt das dicke Vereinsverzeichnis der Stadt, das den Karnevals- und den Ruderclub aufzählt, die Chorjugend, den Reitverein, die Umweltinitiative Pro Saale und die Bundesvereinigung Kabarett. Oder die Feste: Weinfest, Rosenfest, Schlossbergfest. Und es gibt eine kleine Uni mit 3000 Studenten: die Hochschule Anhalt. Derentwegen hat es sogar eine New Yorkerin nach Bernburg verschlagen.
Jeanne Colgan zog 1996 her, als ihr Mann Erich Buhmann einen Job als Professor an der Hochschule bekam. Für sie war es ein Umzug ins Land der alten Feinde. Sie hatte noch Bilder von USA-hassenden Kommunisten im Kopf. “Ich bekam aus Furcht eine Mandelentzündung”, sagt sie und schüttelt den dunklen Lockenkopf vor Lachen. Das Ehepaar hatte zwei Söhne, ein Mädchen war unterwegs. Sie kauften ein altes Haus am Stadtpark.
Bis heute ist die 49-jährige Colgan die einzige Amerikanerin im Ort. Sie gibt Englischunterricht und ist seit sechs Jahren ehrenamtliche Ausländerbeauftragte, zuständig für die 896 Ausländer, die in Bernburg leben und laut Berlin-Institut bestens integriert sind. Dafür erhielt die Stadt die Note 1.
Aber damals ertrug Colgan es nicht, wie die 300 Asylbewerber in Baracken am Stadtrand leben mussten. Als einige mit Drogen erwischt wurden, nannte der CDU-Vorsitzende das Heim “Bazillenmutterschiff”. Und dann waren da die Studenten ihres Mannes. Er leitet einen englischsprachigen Studiengang in Landschaftsarchitektur. 82 Prozent der Studenten kommen aus dem Ausland, die meisten aus China. Aber die Ausländerbehörde schikanierte die Studenten, statt den Papierkram zu erleichtern.
“Sie haben dazugelernt”, sagt Colgan. Die Rechten seien in Bernburg ohnehin relativ schwach. Zwar hat die NPD einen Stützpunkt in Bernburg, und im ehemaligen Rathaus hat der Laden Nordic Flame für “Street & Fightwear” Quartier bezogen. Aber bei der letzten Landtagswahl bekam die DVU nicht mal drei Prozent.
Bei den Colgans und Buhmanns gibt es am Abend Spaghetti mit Pesto. Die Söhne Noah und Fritz, 15 und 17 Jahre alt, und die neunjährige Virginia sitzen um den Tisch. Noah sagt: “Can I have some cheese, please?” Zu Hause wird Englisch gesprochen. “Wir sind eine lustige Truppe”, sagt Colgan, “ein Professor, eine Amerikanerin und drei zweisprachige Kinder.” Sie macht eine Pause. “So was gibt es in Bernburg sonst nicht.”
Bernburg ist für die Forscher das Letzte, doch es gibt hier Menschen, die bleiben, Kinder kriegen und investieren. Auf Kuhfladen wachsen schließlich auch Blumen. Beim Berlin-Institut reagiert man skeptisch auf den Blumenfund. “Sie bekommen einen Preis, wenn Sie solche Leute finden”, hatte Direktor Reiner Klingholz versprochen. Jetzt warnt ein Mitarbeiter: “Lassen Sie sich nicht blenden. Die ostdeutschen Städte sehen schön aus, weil der Westen Milliarden hineingesteckt hat.”
Doch Bernburg hat sich nicht nur aufgehübscht, es ist auch umgeben von Wäldern, Auen und alten Bauerndörfern. Joachim Coors kennt sie alle von oben. Er besitzt zwei Heißluftballons, verkauft Rundfahrten über der Region. “Wenn wir landen, haben die Menschen leuchtende Augen”, sagt er. Aber das ist nichts, was lange anhält, nichts, das am Dilemma der Region etwas ändert. In seinem Büro erlebt Coors die Bernburger nämlich ganz anders. “Die Menschen reklamieren”, sagt er, “sind gereizt wegen der Arbeitslosigkeit. Aber wer eine gute Ausbildung hat, kriegt einen Job bei Fänger.”
Coors meint Helge Fänger, den größten Steuerzahler Bernburgs. In der DDR war er Betriebsdirektor des VEB Serumwerk, heute ist er der Vorstandschef der Serumwerk AG, einem Pharmaunternehmen am Stadtrand. In der DDR kannte jedes Kind ein Produkt aus Bernburg: Pulmotin, die DDR-Allzweckwaffe gegen Erkältungen. Es ist Fänger zu verdanken, dass es immer noch auf dem Markt ist.
Fänger hat das Serumwerk nach der Wende höchstpersönlich vor der Treuhand gerettet, die es abwickeln wollte. Er kaufte das Unternehmen, steckte 60 Millionen Euro in neue Maschinen und stellte auf Nischenprodukte um: Aus Bernburg werden heute Infusionslösungen und Tierarzneien nach Südamerika und Asien verkauft. Das Werk kommt der Nachfrage kaum hinterher. “Die Kapazitäten sind erschöpft”, stöhnt Fänger.
Der 59-Jährige hat volles silbernes Haar, ist braungebrannt und sportlich gebaut. Alle 15 Minuten bietet er “Käffchen?” an. Er trinke selbst mehrere Kannen am Tag, “ich brauche das”. Die Lokalreporter der “Mitteldeutschen Zeitung” nennen ihn einen ehemaligen “SED-Parteisoldaten”. Fänger redet nicht mehr mit ihnen, seit sie vor zwei Jahren über eine Fahrerflucht berichteten, die er begangen hatte. Damals war er noch Arbeitgeberpräsident von Sachsen-Anhalt.
Dem Serumwerk geht es also blendend. Doch Bernburg kämpft mit einer Arbeitslosenquote von 16 Prozent, nur 6000 Bernburger haben überhaupt einen sozialversicherungspflichtigen Job. Im Serumwerk arbeiten heute 250 Menschen, aber zu DDR-Zeiten waren es fast 700.
Daher buhlt Helmut Rieche um Investoren. “Freie Flächen haben wir genügend”, sagt er. Gewerbliches Bauland kostet in Bernburg im Schnitt 25 Euro pro Quadratmeter (in Frankfurt am Main sind es 814 Euro). Und der Bürgermeister persönlich garantiert jedem neuen Kind einen Kita-Platz.
Das Problem für neue Firmen dürfte jedoch ein anderes sein. “Diese Bewerber!”, seufzt Helge Fänger. Das Serumwerk bildet 20 Azubis aus. “Drei von fünf Bewerbern sind Analphabeten.” Das ist zwar kein spezifisches Problem Bernburgs, doch hier schafft jeder fünfte Schüler nicht mal die Hauptschule. Nirgends in der Republik sind es mehr. Bürgermeister Rieche spricht lieber von anderen Zahlen. “Bernburg hat 1000 Jahre deutsche Geschichte mitgeschrieben”, sagt er. Was ist da eine Studie aus Berlin?